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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene Werk Immanuel Kants,

die nur in der Berührung wirkt, wogegen die Anziehung eine durchdringende
Kraft ist, die auch in die Ferne wirkt. Ferner werden sie eingeteilt dem For¬
maten nach: 1. der Richtung nach: Anziehung oder Abstoßung; 2. dem Grade
nach: d. i. der Geschwindigkeit der Bewegung nach; 3. der Relation nach: d. i. der
mechanischen Wirkung der Körper auf einander; 4, der Modalität nach: d. i.
ob eine Bewegung Anfang und Ende hat oder immerwährend dauert. Daran
schließt sich der Begriff des Gegensatzes zwischen toter Kraft und lebendigen
Kräften. Erstere ist die durch einen äußern Anstoß mitgeteilte Bewegung, die
Anfang und Ende hat, letztere dagegen sind unendlich und bewegen die Ma¬
terie innerlich durch Vibrationen oder Erschütterung. Alle bewegende Kräfte
der Materie sind also entweder anziehend oder abstoßend, und physische Körper
werden dadurch gebildet, daß beide Arten von Kräften sich gegenseitig in ver-
schiednen Verhältnis beschränken.

Die oberste Einteilung aller Gegenstände der empirischen Anschauung der
Materie ist nun die in Stoffe, physische Körper und organische Körper. Wenn
sich die Kräfte der Materie so beschränken oder vereinigen, daß etwas Beweg¬
liches im Raume entsteht, so nennen wir dies, so lange wir von jeder Be¬
wegung durch bestimmte Form und Gestalt absehen, Stoff. Sind die Kräfte
in der Art vereinigt, daß eine bestimmte Gestalt umgrenzt wird, so nennen wir
es einen physischen Körper; findet die Gestaltbildung nach dem Prinzip statt,
daß alle einzelnen Teile sich zu einem Ganzen zusammenschließen, sodaß sie sich
dem Plane dieses Ganzen unterordnen, so nennen wir es einen organischen
Körper. Hier aber reicht die Physik mit ihren Prinzipien zur Erklärung nicht
mehr aus. Die Wissenschaft vom Übergange von der Metaphysik zur Physik
muß auf die Einteilung in physische und organische Körper hinweisen, denn die
Erfahrung lehrt unzweifelhaft, daß alle Organismen ganz analog einer Ma¬
schine nach einem bestimmten Zwecke oder Plane konstruirt sind, sodaß die ein¬
zelnen Teile nicht um ihrer selbst willen, sondern um dem Ganzen zu dienen,
da sind. Wie das möglich ist, das können wir freilich nicht begreifen. That¬
sache ist es, daß ein physischer Körper beim Zerbrechen oder Zerspringen in
kleinere Teile zerfällt, die wieder Physische Körper darstellen, ebenso selbständig,
wie es der erste war. Nur die nach einem Zwecke angefertigten Geräte und
Maschinen zerfallen nicht in gleichwertige Teile, sondern durch den Verlust eines
Teiles wird das Ganze beschädigt, und der einzelne Teil verliert die Bedeutung,
die er vorher hatte, so lange er dem Ganzen diente. Aber eine solche nach Zwecken
wirkende Ursache kennen wir nur in uns selbst, in unserm eignen Willen, Streben
und Schaffen. Wie außer uns in der Natur eine solche nach Zweckgcdanken
wirkende Kraft thätig sein kann, das vermögen wir nicht g. xriori einzusehen,
wenn wir auch die Thatsache des Daseins einer solchen Kraft nicht leugnen
können, denn wir vermögen nur das mit Sicherheit einzusehen, was in den
Kräften unsers eignen Erkenntnisvermögens begründet ist. Wenn also die neueste


Das nachgelassene Werk Immanuel Kants,

die nur in der Berührung wirkt, wogegen die Anziehung eine durchdringende
Kraft ist, die auch in die Ferne wirkt. Ferner werden sie eingeteilt dem For¬
maten nach: 1. der Richtung nach: Anziehung oder Abstoßung; 2. dem Grade
nach: d. i. der Geschwindigkeit der Bewegung nach; 3. der Relation nach: d. i. der
mechanischen Wirkung der Körper auf einander; 4, der Modalität nach: d. i.
ob eine Bewegung Anfang und Ende hat oder immerwährend dauert. Daran
schließt sich der Begriff des Gegensatzes zwischen toter Kraft und lebendigen
Kräften. Erstere ist die durch einen äußern Anstoß mitgeteilte Bewegung, die
Anfang und Ende hat, letztere dagegen sind unendlich und bewegen die Ma¬
terie innerlich durch Vibrationen oder Erschütterung. Alle bewegende Kräfte
der Materie sind also entweder anziehend oder abstoßend, und physische Körper
werden dadurch gebildet, daß beide Arten von Kräften sich gegenseitig in ver-
schiednen Verhältnis beschränken.

Die oberste Einteilung aller Gegenstände der empirischen Anschauung der
Materie ist nun die in Stoffe, physische Körper und organische Körper. Wenn
sich die Kräfte der Materie so beschränken oder vereinigen, daß etwas Beweg¬
liches im Raume entsteht, so nennen wir dies, so lange wir von jeder Be¬
wegung durch bestimmte Form und Gestalt absehen, Stoff. Sind die Kräfte
in der Art vereinigt, daß eine bestimmte Gestalt umgrenzt wird, so nennen wir
es einen physischen Körper; findet die Gestaltbildung nach dem Prinzip statt,
daß alle einzelnen Teile sich zu einem Ganzen zusammenschließen, sodaß sie sich
dem Plane dieses Ganzen unterordnen, so nennen wir es einen organischen
Körper. Hier aber reicht die Physik mit ihren Prinzipien zur Erklärung nicht
mehr aus. Die Wissenschaft vom Übergange von der Metaphysik zur Physik
muß auf die Einteilung in physische und organische Körper hinweisen, denn die
Erfahrung lehrt unzweifelhaft, daß alle Organismen ganz analog einer Ma¬
schine nach einem bestimmten Zwecke oder Plane konstruirt sind, sodaß die ein¬
zelnen Teile nicht um ihrer selbst willen, sondern um dem Ganzen zu dienen,
da sind. Wie das möglich ist, das können wir freilich nicht begreifen. That¬
sache ist es, daß ein physischer Körper beim Zerbrechen oder Zerspringen in
kleinere Teile zerfällt, die wieder Physische Körper darstellen, ebenso selbständig,
wie es der erste war. Nur die nach einem Zwecke angefertigten Geräte und
Maschinen zerfallen nicht in gleichwertige Teile, sondern durch den Verlust eines
Teiles wird das Ganze beschädigt, und der einzelne Teil verliert die Bedeutung,
die er vorher hatte, so lange er dem Ganzen diente. Aber eine solche nach Zwecken
wirkende Ursache kennen wir nur in uns selbst, in unserm eignen Willen, Streben
und Schaffen. Wie außer uns in der Natur eine solche nach Zweckgcdanken
wirkende Kraft thätig sein kann, das vermögen wir nicht g. xriori einzusehen,
wenn wir auch die Thatsache des Daseins einer solchen Kraft nicht leugnen
können, denn wir vermögen nur das mit Sicherheit einzusehen, was in den
Kräften unsers eignen Erkenntnisvermögens begründet ist. Wenn also die neueste


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[0312] Das nachgelassene Werk Immanuel Kants, die nur in der Berührung wirkt, wogegen die Anziehung eine durchdringende Kraft ist, die auch in die Ferne wirkt. Ferner werden sie eingeteilt dem For¬ maten nach: 1. der Richtung nach: Anziehung oder Abstoßung; 2. dem Grade nach: d. i. der Geschwindigkeit der Bewegung nach; 3. der Relation nach: d. i. der mechanischen Wirkung der Körper auf einander; 4, der Modalität nach: d. i. ob eine Bewegung Anfang und Ende hat oder immerwährend dauert. Daran schließt sich der Begriff des Gegensatzes zwischen toter Kraft und lebendigen Kräften. Erstere ist die durch einen äußern Anstoß mitgeteilte Bewegung, die Anfang und Ende hat, letztere dagegen sind unendlich und bewegen die Ma¬ terie innerlich durch Vibrationen oder Erschütterung. Alle bewegende Kräfte der Materie sind also entweder anziehend oder abstoßend, und physische Körper werden dadurch gebildet, daß beide Arten von Kräften sich gegenseitig in ver- schiednen Verhältnis beschränken. Die oberste Einteilung aller Gegenstände der empirischen Anschauung der Materie ist nun die in Stoffe, physische Körper und organische Körper. Wenn sich die Kräfte der Materie so beschränken oder vereinigen, daß etwas Beweg¬ liches im Raume entsteht, so nennen wir dies, so lange wir von jeder Be¬ wegung durch bestimmte Form und Gestalt absehen, Stoff. Sind die Kräfte in der Art vereinigt, daß eine bestimmte Gestalt umgrenzt wird, so nennen wir es einen physischen Körper; findet die Gestaltbildung nach dem Prinzip statt, daß alle einzelnen Teile sich zu einem Ganzen zusammenschließen, sodaß sie sich dem Plane dieses Ganzen unterordnen, so nennen wir es einen organischen Körper. Hier aber reicht die Physik mit ihren Prinzipien zur Erklärung nicht mehr aus. Die Wissenschaft vom Übergange von der Metaphysik zur Physik muß auf die Einteilung in physische und organische Körper hinweisen, denn die Erfahrung lehrt unzweifelhaft, daß alle Organismen ganz analog einer Ma¬ schine nach einem bestimmten Zwecke oder Plane konstruirt sind, sodaß die ein¬ zelnen Teile nicht um ihrer selbst willen, sondern um dem Ganzen zu dienen, da sind. Wie das möglich ist, das können wir freilich nicht begreifen. That¬ sache ist es, daß ein physischer Körper beim Zerbrechen oder Zerspringen in kleinere Teile zerfällt, die wieder Physische Körper darstellen, ebenso selbständig, wie es der erste war. Nur die nach einem Zwecke angefertigten Geräte und Maschinen zerfallen nicht in gleichwertige Teile, sondern durch den Verlust eines Teiles wird das Ganze beschädigt, und der einzelne Teil verliert die Bedeutung, die er vorher hatte, so lange er dem Ganzen diente. Aber eine solche nach Zwecken wirkende Ursache kennen wir nur in uns selbst, in unserm eignen Willen, Streben und Schaffen. Wie außer uns in der Natur eine solche nach Zweckgcdanken wirkende Kraft thätig sein kann, das vermögen wir nicht g. xriori einzusehen, wenn wir auch die Thatsache des Daseins einer solchen Kraft nicht leugnen können, denn wir vermögen nur das mit Sicherheit einzusehen, was in den Kräften unsers eignen Erkenntnisvermögens begründet ist. Wenn also die neueste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/312>, abgerufen am 24.08.2024.