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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene Werk Immanuel Ranks.

fahrbaren Gegenstände fügen müssen. Daher ist sicher nur eine Welt, ein
Raum, eine Zeit und eine Materie, weil es nur eine Form des Bewußtseins giebt.

Es folgt nun eine wunderbar tiefsinnige Untersuchung über die Erkennbar¬
keit und das Wesen der Materie. Alle Gegenstände in der Physik sind Ge¬
staltungen einer Materie; diese ist aber selbst nicht Gegenstand der Physik, weil
sie nicht einfach durch die Sinne wahrzunehmen ist, sondern nur ans den wahr¬
nehmbaren Thatsachen erschlossen werden kann. Die Physik beruht auf
Wahrnehmung und findet an der Grenze derselben etwas Nichtwahruchmbarcs,
sie macht daher Hypothesen über Atome und Imponderabilien, ohne nachweisen
zu können, was das Wesen derselben sei. Die Metaphysik beruht auf Denken
und findet eine" Gegenstand, der mehr ist als Gedanke -- die Materie. Die
Materie existirt notwendig als Gegenstand der Wissenschaft vom Übergang ?c.
Als solcher ist sie die Einheit der Synthesis oder die zusammengefaßte Einheit
aller ihrer Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind bewegende Kräfte, und diese
werden erfahren durch die eignen Kräfte des Subjekts. Wir können in unserm
Bewußtsein die Kraft wahrnehmen, die wir selbst ausüben, entweder um ein
Gewicht zu heben oder um einen Druck abzuwehren, d. i. um auzuzichea oder
abzustoßen, also existiren anziehende und abstoßende Kräfte ebenso gewiß wie
unser eignes Bewußtsein.

Kraft ist Ursache einer Bewegung; da man nun den Begriff einer Ursache
nicht sehen, sondern nur denken kann, so ist der Begriff der Kraft aus der
Physik allein, da sie auf Wahrnehmungen beruht, nicht abzuleiten, und ist daher
den Physikern von jeher verdächtig gewesen. Wenn sie auch vorgeben, das
Gesetz der Erhaltung der Kraft auf empirischem Wege gefunden oder mindestens
höchst wahrscheinlich gemacht zu haben, so hört man doch von folgerichtigen
Denkern die Ansicht verteidigen, daß es eigentlich nur das Gesetz der Erhaltung
der Bewegung genannt werden müsse, da die Existenz einer Kraft, zumal einer
in die Ferne wirkenden (wie die Gravitation), nicht zu beweisen sei, und nur
die Bewegung das einzige sei, was man der mathematischen Berechnung unter¬
werfen könne. Anders spricht Kant. Weil wir im Bewußtsein die eigne An¬
strengung als eine von uns selbst geleistete realtive Kraft wahrnehmen, welche
Ursache einer Bewegung ist, so existiren wirklich anziehende und abstoßende
Kräfte als Bewegungsursachen, denn nach dem oben angeführten Grundsätze aus
der Erkenntnistheorie (zweites Postulat des empirischen Denkens überhaupt) ist
dasjenige wirklich, was mit der Empfindung zusammenhängt.

Nun geht er aber weiter. Das Bewußtsein ist nicht immer vorhanden in
jedem Menschen, im Schlafenden z. B. nicht. Die Thätigkeiten des Bewußt¬
seins wie Wahrnehmen und Denken sind nicht transzendental. Diese Bezeichnung
kommt nur den Vorbedingungen des Bewußtseins im Subjekt zu. Diese reinen
Formen und Fähigkeiten, die erst das Anschauen und Denken möglich machen,
sind nicht wahrnehmbar, sondern nur erschlossen, voov^co", nicht <x"too^ep",


Das nachgelassene Werk Immanuel Ranks.

fahrbaren Gegenstände fügen müssen. Daher ist sicher nur eine Welt, ein
Raum, eine Zeit und eine Materie, weil es nur eine Form des Bewußtseins giebt.

Es folgt nun eine wunderbar tiefsinnige Untersuchung über die Erkennbar¬
keit und das Wesen der Materie. Alle Gegenstände in der Physik sind Ge¬
staltungen einer Materie; diese ist aber selbst nicht Gegenstand der Physik, weil
sie nicht einfach durch die Sinne wahrzunehmen ist, sondern nur ans den wahr¬
nehmbaren Thatsachen erschlossen werden kann. Die Physik beruht auf
Wahrnehmung und findet an der Grenze derselben etwas Nichtwahruchmbarcs,
sie macht daher Hypothesen über Atome und Imponderabilien, ohne nachweisen
zu können, was das Wesen derselben sei. Die Metaphysik beruht auf Denken
und findet eine» Gegenstand, der mehr ist als Gedanke — die Materie. Die
Materie existirt notwendig als Gegenstand der Wissenschaft vom Übergang ?c.
Als solcher ist sie die Einheit der Synthesis oder die zusammengefaßte Einheit
aller ihrer Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind bewegende Kräfte, und diese
werden erfahren durch die eignen Kräfte des Subjekts. Wir können in unserm
Bewußtsein die Kraft wahrnehmen, die wir selbst ausüben, entweder um ein
Gewicht zu heben oder um einen Druck abzuwehren, d. i. um auzuzichea oder
abzustoßen, also existiren anziehende und abstoßende Kräfte ebenso gewiß wie
unser eignes Bewußtsein.

Kraft ist Ursache einer Bewegung; da man nun den Begriff einer Ursache
nicht sehen, sondern nur denken kann, so ist der Begriff der Kraft aus der
Physik allein, da sie auf Wahrnehmungen beruht, nicht abzuleiten, und ist daher
den Physikern von jeher verdächtig gewesen. Wenn sie auch vorgeben, das
Gesetz der Erhaltung der Kraft auf empirischem Wege gefunden oder mindestens
höchst wahrscheinlich gemacht zu haben, so hört man doch von folgerichtigen
Denkern die Ansicht verteidigen, daß es eigentlich nur das Gesetz der Erhaltung
der Bewegung genannt werden müsse, da die Existenz einer Kraft, zumal einer
in die Ferne wirkenden (wie die Gravitation), nicht zu beweisen sei, und nur
die Bewegung das einzige sei, was man der mathematischen Berechnung unter¬
werfen könne. Anders spricht Kant. Weil wir im Bewußtsein die eigne An¬
strengung als eine von uns selbst geleistete realtive Kraft wahrnehmen, welche
Ursache einer Bewegung ist, so existiren wirklich anziehende und abstoßende
Kräfte als Bewegungsursachen, denn nach dem oben angeführten Grundsätze aus
der Erkenntnistheorie (zweites Postulat des empirischen Denkens überhaupt) ist
dasjenige wirklich, was mit der Empfindung zusammenhängt.

Nun geht er aber weiter. Das Bewußtsein ist nicht immer vorhanden in
jedem Menschen, im Schlafenden z. B. nicht. Die Thätigkeiten des Bewußt¬
seins wie Wahrnehmen und Denken sind nicht transzendental. Diese Bezeichnung
kommt nur den Vorbedingungen des Bewußtseins im Subjekt zu. Diese reinen
Formen und Fähigkeiten, die erst das Anschauen und Denken möglich machen,
sind nicht wahrnehmbar, sondern nur erschlossen, voov^co«, nicht <x«too^ep«,


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[0262] Das nachgelassene Werk Immanuel Ranks. fahrbaren Gegenstände fügen müssen. Daher ist sicher nur eine Welt, ein Raum, eine Zeit und eine Materie, weil es nur eine Form des Bewußtseins giebt. Es folgt nun eine wunderbar tiefsinnige Untersuchung über die Erkennbar¬ keit und das Wesen der Materie. Alle Gegenstände in der Physik sind Ge¬ staltungen einer Materie; diese ist aber selbst nicht Gegenstand der Physik, weil sie nicht einfach durch die Sinne wahrzunehmen ist, sondern nur ans den wahr¬ nehmbaren Thatsachen erschlossen werden kann. Die Physik beruht auf Wahrnehmung und findet an der Grenze derselben etwas Nichtwahruchmbarcs, sie macht daher Hypothesen über Atome und Imponderabilien, ohne nachweisen zu können, was das Wesen derselben sei. Die Metaphysik beruht auf Denken und findet eine» Gegenstand, der mehr ist als Gedanke — die Materie. Die Materie existirt notwendig als Gegenstand der Wissenschaft vom Übergang ?c. Als solcher ist sie die Einheit der Synthesis oder die zusammengefaßte Einheit aller ihrer Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind bewegende Kräfte, und diese werden erfahren durch die eignen Kräfte des Subjekts. Wir können in unserm Bewußtsein die Kraft wahrnehmen, die wir selbst ausüben, entweder um ein Gewicht zu heben oder um einen Druck abzuwehren, d. i. um auzuzichea oder abzustoßen, also existiren anziehende und abstoßende Kräfte ebenso gewiß wie unser eignes Bewußtsein. Kraft ist Ursache einer Bewegung; da man nun den Begriff einer Ursache nicht sehen, sondern nur denken kann, so ist der Begriff der Kraft aus der Physik allein, da sie auf Wahrnehmungen beruht, nicht abzuleiten, und ist daher den Physikern von jeher verdächtig gewesen. Wenn sie auch vorgeben, das Gesetz der Erhaltung der Kraft auf empirischem Wege gefunden oder mindestens höchst wahrscheinlich gemacht zu haben, so hört man doch von folgerichtigen Denkern die Ansicht verteidigen, daß es eigentlich nur das Gesetz der Erhaltung der Bewegung genannt werden müsse, da die Existenz einer Kraft, zumal einer in die Ferne wirkenden (wie die Gravitation), nicht zu beweisen sei, und nur die Bewegung das einzige sei, was man der mathematischen Berechnung unter¬ werfen könne. Anders spricht Kant. Weil wir im Bewußtsein die eigne An¬ strengung als eine von uns selbst geleistete realtive Kraft wahrnehmen, welche Ursache einer Bewegung ist, so existiren wirklich anziehende und abstoßende Kräfte als Bewegungsursachen, denn nach dem oben angeführten Grundsätze aus der Erkenntnistheorie (zweites Postulat des empirischen Denkens überhaupt) ist dasjenige wirklich, was mit der Empfindung zusammenhängt. Nun geht er aber weiter. Das Bewußtsein ist nicht immer vorhanden in jedem Menschen, im Schlafenden z. B. nicht. Die Thätigkeiten des Bewußt¬ seins wie Wahrnehmen und Denken sind nicht transzendental. Diese Bezeichnung kommt nur den Vorbedingungen des Bewußtseins im Subjekt zu. Diese reinen Formen und Fähigkeiten, die erst das Anschauen und Denken möglich machen, sind nicht wahrnehmbar, sondern nur erschlossen, voov^co«, nicht <x«too^ep«,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/262>, abgerufen am 24.08.2024.