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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene wer? Zmmanuel Kants.

verbunden, und unsre Verlegenheit ist nur dadurch entstanden, daß wir die
Kraft als Ursache der Bewegung vorhergehend dachten und nun sie nicht als
etwas Selbständiges fassen und begreifen konnten. Wenn ich ein Gewicht auf¬
hebe, so fühle ich die Anstrengung gleichzeitig, so lange ich es thue. Die von
mir aufgewandte Kraft giebt mir unmittelbar die Gewißheit, daß das Gewicht
eine aktive Kraft hat, die ich durch eine realtive Kraft überwinde. Bewegung
und Kraft gehören zusammen wie Form und Inhalt. Wie ich im Raume keine
Form sehen kann, die nicht einen Inhalt Hütte, wie selbst die reinen mathe¬
matischen Figuren nicht anders wahrgenommen werden können, als wenn sie
durch einen sichtbaren Inhalt und eine Umgrenzung von andern Teile" des
Raumes abgegrenzt sind, so ist die Bewegung nichts andres als die Form, in
der die Kraft der Materie sich äußert. Kein Inhalt ist wahrnehmbar ohne
Form, leine Form ist wirklich ohne Inhalt. So ist auch keine Kraft wahr¬
nehmbar ohne Bewegung und keine Bewegung ohne Kraft. Dafür geben uns
die reaktiven Kräfte, die wir selbst zur sinnlichen Wahrnehmung gebrauchen,
die unmittelbare Gewißheit. Daher läßt sich mit vollem Rechte ein System
aller denkbaren Kräfte aufbauen.

Zunächst bemerkt Kant, daß, wenn man die Kategorien zur Einteilung und
Erklärung realer Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung benutzen wolle (im
Gegensatz zu den spätern philosophischen Lehrmeistern), man stets auf zwei ent¬
gegengesetzte Haupt- oder Stammbegriffe komme, weil es sich nicht bloß um
logische, sondern um reale Gegensätze handle wie g, und -- a oder wie etwas
Positives und etwas Negatives. Damit hat er gewissermaßen cmtizipirt, was
Krause erst in den siebziger Jahren fand (Gesetze des menschlichen Herzens,
1876), daß der Versuch, mit den Kategorien erfolgreich zu arbeiten und sie ans
Wahrnehmungen anzuwenden, notwendig dahin führe, zwei Hauptgegensätze in
jeder Klasse (der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität)
zu statuiren, nicht aber darin, wie Kant zuerst gelehrt hatte. Daß es bei
Krause vier in jeder Klasse geworden sind, hebt das Prinzip der Zweiteilung
nicht auf, welches Kant schon frühzeitig für alle reinen Verstandesbegriffe
annahm.

Bei der systematischen Aufzählung aller Kräfte der Materie folgt Kant
um immer dem Prinzip, nichts vorauszusetzen, was nicht mit der Empfindung
und Wahrnehmung zusammenhängt und dadurch begreiflich und beweisbar wird,
im Gegensatz zur Atomistik und Molekularphysik, die metaphysische Theorien
darstellen, welche das Sichtbare auf das Unsichtbare und Unbeweisbare gründen,
aber trotzdem heutzutage noch in Blüte stehen. Die Einteilung der denkbaren
bewegenden Kräfte geschieht nun zunächst dem Materiellen nach in ortsverändernde
und innerlich bewegende Kräfte; das ist dasselbe wie anziehen, abstoßen oder
in beidem fortwährend wechseln, wie Erschütterung oder Schwingung. Die be¬
wegende Kraft, die nur abstoßend bewegen kann, ist Mchcnkraft, d. i. eine solche,


Das nachgelassene wer? Zmmanuel Kants.

verbunden, und unsre Verlegenheit ist nur dadurch entstanden, daß wir die
Kraft als Ursache der Bewegung vorhergehend dachten und nun sie nicht als
etwas Selbständiges fassen und begreifen konnten. Wenn ich ein Gewicht auf¬
hebe, so fühle ich die Anstrengung gleichzeitig, so lange ich es thue. Die von
mir aufgewandte Kraft giebt mir unmittelbar die Gewißheit, daß das Gewicht
eine aktive Kraft hat, die ich durch eine realtive Kraft überwinde. Bewegung
und Kraft gehören zusammen wie Form und Inhalt. Wie ich im Raume keine
Form sehen kann, die nicht einen Inhalt Hütte, wie selbst die reinen mathe¬
matischen Figuren nicht anders wahrgenommen werden können, als wenn sie
durch einen sichtbaren Inhalt und eine Umgrenzung von andern Teile» des
Raumes abgegrenzt sind, so ist die Bewegung nichts andres als die Form, in
der die Kraft der Materie sich äußert. Kein Inhalt ist wahrnehmbar ohne
Form, leine Form ist wirklich ohne Inhalt. So ist auch keine Kraft wahr¬
nehmbar ohne Bewegung und keine Bewegung ohne Kraft. Dafür geben uns
die reaktiven Kräfte, die wir selbst zur sinnlichen Wahrnehmung gebrauchen,
die unmittelbare Gewißheit. Daher läßt sich mit vollem Rechte ein System
aller denkbaren Kräfte aufbauen.

Zunächst bemerkt Kant, daß, wenn man die Kategorien zur Einteilung und
Erklärung realer Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung benutzen wolle (im
Gegensatz zu den spätern philosophischen Lehrmeistern), man stets auf zwei ent¬
gegengesetzte Haupt- oder Stammbegriffe komme, weil es sich nicht bloß um
logische, sondern um reale Gegensätze handle wie g, und — a oder wie etwas
Positives und etwas Negatives. Damit hat er gewissermaßen cmtizipirt, was
Krause erst in den siebziger Jahren fand (Gesetze des menschlichen Herzens,
1876), daß der Versuch, mit den Kategorien erfolgreich zu arbeiten und sie ans
Wahrnehmungen anzuwenden, notwendig dahin führe, zwei Hauptgegensätze in
jeder Klasse (der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität)
zu statuiren, nicht aber darin, wie Kant zuerst gelehrt hatte. Daß es bei
Krause vier in jeder Klasse geworden sind, hebt das Prinzip der Zweiteilung
nicht auf, welches Kant schon frühzeitig für alle reinen Verstandesbegriffe
annahm.

Bei der systematischen Aufzählung aller Kräfte der Materie folgt Kant
um immer dem Prinzip, nichts vorauszusetzen, was nicht mit der Empfindung
und Wahrnehmung zusammenhängt und dadurch begreiflich und beweisbar wird,
im Gegensatz zur Atomistik und Molekularphysik, die metaphysische Theorien
darstellen, welche das Sichtbare auf das Unsichtbare und Unbeweisbare gründen,
aber trotzdem heutzutage noch in Blüte stehen. Die Einteilung der denkbaren
bewegenden Kräfte geschieht nun zunächst dem Materiellen nach in ortsverändernde
und innerlich bewegende Kräfte; das ist dasselbe wie anziehen, abstoßen oder
in beidem fortwährend wechseln, wie Erschütterung oder Schwingung. Die be¬
wegende Kraft, die nur abstoßend bewegen kann, ist Mchcnkraft, d. i. eine solche,


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[0311] Das nachgelassene wer? Zmmanuel Kants. verbunden, und unsre Verlegenheit ist nur dadurch entstanden, daß wir die Kraft als Ursache der Bewegung vorhergehend dachten und nun sie nicht als etwas Selbständiges fassen und begreifen konnten. Wenn ich ein Gewicht auf¬ hebe, so fühle ich die Anstrengung gleichzeitig, so lange ich es thue. Die von mir aufgewandte Kraft giebt mir unmittelbar die Gewißheit, daß das Gewicht eine aktive Kraft hat, die ich durch eine realtive Kraft überwinde. Bewegung und Kraft gehören zusammen wie Form und Inhalt. Wie ich im Raume keine Form sehen kann, die nicht einen Inhalt Hütte, wie selbst die reinen mathe¬ matischen Figuren nicht anders wahrgenommen werden können, als wenn sie durch einen sichtbaren Inhalt und eine Umgrenzung von andern Teile» des Raumes abgegrenzt sind, so ist die Bewegung nichts andres als die Form, in der die Kraft der Materie sich äußert. Kein Inhalt ist wahrnehmbar ohne Form, leine Form ist wirklich ohne Inhalt. So ist auch keine Kraft wahr¬ nehmbar ohne Bewegung und keine Bewegung ohne Kraft. Dafür geben uns die reaktiven Kräfte, die wir selbst zur sinnlichen Wahrnehmung gebrauchen, die unmittelbare Gewißheit. Daher läßt sich mit vollem Rechte ein System aller denkbaren Kräfte aufbauen. Zunächst bemerkt Kant, daß, wenn man die Kategorien zur Einteilung und Erklärung realer Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung benutzen wolle (im Gegensatz zu den spätern philosophischen Lehrmeistern), man stets auf zwei ent¬ gegengesetzte Haupt- oder Stammbegriffe komme, weil es sich nicht bloß um logische, sondern um reale Gegensätze handle wie g, und — a oder wie etwas Positives und etwas Negatives. Damit hat er gewissermaßen cmtizipirt, was Krause erst in den siebziger Jahren fand (Gesetze des menschlichen Herzens, 1876), daß der Versuch, mit den Kategorien erfolgreich zu arbeiten und sie ans Wahrnehmungen anzuwenden, notwendig dahin führe, zwei Hauptgegensätze in jeder Klasse (der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität) zu statuiren, nicht aber darin, wie Kant zuerst gelehrt hatte. Daß es bei Krause vier in jeder Klasse geworden sind, hebt das Prinzip der Zweiteilung nicht auf, welches Kant schon frühzeitig für alle reinen Verstandesbegriffe annahm. Bei der systematischen Aufzählung aller Kräfte der Materie folgt Kant um immer dem Prinzip, nichts vorauszusetzen, was nicht mit der Empfindung und Wahrnehmung zusammenhängt und dadurch begreiflich und beweisbar wird, im Gegensatz zur Atomistik und Molekularphysik, die metaphysische Theorien darstellen, welche das Sichtbare auf das Unsichtbare und Unbeweisbare gründen, aber trotzdem heutzutage noch in Blüte stehen. Die Einteilung der denkbaren bewegenden Kräfte geschieht nun zunächst dem Materiellen nach in ortsverändernde und innerlich bewegende Kräfte; das ist dasselbe wie anziehen, abstoßen oder in beidem fortwährend wechseln, wie Erschütterung oder Schwingung. Die be¬ wegende Kraft, die nur abstoßend bewegen kann, ist Mchcnkraft, d. i. eine solche,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/311>, abgerufen am 24.08.2024.