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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene Werk Immanuel Armes,

überwiegen die anziehenden Kräfte über die abstoßenden und suchen die Substanz
auf einen möglichst kleinen Raum zu konzentriren, daher der Tropfen, sich selbst
überlassen, Kugelform annimmt. Im elastisch flüssigen (gasförmigen) überwiegen
die abstoßenden Kräfte, daher die Grenze nur von außen durch anstoßende
Körper bestimmt wird. Starre Materie ist, die sowohl äußerlich als innerlich
der Verschiebung ihrer Teile widersteht. Alles Feste hat ein Gefüge, Textur,
welche bewirkt, daß es beim Bruch sich in gewissen Richtungen trennt. Wir
deuten hier nur an, wie mannichfache Betrachtungen hier über das Wesen des
Steifen, Biegsamen, Spröden, Zerreibbaren, Streckbaren folgen. Sodann kommen
eingehende Untersuchungen über die Kapillaranziehung, die Krystallisation und
die Schmelzung, wobei zuweilen ganz überraschende Ergebnisse, selbst für den
heutigen Naturforscher, als reife Früchte nebenbei abfallen. Da die Wider¬
standskraft in einem starren Körper größer ist als in einem flüssigen, diese aber
auf Erschütterung der kleinsten Teile beruht, so muß bei der Berührung von
Starren und Flüssigem auch in letzterm die Widerstandskraft vermehrt werden,
d. h. die Erschütterungen der kleinsten Teile setzen sich vom starren Körper in
die Flüssigkeit fort. Da nun auch die Aliziehungskraft im Flüssigen nicht so
groß ist wie im Starren, so ist die Folge, daß bei der Berührung die Flüssig¬
keit weniger dicht, d. i. spezifisch leichter wird. Daher das Aufsteigen des
Wassers in engen Röhren, das man Kapillaranziehuug genannt hat. Kant
hätte für diese Theorie auch als Beispiel anführen können, daß am Rande der
Gewässer, wo starre Ufer oder Holzpfähle das Wasser berühren, dieses später
gefriert als in der Mitte, denn die Vermehrung der Widerstandskraft, d. i. der
Erschütterung der kleinsten Teile, ist identisch mit Vermehrung der Wärme.
Völlig überraschend ist das Beispiel, welches er wirklich anführt: nicht nur die
Thatsache des Aufsteigens der ernährenden Flüssigkeit in den Pflanzen wird
dadurch leichter begreiflich, daß sich in den Saftkanälen der Aggregatzustand
des Wassers verdünnt und dem Dampfe ähnlicher wird, sondern so erklärt
sich mich, wie es möglich ist, daß wachsende Wurzelfasern oder Baumzweige
Felsen und Mauern auseinander sprengen, wenn sie in deren Spalten ein¬
gedrungen sind. Ebenso die Thatsache, daß man durch aufquellende Erbsen die
Knochen eines Schädels auseinander sprengen kann. Wenn bei diesen Vor¬
gängen eine Ausdehnungskraft nachgewiesen wird, die ähnlich der Dampfkraft
wirken muß, so verliert die Erscheinung alles Rätselhafte, welches ihr anhaftete,
so lange man nur das Wort Kapillarität zur Erklärung hatte.

Wir können unmöglich alle Einzelheiten der überreichen Schrift hier wieder¬
geben. Nur das sei noch erwähnt, wie die Theorie des Polirens von Metallen
nach denselben Prinzipien erklärt wird. Durch Reibung zweier festen Körper
entsteht Vermehrung der Erschütterung der kleinsten Teile, also Wärme und
Verdünnung des Aggregatzustandes bis zum flüssigen. Daher kann durch Reiben
mit einem krystallinischen oder körnigen Pulver die Oberfläche von Metallen


Das nachgelassene Werk Immanuel Armes,

überwiegen die anziehenden Kräfte über die abstoßenden und suchen die Substanz
auf einen möglichst kleinen Raum zu konzentriren, daher der Tropfen, sich selbst
überlassen, Kugelform annimmt. Im elastisch flüssigen (gasförmigen) überwiegen
die abstoßenden Kräfte, daher die Grenze nur von außen durch anstoßende
Körper bestimmt wird. Starre Materie ist, die sowohl äußerlich als innerlich
der Verschiebung ihrer Teile widersteht. Alles Feste hat ein Gefüge, Textur,
welche bewirkt, daß es beim Bruch sich in gewissen Richtungen trennt. Wir
deuten hier nur an, wie mannichfache Betrachtungen hier über das Wesen des
Steifen, Biegsamen, Spröden, Zerreibbaren, Streckbaren folgen. Sodann kommen
eingehende Untersuchungen über die Kapillaranziehung, die Krystallisation und
die Schmelzung, wobei zuweilen ganz überraschende Ergebnisse, selbst für den
heutigen Naturforscher, als reife Früchte nebenbei abfallen. Da die Wider¬
standskraft in einem starren Körper größer ist als in einem flüssigen, diese aber
auf Erschütterung der kleinsten Teile beruht, so muß bei der Berührung von
Starren und Flüssigem auch in letzterm die Widerstandskraft vermehrt werden,
d. h. die Erschütterungen der kleinsten Teile setzen sich vom starren Körper in
die Flüssigkeit fort. Da nun auch die Aliziehungskraft im Flüssigen nicht so
groß ist wie im Starren, so ist die Folge, daß bei der Berührung die Flüssig¬
keit weniger dicht, d. i. spezifisch leichter wird. Daher das Aufsteigen des
Wassers in engen Röhren, das man Kapillaranziehuug genannt hat. Kant
hätte für diese Theorie auch als Beispiel anführen können, daß am Rande der
Gewässer, wo starre Ufer oder Holzpfähle das Wasser berühren, dieses später
gefriert als in der Mitte, denn die Vermehrung der Widerstandskraft, d. i. der
Erschütterung der kleinsten Teile, ist identisch mit Vermehrung der Wärme.
Völlig überraschend ist das Beispiel, welches er wirklich anführt: nicht nur die
Thatsache des Aufsteigens der ernährenden Flüssigkeit in den Pflanzen wird
dadurch leichter begreiflich, daß sich in den Saftkanälen der Aggregatzustand
des Wassers verdünnt und dem Dampfe ähnlicher wird, sondern so erklärt
sich mich, wie es möglich ist, daß wachsende Wurzelfasern oder Baumzweige
Felsen und Mauern auseinander sprengen, wenn sie in deren Spalten ein¬
gedrungen sind. Ebenso die Thatsache, daß man durch aufquellende Erbsen die
Knochen eines Schädels auseinander sprengen kann. Wenn bei diesen Vor¬
gängen eine Ausdehnungskraft nachgewiesen wird, die ähnlich der Dampfkraft
wirken muß, so verliert die Erscheinung alles Rätselhafte, welches ihr anhaftete,
so lange man nur das Wort Kapillarität zur Erklärung hatte.

Wir können unmöglich alle Einzelheiten der überreichen Schrift hier wieder¬
geben. Nur das sei noch erwähnt, wie die Theorie des Polirens von Metallen
nach denselben Prinzipien erklärt wird. Durch Reibung zweier festen Körper
entsteht Vermehrung der Erschütterung der kleinsten Teile, also Wärme und
Verdünnung des Aggregatzustandes bis zum flüssigen. Daher kann durch Reiben
mit einem krystallinischen oder körnigen Pulver die Oberfläche von Metallen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/314>, abgerufen am 24.08.2024.