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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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einkommt, ist möglich. 7. Was mit der Empfindung zusammenhängt, ist wirklich.
8. Das Wahrgenommene, welches nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung
(besonders nach dem Gesetze von Ursache und Wirkung) bestimmt ist, ist notwendig.

Diese Grundsätze hatte Kant als unumstößlich sicher hingestellt, weil sie
aus der von ihm gefundenen Eigentümlichkeit unsers Erkenntnisvermögens ent¬
sprangen. Das war aber kein Grund für die Naturwissenschaft, sie anzuerkennen,
denn nach der allgemeinen Meinung sollte Kant dabei überhaupt nicht von wirk¬
lichen naturwissenschaftlichen Thatsachen, sondern nur von oberflächlichen Er¬
scheinungen geredet haben, die für die exakten Naturforscher wenig oder gar
kein Interesse hatten. Das Einzige, was man gelegentlich gern hörte und an¬
führte, war die aus den beiden ersten Grundsätzen entnommene Behauptung
Kants, daß eigentlich nur so viel echte Wissenschaft in der Naturkunde vor¬
handen sei, als Mathematik darin vorkomme. Im übrigen kehrte man sich nicht
an ihn und gründete die umfassendsten Hypothesen auf Atome und leere Räume,
deren Existenz doch niemals bewiesen werden konnte. Ja man ging in den
kantfeindlichen empiristischen Bestrebungen so weit, die Zeit und den Raum
als erfahrungsmäßig entwickelt anzusehen und Fragen aufzuwerfen, ob es nicht
andre Zeiten und Räume als unsre Anschauungsformen geben könne, oder ob
es nicht andre mathematische Lehrsätze geben könne als die unsern, oder ob es
nicht Körper geben könne, die nicht den Gesetzen der Mathematik unterworfen
seien. Diese sonderbaren Ausschweifungen der Phantasie, die wir auch noch in
unsern Tagen sich haben erneuern sehen, haben alle das Eigentümliche, daß die
Erfinder derselben keine Ahnung davon hatten, daß sie von etwas redeten, was
gar nicht in unsrer Welt vorkommen kann, und daher für die Wissenschaft unsrer
Welt absolut unfruchtbar sein mußte.

Allen diesen Verirrungen der Wissenschaft wird nun ein Riegel vorge¬
schoben, wenn Kant das Wesen der Materie nicht allein, wie in den metaphy¬
sischen Anfangsgründen von 1786, nach mathematischen, sondern auch nach
dynamischen Prinzipien, d. h. in Verbindung mit der Empfindung durch die
Sinne, behandelt. Das ist die Bedeutung des hinterlassenen Werkes: "Vom
Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur
Physik." Die Physik wird hier definirt als die Lehre von den bewegenden
Kräften, die der Materie eigen sind. Die Gegenstände der Physik sind der
Inbegriff aller Gegenstände möglicher Wahrnehmung. Da nun aber Wahr¬
nehmung nicht möglich ist ohne eine aktive Beteiligung unsers Bewußtseins, so
folgt daraus die Möglichkeit, aus dem System der Thätigkeiten unsers Bewußt¬
seins die Prinzipien zur Klassifikation und Spezifikation aller Gegenstände
der Wahrnehmung und daher der Physik zu finden. Die Unterordnung der
Fülle der Gegenstände der Physik unter die Systematik der Bedingungen der
Erfahrung überhaupt, das ist der Übergang von der Metaphysik zur Physik.
Die Bedingungen der Erfahrung enthalten die Weltgesetze, welchen sich alle er-


?c>5 nachgelassene Werk Immanuel Kants.

einkommt, ist möglich. 7. Was mit der Empfindung zusammenhängt, ist wirklich.
8. Das Wahrgenommene, welches nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung
(besonders nach dem Gesetze von Ursache und Wirkung) bestimmt ist, ist notwendig.

Diese Grundsätze hatte Kant als unumstößlich sicher hingestellt, weil sie
aus der von ihm gefundenen Eigentümlichkeit unsers Erkenntnisvermögens ent¬
sprangen. Das war aber kein Grund für die Naturwissenschaft, sie anzuerkennen,
denn nach der allgemeinen Meinung sollte Kant dabei überhaupt nicht von wirk¬
lichen naturwissenschaftlichen Thatsachen, sondern nur von oberflächlichen Er¬
scheinungen geredet haben, die für die exakten Naturforscher wenig oder gar
kein Interesse hatten. Das Einzige, was man gelegentlich gern hörte und an¬
führte, war die aus den beiden ersten Grundsätzen entnommene Behauptung
Kants, daß eigentlich nur so viel echte Wissenschaft in der Naturkunde vor¬
handen sei, als Mathematik darin vorkomme. Im übrigen kehrte man sich nicht
an ihn und gründete die umfassendsten Hypothesen auf Atome und leere Räume,
deren Existenz doch niemals bewiesen werden konnte. Ja man ging in den
kantfeindlichen empiristischen Bestrebungen so weit, die Zeit und den Raum
als erfahrungsmäßig entwickelt anzusehen und Fragen aufzuwerfen, ob es nicht
andre Zeiten und Räume als unsre Anschauungsformen geben könne, oder ob
es nicht andre mathematische Lehrsätze geben könne als die unsern, oder ob es
nicht Körper geben könne, die nicht den Gesetzen der Mathematik unterworfen
seien. Diese sonderbaren Ausschweifungen der Phantasie, die wir auch noch in
unsern Tagen sich haben erneuern sehen, haben alle das Eigentümliche, daß die
Erfinder derselben keine Ahnung davon hatten, daß sie von etwas redeten, was
gar nicht in unsrer Welt vorkommen kann, und daher für die Wissenschaft unsrer
Welt absolut unfruchtbar sein mußte.

Allen diesen Verirrungen der Wissenschaft wird nun ein Riegel vorge¬
schoben, wenn Kant das Wesen der Materie nicht allein, wie in den metaphy¬
sischen Anfangsgründen von 1786, nach mathematischen, sondern auch nach
dynamischen Prinzipien, d. h. in Verbindung mit der Empfindung durch die
Sinne, behandelt. Das ist die Bedeutung des hinterlassenen Werkes: „Vom
Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur
Physik." Die Physik wird hier definirt als die Lehre von den bewegenden
Kräften, die der Materie eigen sind. Die Gegenstände der Physik sind der
Inbegriff aller Gegenstände möglicher Wahrnehmung. Da nun aber Wahr¬
nehmung nicht möglich ist ohne eine aktive Beteiligung unsers Bewußtseins, so
folgt daraus die Möglichkeit, aus dem System der Thätigkeiten unsers Bewußt¬
seins die Prinzipien zur Klassifikation und Spezifikation aller Gegenstände
der Wahrnehmung und daher der Physik zu finden. Die Unterordnung der
Fülle der Gegenstände der Physik unter die Systematik der Bedingungen der
Erfahrung überhaupt, das ist der Übergang von der Metaphysik zur Physik.
Die Bedingungen der Erfahrung enthalten die Weltgesetze, welchen sich alle er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/261>, abgerufen am 24.08.2024.