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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene Werk Immanuel Kants.

und von Glas Völlig spiegelglatt werden, weil sich die "berste Fläche in ihrem
Aggregatzustande ändert und dein flüssigen ähnlich wird. Buche sie ebenso hart
und starr wie die innern Schichten, so würde ein solches Reiben mit dem
Pulver nur zur Entstehung unzähliger kleiner Schrammen führen. Diese werden
aber durch die weicher gewordene oberste Schicht der Masse glatt ausgefüllt.
Daher erklärt es sich denn auch, daß die spiegelglatte wieder verloren gehen
kann durch Berührung mit Körpern, die weniger hart sind als Metall oder
Glas. Und schließlich erklärt sich so der Substanzverlust, den jede Reibung mit
sich bringt und der es unmöglich macht, ein xörxswuin iliMls zu konstruiren.

Die Relation, d. i. die Beziehung der einzelnen Teile der Materie ans
einander, führt nus auf die Betrachtung der Kohäsion, derjenigen Kraft, die
den Zusammenhang der Körper bewirkt und aufrecht hält. Kant weist nach,
daß diese Kraft ebenso wie die Wärme auf einer dauernden Erschütterung der
kleinste" Teile beruhen muß, aber die Bewegung, welche die Kohäsion hervor¬
bringt, muß eine Form haben, die der Wärmebewegung entgegengesetzt ist.
Kohäsion ist daher das reale Gegenteil der Wärme. Sie führt zur Erstarrung
aus dem flüssigen Zustande,, wenn die Wärme verringert wird. So werden
die beiden Grundkräfte Anziehung und Abstoßung, die die Materie haben muß,
um ein Gegenstand der Erfahrung zu sein, charakterisirt als lebendige Kräfte,
durchdringende Erschütterung der kleinsten Teile, in entgegengesetzten Formen
der Bewegung. Wenn bei der Erschütterung der kleinsten Teile die Bewegung
in der Richtung nach außen überwiegt, so ist die Folge Erwärmung der Masse,
Ausdehnung und Lockerung des Zusammenhanges, d. h. Übergang des Aggregat¬
zustandes vom festen in den flüssigen und schließlich gasförmigen Zustand.
Überwiegt dagegen die koukussorische Bewegung in der entgegengesetzten Form,
so vermindert sich die Wärme, und die kleinsten Teile der Masse fügen sich zu
festen Körpern zusammen, die der Verschiebung Widerstand leisten. Der Ge¬
danke ist folgerichtig durchgeführt, daß Kohäsion und Wärme die beiden ur¬
sprünglichen Grundkräfte der Materie sind, welche Abstoßung und Anziehung
bewirken, und die nach mathematischen Gesetzen in ihrer Wechselwirkung alle
Erscheinungen der Physik hervorbringen. Man beachte wohl, wie diese Lehre
Kants vollkommen übereinstimmt mit den tiefsinnigen neuern Forschungen eines
I. N. Mayer über das mechanische Äquivalent der Wärme.

Bei der Untersuchung der Modalität der Materie und ihrer Kräfte führen
dieselben Prinzipien, die Kant durch sein ganzes Werk aufrecht erhalten hat,
sehr klar und bestimmt zu dem Ausspruch, daß das, was man jetzt das Gesetz
der Erhaltung der Kraft nennt, welches unsre Empiristen neu entdeckt und bis
zu einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit bewiesen zu haben sich rühmen,
eine notwendige Bedingung für alle Erfahrung der materiellen Kräfte sei. Wäre
die Materie ein bloßer Gedanke, sowie man sich das "Ding an sich" vorzustellen
liebt, nach dem in der Erfahrung niemals gefragt wird, so könnte man sich


Das nachgelassene Werk Immanuel Kants.

und von Glas Völlig spiegelglatt werden, weil sich die »berste Fläche in ihrem
Aggregatzustande ändert und dein flüssigen ähnlich wird. Buche sie ebenso hart
und starr wie die innern Schichten, so würde ein solches Reiben mit dem
Pulver nur zur Entstehung unzähliger kleiner Schrammen führen. Diese werden
aber durch die weicher gewordene oberste Schicht der Masse glatt ausgefüllt.
Daher erklärt es sich denn auch, daß die spiegelglatte wieder verloren gehen
kann durch Berührung mit Körpern, die weniger hart sind als Metall oder
Glas. Und schließlich erklärt sich so der Substanzverlust, den jede Reibung mit
sich bringt und der es unmöglich macht, ein xörxswuin iliMls zu konstruiren.

Die Relation, d. i. die Beziehung der einzelnen Teile der Materie ans
einander, führt nus auf die Betrachtung der Kohäsion, derjenigen Kraft, die
den Zusammenhang der Körper bewirkt und aufrecht hält. Kant weist nach,
daß diese Kraft ebenso wie die Wärme auf einer dauernden Erschütterung der
kleinste» Teile beruhen muß, aber die Bewegung, welche die Kohäsion hervor¬
bringt, muß eine Form haben, die der Wärmebewegung entgegengesetzt ist.
Kohäsion ist daher das reale Gegenteil der Wärme. Sie führt zur Erstarrung
aus dem flüssigen Zustande,, wenn die Wärme verringert wird. So werden
die beiden Grundkräfte Anziehung und Abstoßung, die die Materie haben muß,
um ein Gegenstand der Erfahrung zu sein, charakterisirt als lebendige Kräfte,
durchdringende Erschütterung der kleinsten Teile, in entgegengesetzten Formen
der Bewegung. Wenn bei der Erschütterung der kleinsten Teile die Bewegung
in der Richtung nach außen überwiegt, so ist die Folge Erwärmung der Masse,
Ausdehnung und Lockerung des Zusammenhanges, d. h. Übergang des Aggregat¬
zustandes vom festen in den flüssigen und schließlich gasförmigen Zustand.
Überwiegt dagegen die koukussorische Bewegung in der entgegengesetzten Form,
so vermindert sich die Wärme, und die kleinsten Teile der Masse fügen sich zu
festen Körpern zusammen, die der Verschiebung Widerstand leisten. Der Ge¬
danke ist folgerichtig durchgeführt, daß Kohäsion und Wärme die beiden ur¬
sprünglichen Grundkräfte der Materie sind, welche Abstoßung und Anziehung
bewirken, und die nach mathematischen Gesetzen in ihrer Wechselwirkung alle
Erscheinungen der Physik hervorbringen. Man beachte wohl, wie diese Lehre
Kants vollkommen übereinstimmt mit den tiefsinnigen neuern Forschungen eines
I. N. Mayer über das mechanische Äquivalent der Wärme.

Bei der Untersuchung der Modalität der Materie und ihrer Kräfte führen
dieselben Prinzipien, die Kant durch sein ganzes Werk aufrecht erhalten hat,
sehr klar und bestimmt zu dem Ausspruch, daß das, was man jetzt das Gesetz
der Erhaltung der Kraft nennt, welches unsre Empiristen neu entdeckt und bis
zu einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit bewiesen zu haben sich rühmen,
eine notwendige Bedingung für alle Erfahrung der materiellen Kräfte sei. Wäre
die Materie ein bloßer Gedanke, sowie man sich das „Ding an sich" vorzustellen
liebt, nach dem in der Erfahrung niemals gefragt wird, so könnte man sich


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[0315] Das nachgelassene Werk Immanuel Kants. und von Glas Völlig spiegelglatt werden, weil sich die »berste Fläche in ihrem Aggregatzustande ändert und dein flüssigen ähnlich wird. Buche sie ebenso hart und starr wie die innern Schichten, so würde ein solches Reiben mit dem Pulver nur zur Entstehung unzähliger kleiner Schrammen führen. Diese werden aber durch die weicher gewordene oberste Schicht der Masse glatt ausgefüllt. Daher erklärt es sich denn auch, daß die spiegelglatte wieder verloren gehen kann durch Berührung mit Körpern, die weniger hart sind als Metall oder Glas. Und schließlich erklärt sich so der Substanzverlust, den jede Reibung mit sich bringt und der es unmöglich macht, ein xörxswuin iliMls zu konstruiren. Die Relation, d. i. die Beziehung der einzelnen Teile der Materie ans einander, führt nus auf die Betrachtung der Kohäsion, derjenigen Kraft, die den Zusammenhang der Körper bewirkt und aufrecht hält. Kant weist nach, daß diese Kraft ebenso wie die Wärme auf einer dauernden Erschütterung der kleinste» Teile beruhen muß, aber die Bewegung, welche die Kohäsion hervor¬ bringt, muß eine Form haben, die der Wärmebewegung entgegengesetzt ist. Kohäsion ist daher das reale Gegenteil der Wärme. Sie führt zur Erstarrung aus dem flüssigen Zustande,, wenn die Wärme verringert wird. So werden die beiden Grundkräfte Anziehung und Abstoßung, die die Materie haben muß, um ein Gegenstand der Erfahrung zu sein, charakterisirt als lebendige Kräfte, durchdringende Erschütterung der kleinsten Teile, in entgegengesetzten Formen der Bewegung. Wenn bei der Erschütterung der kleinsten Teile die Bewegung in der Richtung nach außen überwiegt, so ist die Folge Erwärmung der Masse, Ausdehnung und Lockerung des Zusammenhanges, d. h. Übergang des Aggregat¬ zustandes vom festen in den flüssigen und schließlich gasförmigen Zustand. Überwiegt dagegen die koukussorische Bewegung in der entgegengesetzten Form, so vermindert sich die Wärme, und die kleinsten Teile der Masse fügen sich zu festen Körpern zusammen, die der Verschiebung Widerstand leisten. Der Ge¬ danke ist folgerichtig durchgeführt, daß Kohäsion und Wärme die beiden ur¬ sprünglichen Grundkräfte der Materie sind, welche Abstoßung und Anziehung bewirken, und die nach mathematischen Gesetzen in ihrer Wechselwirkung alle Erscheinungen der Physik hervorbringen. Man beachte wohl, wie diese Lehre Kants vollkommen übereinstimmt mit den tiefsinnigen neuern Forschungen eines I. N. Mayer über das mechanische Äquivalent der Wärme. Bei der Untersuchung der Modalität der Materie und ihrer Kräfte führen dieselben Prinzipien, die Kant durch sein ganzes Werk aufrecht erhalten hat, sehr klar und bestimmt zu dem Ausspruch, daß das, was man jetzt das Gesetz der Erhaltung der Kraft nennt, welches unsre Empiristen neu entdeckt und bis zu einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit bewiesen zu haben sich rühmen, eine notwendige Bedingung für alle Erfahrung der materiellen Kräfte sei. Wäre die Materie ein bloßer Gedanke, sowie man sich das „Ding an sich" vorzustellen liebt, nach dem in der Erfahrung niemals gefragt wird, so könnte man sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/315>, abgerufen am 24.08.2024.