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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene Werk Immanuel Aants,

auch ein Aufhören der Bewegung ihrer Teile denken. Da aber diese Bewegung
der Materie die Vorbedingung für alle Erfahrung ist, so kaun das Aufhören
derselben niemals erfahren werden. Die bewegenden Kräfte der Materie wirken
auf unsre Sinne und erwecken die reaktiven Kräfte unsers Bewußtseins, dnrch
die wir erst zur sinnlichen Wahrnehmung gelangen. Auf der sinnlichen Wahr¬
nehmung aber ruht alle Erfahrung, also würde das Aufhören der Wirkung
der materiellen Kräfte auf die Sinne das Aufhören jeder Erfahrung und des
Bewußtseins selbst bedeuten. So gewiß also wie wir selbst Bewußtsein
haben, ebenso gewiß dauert die bewegende Kraft der Materie unerschöpflich und
ewig fort.

Das Schlußwort in diesem wunderbaren Werke ist eine Warnung an die
Naturforscher und Philosophen: die Naturforscher sollen nicht glauben, aus em¬
pirischen Thatsachen eine Metaphysik schaffen zu können, und die Philosophen
sollen die Thatsachen der Erfahrung nicht a xriori, konstruiren, sondern nur in
einem System der Erkenntnis zusammenfassen. Beide sind durchaus auf einander
angewiesen.

Dies in Umrissen der Inhalt der von Kant hinterlassenen Handschrift, so
weit sie sich auf Naturerkenntnis bezieht und in der Bearbeitung Krauses
uus vorliegt. Man kann es anch jetzt noch nicht ein vollendet abgeschlossenes
Werk nennen, obwohl Krause das Verdienst gebührt, Ordnung und Zusammen¬
hang darin nachgewiesen zu haben. Es gleicht vielmehr einer reichen Fundgrube
tiefer Weisheit, künftige Arbeiten anregend und sie befruchtend. Aber bevor
das möglich wird, müssen die Naturforscher sich erst ein wenig in Kants Denk¬
weise hineingewöhnt haben, und dafür sind die Aussichten noch sehr gering.
Alle meine bisherigen Bemühungen in dieser Richtung scheinen infolge der
Gleichartigkeit gegen alle Philosophie so gut wie vergeblich gewesen zu sein.
Die fortgesetzte Teilnahmlosigkeit der gelehrten Welt wie der Behörden kann
die Sache nicht fördern, und namentlich nicht die Herausgabe des letzten Teiles
der Handschrift beschleunigen, worin Kant gleichsam der Weisheit letzten Schluß,
die Lehre von den Ideen Gott, Welt und Menschentum, niedergelegt hat. Und
doch wird die reiche Saat von Kants Gedankenarbeit erst dann völlig auf¬
gehen, wenn sein ganzes System bis zum letzten Schlußstein der Welt vor
Augen liegt. Noch weiß die Welt es meistens nicht, wie dies Ganze sich dar¬
stellt als eine wvhlgcschlosfene Kette vorgedachter Wirkung. Dieselben Prinzipien
beherrschen folgerichtig das ganze System. In der Erkenntnistheorie wurde
nicht, wie uns die Gelehrten glauben machen wollten, der Weg zum Erkennen
der Wirklichkeit verschlossen, sondern umgekehrt, der einzige Pfad nachgewiesen,
auf dem es dem Menschen möglich ist, die Wahrheit wirklicher Dinge außer



*) Vergl. meine Schrift: "Ueber den Einfluß Kants auf die Theorie der Sinneswahr-
nehmung und die Sicherheit ihrer Ergebnisse." Leipzig, Fr. Wilh. Grniww. 1886.
Das nachgelassene Werk Immanuel Aants,

auch ein Aufhören der Bewegung ihrer Teile denken. Da aber diese Bewegung
der Materie die Vorbedingung für alle Erfahrung ist, so kaun das Aufhören
derselben niemals erfahren werden. Die bewegenden Kräfte der Materie wirken
auf unsre Sinne und erwecken die reaktiven Kräfte unsers Bewußtseins, dnrch
die wir erst zur sinnlichen Wahrnehmung gelangen. Auf der sinnlichen Wahr¬
nehmung aber ruht alle Erfahrung, also würde das Aufhören der Wirkung
der materiellen Kräfte auf die Sinne das Aufhören jeder Erfahrung und des
Bewußtseins selbst bedeuten. So gewiß also wie wir selbst Bewußtsein
haben, ebenso gewiß dauert die bewegende Kraft der Materie unerschöpflich und
ewig fort.

Das Schlußwort in diesem wunderbaren Werke ist eine Warnung an die
Naturforscher und Philosophen: die Naturforscher sollen nicht glauben, aus em¬
pirischen Thatsachen eine Metaphysik schaffen zu können, und die Philosophen
sollen die Thatsachen der Erfahrung nicht a xriori, konstruiren, sondern nur in
einem System der Erkenntnis zusammenfassen. Beide sind durchaus auf einander
angewiesen.

Dies in Umrissen der Inhalt der von Kant hinterlassenen Handschrift, so
weit sie sich auf Naturerkenntnis bezieht und in der Bearbeitung Krauses
uus vorliegt. Man kann es anch jetzt noch nicht ein vollendet abgeschlossenes
Werk nennen, obwohl Krause das Verdienst gebührt, Ordnung und Zusammen¬
hang darin nachgewiesen zu haben. Es gleicht vielmehr einer reichen Fundgrube
tiefer Weisheit, künftige Arbeiten anregend und sie befruchtend. Aber bevor
das möglich wird, müssen die Naturforscher sich erst ein wenig in Kants Denk¬
weise hineingewöhnt haben, und dafür sind die Aussichten noch sehr gering.
Alle meine bisherigen Bemühungen in dieser Richtung scheinen infolge der
Gleichartigkeit gegen alle Philosophie so gut wie vergeblich gewesen zu sein.
Die fortgesetzte Teilnahmlosigkeit der gelehrten Welt wie der Behörden kann
die Sache nicht fördern, und namentlich nicht die Herausgabe des letzten Teiles
der Handschrift beschleunigen, worin Kant gleichsam der Weisheit letzten Schluß,
die Lehre von den Ideen Gott, Welt und Menschentum, niedergelegt hat. Und
doch wird die reiche Saat von Kants Gedankenarbeit erst dann völlig auf¬
gehen, wenn sein ganzes System bis zum letzten Schlußstein der Welt vor
Augen liegt. Noch weiß die Welt es meistens nicht, wie dies Ganze sich dar¬
stellt als eine wvhlgcschlosfene Kette vorgedachter Wirkung. Dieselben Prinzipien
beherrschen folgerichtig das ganze System. In der Erkenntnistheorie wurde
nicht, wie uns die Gelehrten glauben machen wollten, der Weg zum Erkennen
der Wirklichkeit verschlossen, sondern umgekehrt, der einzige Pfad nachgewiesen,
auf dem es dem Menschen möglich ist, die Wahrheit wirklicher Dinge außer



*) Vergl. meine Schrift: „Ueber den Einfluß Kants auf die Theorie der Sinneswahr-
nehmung und die Sicherheit ihrer Ergebnisse." Leipzig, Fr. Wilh. Grniww. 1886.
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[0316] Das nachgelassene Werk Immanuel Aants, auch ein Aufhören der Bewegung ihrer Teile denken. Da aber diese Bewegung der Materie die Vorbedingung für alle Erfahrung ist, so kaun das Aufhören derselben niemals erfahren werden. Die bewegenden Kräfte der Materie wirken auf unsre Sinne und erwecken die reaktiven Kräfte unsers Bewußtseins, dnrch die wir erst zur sinnlichen Wahrnehmung gelangen. Auf der sinnlichen Wahr¬ nehmung aber ruht alle Erfahrung, also würde das Aufhören der Wirkung der materiellen Kräfte auf die Sinne das Aufhören jeder Erfahrung und des Bewußtseins selbst bedeuten. So gewiß also wie wir selbst Bewußtsein haben, ebenso gewiß dauert die bewegende Kraft der Materie unerschöpflich und ewig fort. Das Schlußwort in diesem wunderbaren Werke ist eine Warnung an die Naturforscher und Philosophen: die Naturforscher sollen nicht glauben, aus em¬ pirischen Thatsachen eine Metaphysik schaffen zu können, und die Philosophen sollen die Thatsachen der Erfahrung nicht a xriori, konstruiren, sondern nur in einem System der Erkenntnis zusammenfassen. Beide sind durchaus auf einander angewiesen. Dies in Umrissen der Inhalt der von Kant hinterlassenen Handschrift, so weit sie sich auf Naturerkenntnis bezieht und in der Bearbeitung Krauses uus vorliegt. Man kann es anch jetzt noch nicht ein vollendet abgeschlossenes Werk nennen, obwohl Krause das Verdienst gebührt, Ordnung und Zusammen¬ hang darin nachgewiesen zu haben. Es gleicht vielmehr einer reichen Fundgrube tiefer Weisheit, künftige Arbeiten anregend und sie befruchtend. Aber bevor das möglich wird, müssen die Naturforscher sich erst ein wenig in Kants Denk¬ weise hineingewöhnt haben, und dafür sind die Aussichten noch sehr gering. Alle meine bisherigen Bemühungen in dieser Richtung scheinen infolge der Gleichartigkeit gegen alle Philosophie so gut wie vergeblich gewesen zu sein. Die fortgesetzte Teilnahmlosigkeit der gelehrten Welt wie der Behörden kann die Sache nicht fördern, und namentlich nicht die Herausgabe des letzten Teiles der Handschrift beschleunigen, worin Kant gleichsam der Weisheit letzten Schluß, die Lehre von den Ideen Gott, Welt und Menschentum, niedergelegt hat. Und doch wird die reiche Saat von Kants Gedankenarbeit erst dann völlig auf¬ gehen, wenn sein ganzes System bis zum letzten Schlußstein der Welt vor Augen liegt. Noch weiß die Welt es meistens nicht, wie dies Ganze sich dar¬ stellt als eine wvhlgcschlosfene Kette vorgedachter Wirkung. Dieselben Prinzipien beherrschen folgerichtig das ganze System. In der Erkenntnistheorie wurde nicht, wie uns die Gelehrten glauben machen wollten, der Weg zum Erkennen der Wirklichkeit verschlossen, sondern umgekehrt, der einzige Pfad nachgewiesen, auf dem es dem Menschen möglich ist, die Wahrheit wirklicher Dinge außer *) Vergl. meine Schrift: „Ueber den Einfluß Kants auf die Theorie der Sinneswahr- nehmung und die Sicherheit ihrer Ergebnisse." Leipzig, Fr. Wilh. Grniww. 1886.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/316>, abgerufen am 24.08.2024.