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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhnc

empfand ein Bedürfnis, sich auszusprechen, zu klagen und zu bekennen, es war
fast ein physisches Bedürfnis, das er empfand.

Eines Abends -- es war längst über die Schlafengehenszeit hinaus, und
Fennimore hatte sich bereits zur Ruhe begeben -- saßen die beiden bei ihrem
Glase Grog in dem dunkeln Wohnzimmer. Nur das Glimmen ihrer Zigarren
zeigte, wo sie waren, und hin und wieder, wenn Ricks sich ganz in seinen Stuhl
zurückkehrte, hob sich sein aufwärtsstarrendes Profil ganz schwarz gegen das
dunkle Fenster ab. Sie hatten ziemlich viel getrunken, besonders Erik, während
sie von alten Tagen auf Lönbvrggaard sprachen, von jenen Zeiten, da sie
noch Knaben waren. Jetzt war durch Fennimores Weggehen eine Pause ent¬
standen, die scheinbar keiner von ihnen gern unterbrechen wollte, denn die Ge¬
danken in ihnen rollten so angenehm weich, während sie träumerisch dem Blute
lauschten, das, warm von dem aufsteigenden Rausch, vor ihren Ohren sang.

Wie einfältig ist man doch mit zwanzig Jahren! ertönte schließlich Eriks
Stimme. Gott mag wissen, was man eigentlich erwartete und wie man es sich
nur in den Kopf hatte setzen können, daß so etwas möglich sei! Wir nannten
die Dinge ja freilich bei ihren rechten Namen, aber das, was wir darunter
verstanden, lag doch völlig außerhalb eines Vergleichs mit dem zahmen Gottes-
segen, der uns zu teil geworden ist. Es ist im Grunde nicht viel am Leben,
meinst du nicht auch?

Ach, ich weiß nicht recht, ich lasse es so gehen, wie es gehen will. Im
allgemeinen lebt man ja nicht so weiter. Den größten Teil der Zeit existirt
man nur. Wenn man das Leben wie einen ganzen, großen, appetitlichen Kuchen
bekommen könnte, und wenn man dann einHauen könnte! Aber so bissenweise! --
das ist nicht ergötzlich --

Sag mir einmal, Ricks -- man kommt eigentlich nur mit dir dazu, über
so wunderbare Dinge zu reden --, aber ich weiß nicht, es geht so gut mit dir.
Sag einmal -- hast du auch noch etwas in deinem Glase? Gut! -- hast du
wohl jemals über den Tod nachgedacht?

Ich? -- Ach ja -- und du?

Ich meine nicht bei Beerdigungen oder wenn man krank ist, nein, im
Gegenteil, gerade wenn man sich am allerwohlsten fühlt, dann kann es oft
so über mich kommen, gleichsam wie eine -- ja, wie eine Verzweiflung. Ich
sitze da und grüble und kann nicht das Geringste zu stände bringen, ja es ist
mir völlig unmöglich, und dann fühle ich, wie die Zeit mir entgleitet, Stunden,
Wochen, Monate! Ohne Inhalt fliehen sie an mir vorüber, und ich kann sie
nicht mit meiner Arbeit an den Fleck nageln. Ich weiß nicht, ob du verstehst,
was ich meine, es ist ja nur so ein Gefühl von mir, aber ich möchte die Zeit
aufhalten können durch etwas, was ich ausgerichtet hätte. Siehst du, wenn
ich ein Bild male, so bleibt die Zeit, während deren ich es male, stets mein
Eigentum, oder ich habe wenigstens etwas davon, sie ist nicht vorüber, weil sie


Ricks Lyhnc

empfand ein Bedürfnis, sich auszusprechen, zu klagen und zu bekennen, es war
fast ein physisches Bedürfnis, das er empfand.

Eines Abends — es war längst über die Schlafengehenszeit hinaus, und
Fennimore hatte sich bereits zur Ruhe begeben — saßen die beiden bei ihrem
Glase Grog in dem dunkeln Wohnzimmer. Nur das Glimmen ihrer Zigarren
zeigte, wo sie waren, und hin und wieder, wenn Ricks sich ganz in seinen Stuhl
zurückkehrte, hob sich sein aufwärtsstarrendes Profil ganz schwarz gegen das
dunkle Fenster ab. Sie hatten ziemlich viel getrunken, besonders Erik, während
sie von alten Tagen auf Lönbvrggaard sprachen, von jenen Zeiten, da sie
noch Knaben waren. Jetzt war durch Fennimores Weggehen eine Pause ent¬
standen, die scheinbar keiner von ihnen gern unterbrechen wollte, denn die Ge¬
danken in ihnen rollten so angenehm weich, während sie träumerisch dem Blute
lauschten, das, warm von dem aufsteigenden Rausch, vor ihren Ohren sang.

Wie einfältig ist man doch mit zwanzig Jahren! ertönte schließlich Eriks
Stimme. Gott mag wissen, was man eigentlich erwartete und wie man es sich
nur in den Kopf hatte setzen können, daß so etwas möglich sei! Wir nannten
die Dinge ja freilich bei ihren rechten Namen, aber das, was wir darunter
verstanden, lag doch völlig außerhalb eines Vergleichs mit dem zahmen Gottes-
segen, der uns zu teil geworden ist. Es ist im Grunde nicht viel am Leben,
meinst du nicht auch?

Ach, ich weiß nicht recht, ich lasse es so gehen, wie es gehen will. Im
allgemeinen lebt man ja nicht so weiter. Den größten Teil der Zeit existirt
man nur. Wenn man das Leben wie einen ganzen, großen, appetitlichen Kuchen
bekommen könnte, und wenn man dann einHauen könnte! Aber so bissenweise! —
das ist nicht ergötzlich —

Sag mir einmal, Ricks — man kommt eigentlich nur mit dir dazu, über
so wunderbare Dinge zu reden —, aber ich weiß nicht, es geht so gut mit dir.
Sag einmal — hast du auch noch etwas in deinem Glase? Gut! — hast du
wohl jemals über den Tod nachgedacht?

Ich? — Ach ja — und du?

Ich meine nicht bei Beerdigungen oder wenn man krank ist, nein, im
Gegenteil, gerade wenn man sich am allerwohlsten fühlt, dann kann es oft
so über mich kommen, gleichsam wie eine — ja, wie eine Verzweiflung. Ich
sitze da und grüble und kann nicht das Geringste zu stände bringen, ja es ist
mir völlig unmöglich, und dann fühle ich, wie die Zeit mir entgleitet, Stunden,
Wochen, Monate! Ohne Inhalt fliehen sie an mir vorüber, und ich kann sie
nicht mit meiner Arbeit an den Fleck nageln. Ich weiß nicht, ob du verstehst,
was ich meine, es ist ja nur so ein Gefühl von mir, aber ich möchte die Zeit
aufhalten können durch etwas, was ich ausgerichtet hätte. Siehst du, wenn
ich ein Bild male, so bleibt die Zeit, während deren ich es male, stets mein
Eigentum, oder ich habe wenigstens etwas davon, sie ist nicht vorüber, weil sie


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[0286] Ricks Lyhnc empfand ein Bedürfnis, sich auszusprechen, zu klagen und zu bekennen, es war fast ein physisches Bedürfnis, das er empfand. Eines Abends — es war längst über die Schlafengehenszeit hinaus, und Fennimore hatte sich bereits zur Ruhe begeben — saßen die beiden bei ihrem Glase Grog in dem dunkeln Wohnzimmer. Nur das Glimmen ihrer Zigarren zeigte, wo sie waren, und hin und wieder, wenn Ricks sich ganz in seinen Stuhl zurückkehrte, hob sich sein aufwärtsstarrendes Profil ganz schwarz gegen das dunkle Fenster ab. Sie hatten ziemlich viel getrunken, besonders Erik, während sie von alten Tagen auf Lönbvrggaard sprachen, von jenen Zeiten, da sie noch Knaben waren. Jetzt war durch Fennimores Weggehen eine Pause ent¬ standen, die scheinbar keiner von ihnen gern unterbrechen wollte, denn die Ge¬ danken in ihnen rollten so angenehm weich, während sie träumerisch dem Blute lauschten, das, warm von dem aufsteigenden Rausch, vor ihren Ohren sang. Wie einfältig ist man doch mit zwanzig Jahren! ertönte schließlich Eriks Stimme. Gott mag wissen, was man eigentlich erwartete und wie man es sich nur in den Kopf hatte setzen können, daß so etwas möglich sei! Wir nannten die Dinge ja freilich bei ihren rechten Namen, aber das, was wir darunter verstanden, lag doch völlig außerhalb eines Vergleichs mit dem zahmen Gottes- segen, der uns zu teil geworden ist. Es ist im Grunde nicht viel am Leben, meinst du nicht auch? Ach, ich weiß nicht recht, ich lasse es so gehen, wie es gehen will. Im allgemeinen lebt man ja nicht so weiter. Den größten Teil der Zeit existirt man nur. Wenn man das Leben wie einen ganzen, großen, appetitlichen Kuchen bekommen könnte, und wenn man dann einHauen könnte! Aber so bissenweise! — das ist nicht ergötzlich — Sag mir einmal, Ricks — man kommt eigentlich nur mit dir dazu, über so wunderbare Dinge zu reden —, aber ich weiß nicht, es geht so gut mit dir. Sag einmal — hast du auch noch etwas in deinem Glase? Gut! — hast du wohl jemals über den Tod nachgedacht? Ich? — Ach ja — und du? Ich meine nicht bei Beerdigungen oder wenn man krank ist, nein, im Gegenteil, gerade wenn man sich am allerwohlsten fühlt, dann kann es oft so über mich kommen, gleichsam wie eine — ja, wie eine Verzweiflung. Ich sitze da und grüble und kann nicht das Geringste zu stände bringen, ja es ist mir völlig unmöglich, und dann fühle ich, wie die Zeit mir entgleitet, Stunden, Wochen, Monate! Ohne Inhalt fliehen sie an mir vorüber, und ich kann sie nicht mit meiner Arbeit an den Fleck nageln. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine, es ist ja nur so ein Gefühl von mir, aber ich möchte die Zeit aufhalten können durch etwas, was ich ausgerichtet hätte. Siehst du, wenn ich ein Bild male, so bleibt die Zeit, während deren ich es male, stets mein Eigentum, oder ich habe wenigstens etwas davon, sie ist nicht vorüber, weil sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/286>, abgerufen am 22.07.2024.