Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das nachgelassene Werk Immanuel Kants.

Nun hatte Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik voll¬
ständig umgestaltet. Er hatte ein für allemal nachgewiesen, daß es thöricht
sei, als das Ziel der Untersuchung ein "Ding an sich" oder den letzten von unserm
eignen Geiste unabhängigen Grund der Welt hinzustellen. Wenn auch die Meta¬
physik eine Wissenschaft aus reinen Begriffen sein will und der Anschauung
entbehren zu können glaubt, so kann sie doch ihre Begriffe auf keine andre
Weise finden als auf Grund unsers eignen Bewußtseins, und als Probirstein
für die Richtigkeit ihrer Ergebnisse kann sie nichts andres als die Erfahrung
zu Hilfe ziehen, die auf Anschauung beruht und von der sinnlichen Wahrnehmung
anhebt. So hatte Kant als die erste unumgänglich notwendige Vorbedingung
für jede Metaphysik die Zergliederung des menschlichen Erkenntnisvermögens
hingestellt, und als unveräußerliche Bestandteile desselben die reinen Formen der
Anschauung, Zeit und Raum und die Funktionen des Denkens (Kategorien ge¬
nannt) nachgewiesen. Diese Formen und Kräfte oder Fähigkeiten, die a priori
dem menschlichen Geiste eigen sind, setzen uns allein in den Stand, nicht nur
ein Chaos ungeordneter Wahrnehmungen durch die Sinne aufzunehmen, sondern
bestimmte Gegenstände der Erfahrung zu erkennen. Da diese aber immer auf
Anschauung beruhen, so sind es nicht bloße Gedanken oder Phantasieprodukte
von uns (nicht Dinge an sich), sondern Gegenstände an sich, d. h. unabhängig
von der zufälligen Wahrnehmung eines Einzelnen, und für alle gleichmäßig er¬
kennbar, die einen gesunden Verstand haben. Ein Gegenstand der Erfahrung
ist kein bloßer Gedanke von uns, sondern von uns empfangen in den reinen
Formen der Sinnlichkeit, und durch Denken bestimmt als die zusammengefaßte
Einheit aller seiner Eigenschaften. Nur so ist es möglich, daß aus dem
Chaos verschiedner Thatsachen ein Kosmos, d. i. eine einheitlich geordnete Welt¬
anschauung wird.

Aus diesen grundlegenden Vorbedingungen für alle Metaphysik ergiebt sich
mit Notwendigkeit, daß die obersten Gesetze aller erfahrbaren Gegenstände ab¬
geleitet werden müssen aus den Gesetzen unsers eignen Anschauens und Denkens,
und wenn die Natur der Inbegriff aller Gegenstände möglicher Wahrnehmung
ist, so müssen die Naturgesetze den Gesetzen unsers Erkenntnisvermögens unter¬
worfen sein. Daher hatte Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft als
die obersten Grundsätze aller möglichen Erfahrung gefolgert: 1. Daß alle Er¬
scheinungen extensive Größen und daher den Gesetzen der Geometrie unterworfen
sein müssen; Atome können daher nie Gegenstände der Wahrnehmung sein.
2. Alle Erscheinungen haben einen Grad der Intensität und müssen deshalb
auch den Gesetzen der Arithmetik gehorchen; leere Räume können nie wahr¬
genommen werden. 3. Die Summe der Substanz in der Welt kann weder ver¬
mehrt noch vermindert werden. 4. Jede Veränderung in der Natur hat eine
Ursache, die ihr vorausgeht. 5. Alle Substanzen stehen in Wechselwirkung
untereinander. 6. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung über-


Das nachgelassene Werk Immanuel Kants.

Nun hatte Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik voll¬
ständig umgestaltet. Er hatte ein für allemal nachgewiesen, daß es thöricht
sei, als das Ziel der Untersuchung ein „Ding an sich" oder den letzten von unserm
eignen Geiste unabhängigen Grund der Welt hinzustellen. Wenn auch die Meta¬
physik eine Wissenschaft aus reinen Begriffen sein will und der Anschauung
entbehren zu können glaubt, so kann sie doch ihre Begriffe auf keine andre
Weise finden als auf Grund unsers eignen Bewußtseins, und als Probirstein
für die Richtigkeit ihrer Ergebnisse kann sie nichts andres als die Erfahrung
zu Hilfe ziehen, die auf Anschauung beruht und von der sinnlichen Wahrnehmung
anhebt. So hatte Kant als die erste unumgänglich notwendige Vorbedingung
für jede Metaphysik die Zergliederung des menschlichen Erkenntnisvermögens
hingestellt, und als unveräußerliche Bestandteile desselben die reinen Formen der
Anschauung, Zeit und Raum und die Funktionen des Denkens (Kategorien ge¬
nannt) nachgewiesen. Diese Formen und Kräfte oder Fähigkeiten, die a priori
dem menschlichen Geiste eigen sind, setzen uns allein in den Stand, nicht nur
ein Chaos ungeordneter Wahrnehmungen durch die Sinne aufzunehmen, sondern
bestimmte Gegenstände der Erfahrung zu erkennen. Da diese aber immer auf
Anschauung beruhen, so sind es nicht bloße Gedanken oder Phantasieprodukte
von uns (nicht Dinge an sich), sondern Gegenstände an sich, d. h. unabhängig
von der zufälligen Wahrnehmung eines Einzelnen, und für alle gleichmäßig er¬
kennbar, die einen gesunden Verstand haben. Ein Gegenstand der Erfahrung
ist kein bloßer Gedanke von uns, sondern von uns empfangen in den reinen
Formen der Sinnlichkeit, und durch Denken bestimmt als die zusammengefaßte
Einheit aller seiner Eigenschaften. Nur so ist es möglich, daß aus dem
Chaos verschiedner Thatsachen ein Kosmos, d. i. eine einheitlich geordnete Welt¬
anschauung wird.

Aus diesen grundlegenden Vorbedingungen für alle Metaphysik ergiebt sich
mit Notwendigkeit, daß die obersten Gesetze aller erfahrbaren Gegenstände ab¬
geleitet werden müssen aus den Gesetzen unsers eignen Anschauens und Denkens,
und wenn die Natur der Inbegriff aller Gegenstände möglicher Wahrnehmung
ist, so müssen die Naturgesetze den Gesetzen unsers Erkenntnisvermögens unter¬
worfen sein. Daher hatte Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft als
die obersten Grundsätze aller möglichen Erfahrung gefolgert: 1. Daß alle Er¬
scheinungen extensive Größen und daher den Gesetzen der Geometrie unterworfen
sein müssen; Atome können daher nie Gegenstände der Wahrnehmung sein.
2. Alle Erscheinungen haben einen Grad der Intensität und müssen deshalb
auch den Gesetzen der Arithmetik gehorchen; leere Räume können nie wahr¬
genommen werden. 3. Die Summe der Substanz in der Welt kann weder ver¬
mehrt noch vermindert werden. 4. Jede Veränderung in der Natur hat eine
Ursache, die ihr vorausgeht. 5. Alle Substanzen stehen in Wechselwirkung
untereinander. 6. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung über-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289383"/>
          <fw type="header" place="top"> Das nachgelassene Werk Immanuel Kants.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_864"> Nun hatte Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik voll¬<lb/>
ständig umgestaltet. Er hatte ein für allemal nachgewiesen, daß es thöricht<lb/>
sei, als das Ziel der Untersuchung ein &#x201E;Ding an sich" oder den letzten von unserm<lb/>
eignen Geiste unabhängigen Grund der Welt hinzustellen. Wenn auch die Meta¬<lb/>
physik eine Wissenschaft aus reinen Begriffen sein will und der Anschauung<lb/>
entbehren zu können glaubt, so kann sie doch ihre Begriffe auf keine andre<lb/>
Weise finden als auf Grund unsers eignen Bewußtseins, und als Probirstein<lb/>
für die Richtigkeit ihrer Ergebnisse kann sie nichts andres als die Erfahrung<lb/>
zu Hilfe ziehen, die auf Anschauung beruht und von der sinnlichen Wahrnehmung<lb/>
anhebt. So hatte Kant als die erste unumgänglich notwendige Vorbedingung<lb/>
für jede Metaphysik die Zergliederung des menschlichen Erkenntnisvermögens<lb/>
hingestellt, und als unveräußerliche Bestandteile desselben die reinen Formen der<lb/>
Anschauung, Zeit und Raum und die Funktionen des Denkens (Kategorien ge¬<lb/>
nannt) nachgewiesen. Diese Formen und Kräfte oder Fähigkeiten, die a priori<lb/>
dem menschlichen Geiste eigen sind, setzen uns allein in den Stand, nicht nur<lb/>
ein Chaos ungeordneter Wahrnehmungen durch die Sinne aufzunehmen, sondern<lb/>
bestimmte Gegenstände der Erfahrung zu erkennen. Da diese aber immer auf<lb/>
Anschauung beruhen, so sind es nicht bloße Gedanken oder Phantasieprodukte<lb/>
von uns (nicht Dinge an sich), sondern Gegenstände an sich, d. h. unabhängig<lb/>
von der zufälligen Wahrnehmung eines Einzelnen, und für alle gleichmäßig er¬<lb/>
kennbar, die einen gesunden Verstand haben. Ein Gegenstand der Erfahrung<lb/>
ist kein bloßer Gedanke von uns, sondern von uns empfangen in den reinen<lb/>
Formen der Sinnlichkeit, und durch Denken bestimmt als die zusammengefaßte<lb/>
Einheit aller seiner Eigenschaften. Nur so ist es möglich, daß aus dem<lb/>
Chaos verschiedner Thatsachen ein Kosmos, d. i. eine einheitlich geordnete Welt¬<lb/>
anschauung wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_865" next="#ID_866"> Aus diesen grundlegenden Vorbedingungen für alle Metaphysik ergiebt sich<lb/>
mit Notwendigkeit, daß die obersten Gesetze aller erfahrbaren Gegenstände ab¬<lb/>
geleitet werden müssen aus den Gesetzen unsers eignen Anschauens und Denkens,<lb/>
und wenn die Natur der Inbegriff aller Gegenstände möglicher Wahrnehmung<lb/>
ist, so müssen die Naturgesetze den Gesetzen unsers Erkenntnisvermögens unter¬<lb/>
worfen sein. Daher hatte Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft als<lb/>
die obersten Grundsätze aller möglichen Erfahrung gefolgert: 1. Daß alle Er¬<lb/>
scheinungen extensive Größen und daher den Gesetzen der Geometrie unterworfen<lb/>
sein müssen; Atome können daher nie Gegenstände der Wahrnehmung sein.<lb/>
2. Alle Erscheinungen haben einen Grad der Intensität und müssen deshalb<lb/>
auch den Gesetzen der Arithmetik gehorchen; leere Räume können nie wahr¬<lb/>
genommen werden. 3. Die Summe der Substanz in der Welt kann weder ver¬<lb/>
mehrt noch vermindert werden. 4. Jede Veränderung in der Natur hat eine<lb/>
Ursache, die ihr vorausgeht. 5. Alle Substanzen stehen in Wechselwirkung<lb/>
untereinander. 6. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung über-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0260] Das nachgelassene Werk Immanuel Kants. Nun hatte Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik voll¬ ständig umgestaltet. Er hatte ein für allemal nachgewiesen, daß es thöricht sei, als das Ziel der Untersuchung ein „Ding an sich" oder den letzten von unserm eignen Geiste unabhängigen Grund der Welt hinzustellen. Wenn auch die Meta¬ physik eine Wissenschaft aus reinen Begriffen sein will und der Anschauung entbehren zu können glaubt, so kann sie doch ihre Begriffe auf keine andre Weise finden als auf Grund unsers eignen Bewußtseins, und als Probirstein für die Richtigkeit ihrer Ergebnisse kann sie nichts andres als die Erfahrung zu Hilfe ziehen, die auf Anschauung beruht und von der sinnlichen Wahrnehmung anhebt. So hatte Kant als die erste unumgänglich notwendige Vorbedingung für jede Metaphysik die Zergliederung des menschlichen Erkenntnisvermögens hingestellt, und als unveräußerliche Bestandteile desselben die reinen Formen der Anschauung, Zeit und Raum und die Funktionen des Denkens (Kategorien ge¬ nannt) nachgewiesen. Diese Formen und Kräfte oder Fähigkeiten, die a priori dem menschlichen Geiste eigen sind, setzen uns allein in den Stand, nicht nur ein Chaos ungeordneter Wahrnehmungen durch die Sinne aufzunehmen, sondern bestimmte Gegenstände der Erfahrung zu erkennen. Da diese aber immer auf Anschauung beruhen, so sind es nicht bloße Gedanken oder Phantasieprodukte von uns (nicht Dinge an sich), sondern Gegenstände an sich, d. h. unabhängig von der zufälligen Wahrnehmung eines Einzelnen, und für alle gleichmäßig er¬ kennbar, die einen gesunden Verstand haben. Ein Gegenstand der Erfahrung ist kein bloßer Gedanke von uns, sondern von uns empfangen in den reinen Formen der Sinnlichkeit, und durch Denken bestimmt als die zusammengefaßte Einheit aller seiner Eigenschaften. Nur so ist es möglich, daß aus dem Chaos verschiedner Thatsachen ein Kosmos, d. i. eine einheitlich geordnete Welt¬ anschauung wird. Aus diesen grundlegenden Vorbedingungen für alle Metaphysik ergiebt sich mit Notwendigkeit, daß die obersten Gesetze aller erfahrbaren Gegenstände ab¬ geleitet werden müssen aus den Gesetzen unsers eignen Anschauens und Denkens, und wenn die Natur der Inbegriff aller Gegenstände möglicher Wahrnehmung ist, so müssen die Naturgesetze den Gesetzen unsers Erkenntnisvermögens unter¬ worfen sein. Daher hatte Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft als die obersten Grundsätze aller möglichen Erfahrung gefolgert: 1. Daß alle Er¬ scheinungen extensive Größen und daher den Gesetzen der Geometrie unterworfen sein müssen; Atome können daher nie Gegenstände der Wahrnehmung sein. 2. Alle Erscheinungen haben einen Grad der Intensität und müssen deshalb auch den Gesetzen der Arithmetik gehorchen; leere Räume können nie wahr¬ genommen werden. 3. Die Summe der Substanz in der Welt kann weder ver¬ mehrt noch vermindert werden. 4. Jede Veränderung in der Natur hat eine Ursache, die ihr vorausgeht. 5. Alle Substanzen stehen in Wechselwirkung untereinander. 6. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung über-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/260
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/260>, abgerufen am 22.07.2024.