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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene lVerk Zminannel Uants.

Die Philosophen aber werden wahrscheinlich zum Teil sogar mit bösem Willen
der Sache gegenüber treten, weil sie fürchten, daß ihr eigner Nimbus dabei
sich verlieren könnte. Wie wenig wirksame Unterstützung der auch von mir
versuchten Erneuerung der echten Kantstudicn zu teil geworden ist, haben wir
reichlich erfahren. Aber wie es im Liede heißt, das rechte Burschenherz kann
nimmermehr erkalten, zumal wo es den Kampf für die Wahrheit gilt. Und
so will ich denn nochmals versuchen, die Aufmerksamkeit auf die Sache zu lenken,
indem ich kurz den Inhalt des Ganzen skizzire.

Da sich die Handschrift, wie man auch aus den Veröffentlichungen von
Ncicke (Altpreußische Monatsschrift Bd. XIX ff.) ersehen kann, durchaus in
ungeordnetem Zustande befindet, so hat es der Herausgeber für nötig gehalten,
den Inhalt des Ganzen dadurch übersichtlich zu machen, daß er auf der einen
Seite seine eigne populär-wissenschaftliche Darstellung und auf der andern da¬
neben fortlaufend nummerirte Belegstellen aus dem Original abdrucken ließ.
Gegen den Schluß hin verzichtete er an vielen Stellen auf die eigne Dar¬
stellung zu Gunsten der ursprünglichen Worte Kants. In dieser Form ist das
Ganze nicht leicht zu lesen, doch das darf man von einem tief philosophischen
Werke überhaupt nicht erwarten. Die Darstellung Krauses ist etwas oratorisch
in der Weise eines lebhaft Vortragenden gehalten, während der Kantische Text
immer den Eindruck ruhigster Überlegung macht, nur daß man an den man¬
cherlei Schreib- und Jnterpunktionsfehlern sieht, daß ihm die letzte Überar¬
beitung gefehlt hat. Das Aneinanderreihen und Hineindrängen vieler Begriffe
in einen Satz erinnert lebhaft an die frühern Arbeiten Kants über natur¬
wissenschaftliche und philosophische Gegenstände, so lange es ihm weniger auf
die Form der Darstellung als auf den Inhalt derselben ankam.

In der Vorrede setzt Kant auseinander, welche Aufgaben die Metaphysik
und welche die Physik zu lösen habe, und daß die Vernunft einen Übergang
von dem einen Gebiet zum andern fordere. Unter dem Namen Physik begreift
er die ganze Naturwissenschaft im weitesten Sinne, die Chemie und Physiologie
mit eingeschlossen. Sie sammelt Thatsachen in unbegrenzter Fülle, indem sie
von der sinnlichen Wahrnehmung ausgeht, darauf Beobachtungen anstellt, diese
dem Experiment unterwirft, um schließlich sichere Erfahrung zu gewinnen. Da
aber die verschiedenen Sinne, Gesicht, Gehör. Gefühl u. s. w., uns so verschiedene
Gebiete von Erscheinungen liefern, so gelingt es der empirischen Methode, der
Beobachtung allein nicht, zu einem einheitlichen, d. h. echt wissenschaftlichen
System der Erfahrung zu kommen. Aus einem Aggregat von unzähligen ver¬
schiedenen Thatsachen der Beobachtung kann niemals eine einheitliche Erfahrung
hervorgehen, wenn man nicht die Bedingungen der Erfahrung überhaupt in
Betracht zieht und diese mit den Thatsachen der Erfahrung in Verbindung setzt.
Nur so, d. h. in Zusammenhang mit der Metaphysik, kann die wissenschaftliche
Einheit der Erfahrung gefunden werden.


Das nachgelassene lVerk Zminannel Uants.

Die Philosophen aber werden wahrscheinlich zum Teil sogar mit bösem Willen
der Sache gegenüber treten, weil sie fürchten, daß ihr eigner Nimbus dabei
sich verlieren könnte. Wie wenig wirksame Unterstützung der auch von mir
versuchten Erneuerung der echten Kantstudicn zu teil geworden ist, haben wir
reichlich erfahren. Aber wie es im Liede heißt, das rechte Burschenherz kann
nimmermehr erkalten, zumal wo es den Kampf für die Wahrheit gilt. Und
so will ich denn nochmals versuchen, die Aufmerksamkeit auf die Sache zu lenken,
indem ich kurz den Inhalt des Ganzen skizzire.

Da sich die Handschrift, wie man auch aus den Veröffentlichungen von
Ncicke (Altpreußische Monatsschrift Bd. XIX ff.) ersehen kann, durchaus in
ungeordnetem Zustande befindet, so hat es der Herausgeber für nötig gehalten,
den Inhalt des Ganzen dadurch übersichtlich zu machen, daß er auf der einen
Seite seine eigne populär-wissenschaftliche Darstellung und auf der andern da¬
neben fortlaufend nummerirte Belegstellen aus dem Original abdrucken ließ.
Gegen den Schluß hin verzichtete er an vielen Stellen auf die eigne Dar¬
stellung zu Gunsten der ursprünglichen Worte Kants. In dieser Form ist das
Ganze nicht leicht zu lesen, doch das darf man von einem tief philosophischen
Werke überhaupt nicht erwarten. Die Darstellung Krauses ist etwas oratorisch
in der Weise eines lebhaft Vortragenden gehalten, während der Kantische Text
immer den Eindruck ruhigster Überlegung macht, nur daß man an den man¬
cherlei Schreib- und Jnterpunktionsfehlern sieht, daß ihm die letzte Überar¬
beitung gefehlt hat. Das Aneinanderreihen und Hineindrängen vieler Begriffe
in einen Satz erinnert lebhaft an die frühern Arbeiten Kants über natur¬
wissenschaftliche und philosophische Gegenstände, so lange es ihm weniger auf
die Form der Darstellung als auf den Inhalt derselben ankam.

In der Vorrede setzt Kant auseinander, welche Aufgaben die Metaphysik
und welche die Physik zu lösen habe, und daß die Vernunft einen Übergang
von dem einen Gebiet zum andern fordere. Unter dem Namen Physik begreift
er die ganze Naturwissenschaft im weitesten Sinne, die Chemie und Physiologie
mit eingeschlossen. Sie sammelt Thatsachen in unbegrenzter Fülle, indem sie
von der sinnlichen Wahrnehmung ausgeht, darauf Beobachtungen anstellt, diese
dem Experiment unterwirft, um schließlich sichere Erfahrung zu gewinnen. Da
aber die verschiedenen Sinne, Gesicht, Gehör. Gefühl u. s. w., uns so verschiedene
Gebiete von Erscheinungen liefern, so gelingt es der empirischen Methode, der
Beobachtung allein nicht, zu einem einheitlichen, d. h. echt wissenschaftlichen
System der Erfahrung zu kommen. Aus einem Aggregat von unzähligen ver¬
schiedenen Thatsachen der Beobachtung kann niemals eine einheitliche Erfahrung
hervorgehen, wenn man nicht die Bedingungen der Erfahrung überhaupt in
Betracht zieht und diese mit den Thatsachen der Erfahrung in Verbindung setzt.
Nur so, d. h. in Zusammenhang mit der Metaphysik, kann die wissenschaftliche
Einheit der Erfahrung gefunden werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/259>, abgerufen am 24.08.2024.