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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene Werk I'mimnuel Acmts,

fophie ab, in den Hörsälen der Physiker und Chemiker wie der Physiologen
wurde geradezu gewarnt vor der Beschäftigung mit philosophischen Studien;
man glaubte an die Stelle aller Metaphysik den englischen Empirismus nach
Baco und Hume setzen zu können, und selbst in der Berliner Akademie hörten
wir von berufenster Seite in einer Festrede die Ermahnung für die Natur-
wissenschaft aussprechen, sich jeder philosophischen Spekulation zu enthalten, weil
selbst bei demjenigen Philosophen, der noch am meisten von der Natmwissen-
schaft verstanden habe, bei Kant, die Spekulation völlig unfruchtbar geblieben sei.

Wenn so die deutsche Philosophie öffentlich fast dem Hasse und der Ver¬
achtung preisgegeben wurde, so war das Los der offiziellen Vertreter derselben
nicht gerade beneidenswert. Das Traurigste an diesem Verlaufe der Dinge
aber war und ist noch heute, daß infolge der bodenlosen Spekulation der so¬
genannten großen Idealisten fortwährend der Vorwurf gegen Kant erhoben
wurde und noch erhoben wird, daß er uns den Zugang zur Erkenntnis des
Wirklichen in der Natur verschlossen habe. Kant hatte es selbst schon erfahren,
welche Mißverständnisse aus seiner Kritik der reinen Vernunft entsprangen;
denn sehr bald nach dem Erscheinen des großen Werkes wurden schon dieselben
Vorwürfe gegen ihn laut. Das veranlaßte ihn zunächst zu mehreren kleinen
Gegenschriften und einigen Zusätzen in der zweiten Auflage seiner Kritik, dann
aber ging er daran, die Prinzipien der Erfahrung, die er gefunden hatte, auf
die Naturwissenschaft im weitesten Umfange anzuwenden, wodurch die Vorwürfe
seiner kurzsichtigen Gegner ein für allemal ins Nichts zurückgewiesen werden sollten.
Dieses große Werk hat er leider nicht mehr druckfertig vollenden könne", wenn
es auch dem Inhalt nach vollständig ausgearbeitet wurde. Es blieb verborgen,
bis im Jahre 1882 die ersten Bogen dnrch Rcicke veröffentlicht wurden. Jene
kleineren Abwehrversuche aber, die Kant selber veröffentlichte, brachten ihm bei
unsern großen Philosophen nur den Ruf ein, daß er sich selbst widersprochen
und aus Furcht, die reine Wahrheit vor den Menschen zu sagen, seine eignen
Ansichten teils verschwiegen, teils entstellt habe, bis er überhaupt vor Alters¬
schwäche nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sei. Das ist nicht etwa von er¬
bitterten Gegnern, sondern von solchen Philosophen ausgesprochen, die sich, wie
Schopenhauer und Kuno Fischer, ganz besonders rühmen, seine Jünger und
Verehrer zu sein.

So sind denn die Aussichten, unter denen die Darstellung des nachge¬
lassenen Kantwerkes erscheint, vorläufig sehr ungünstig. Ganze Berge von
Vorurteilen und Mißverständnissen müssen überwunden werden, ehe das richtige
Verständnis gelingen kann. Die Naturforscher, denen es die größten Dienste
leisten will, werden sich schwer dazu entschließen, es zu lesen, weil sie in der
Regel nicht die geringste philosophische Vorbildung haben, und gar nicht
wissen, wie dringend nötig ihnen ein sicherer Leitfaden wäre, um sich aus dem
Chaos der Hypothesen, die sich jeder nach Belieben macht, herauszufinden.


Das nachgelassene Werk I'mimnuel Acmts,

fophie ab, in den Hörsälen der Physiker und Chemiker wie der Physiologen
wurde geradezu gewarnt vor der Beschäftigung mit philosophischen Studien;
man glaubte an die Stelle aller Metaphysik den englischen Empirismus nach
Baco und Hume setzen zu können, und selbst in der Berliner Akademie hörten
wir von berufenster Seite in einer Festrede die Ermahnung für die Natur-
wissenschaft aussprechen, sich jeder philosophischen Spekulation zu enthalten, weil
selbst bei demjenigen Philosophen, der noch am meisten von der Natmwissen-
schaft verstanden habe, bei Kant, die Spekulation völlig unfruchtbar geblieben sei.

Wenn so die deutsche Philosophie öffentlich fast dem Hasse und der Ver¬
achtung preisgegeben wurde, so war das Los der offiziellen Vertreter derselben
nicht gerade beneidenswert. Das Traurigste an diesem Verlaufe der Dinge
aber war und ist noch heute, daß infolge der bodenlosen Spekulation der so¬
genannten großen Idealisten fortwährend der Vorwurf gegen Kant erhoben
wurde und noch erhoben wird, daß er uns den Zugang zur Erkenntnis des
Wirklichen in der Natur verschlossen habe. Kant hatte es selbst schon erfahren,
welche Mißverständnisse aus seiner Kritik der reinen Vernunft entsprangen;
denn sehr bald nach dem Erscheinen des großen Werkes wurden schon dieselben
Vorwürfe gegen ihn laut. Das veranlaßte ihn zunächst zu mehreren kleinen
Gegenschriften und einigen Zusätzen in der zweiten Auflage seiner Kritik, dann
aber ging er daran, die Prinzipien der Erfahrung, die er gefunden hatte, auf
die Naturwissenschaft im weitesten Umfange anzuwenden, wodurch die Vorwürfe
seiner kurzsichtigen Gegner ein für allemal ins Nichts zurückgewiesen werden sollten.
Dieses große Werk hat er leider nicht mehr druckfertig vollenden könne», wenn
es auch dem Inhalt nach vollständig ausgearbeitet wurde. Es blieb verborgen,
bis im Jahre 1882 die ersten Bogen dnrch Rcicke veröffentlicht wurden. Jene
kleineren Abwehrversuche aber, die Kant selber veröffentlichte, brachten ihm bei
unsern großen Philosophen nur den Ruf ein, daß er sich selbst widersprochen
und aus Furcht, die reine Wahrheit vor den Menschen zu sagen, seine eignen
Ansichten teils verschwiegen, teils entstellt habe, bis er überhaupt vor Alters¬
schwäche nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sei. Das ist nicht etwa von er¬
bitterten Gegnern, sondern von solchen Philosophen ausgesprochen, die sich, wie
Schopenhauer und Kuno Fischer, ganz besonders rühmen, seine Jünger und
Verehrer zu sein.

So sind denn die Aussichten, unter denen die Darstellung des nachge¬
lassenen Kantwerkes erscheint, vorläufig sehr ungünstig. Ganze Berge von
Vorurteilen und Mißverständnissen müssen überwunden werden, ehe das richtige
Verständnis gelingen kann. Die Naturforscher, denen es die größten Dienste
leisten will, werden sich schwer dazu entschließen, es zu lesen, weil sie in der
Regel nicht die geringste philosophische Vorbildung haben, und gar nicht
wissen, wie dringend nötig ihnen ein sicherer Leitfaden wäre, um sich aus dem
Chaos der Hypothesen, die sich jeder nach Belieben macht, herauszufinden.


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[0258] Das nachgelassene Werk I'mimnuel Acmts, fophie ab, in den Hörsälen der Physiker und Chemiker wie der Physiologen wurde geradezu gewarnt vor der Beschäftigung mit philosophischen Studien; man glaubte an die Stelle aller Metaphysik den englischen Empirismus nach Baco und Hume setzen zu können, und selbst in der Berliner Akademie hörten wir von berufenster Seite in einer Festrede die Ermahnung für die Natur- wissenschaft aussprechen, sich jeder philosophischen Spekulation zu enthalten, weil selbst bei demjenigen Philosophen, der noch am meisten von der Natmwissen- schaft verstanden habe, bei Kant, die Spekulation völlig unfruchtbar geblieben sei. Wenn so die deutsche Philosophie öffentlich fast dem Hasse und der Ver¬ achtung preisgegeben wurde, so war das Los der offiziellen Vertreter derselben nicht gerade beneidenswert. Das Traurigste an diesem Verlaufe der Dinge aber war und ist noch heute, daß infolge der bodenlosen Spekulation der so¬ genannten großen Idealisten fortwährend der Vorwurf gegen Kant erhoben wurde und noch erhoben wird, daß er uns den Zugang zur Erkenntnis des Wirklichen in der Natur verschlossen habe. Kant hatte es selbst schon erfahren, welche Mißverständnisse aus seiner Kritik der reinen Vernunft entsprangen; denn sehr bald nach dem Erscheinen des großen Werkes wurden schon dieselben Vorwürfe gegen ihn laut. Das veranlaßte ihn zunächst zu mehreren kleinen Gegenschriften und einigen Zusätzen in der zweiten Auflage seiner Kritik, dann aber ging er daran, die Prinzipien der Erfahrung, die er gefunden hatte, auf die Naturwissenschaft im weitesten Umfange anzuwenden, wodurch die Vorwürfe seiner kurzsichtigen Gegner ein für allemal ins Nichts zurückgewiesen werden sollten. Dieses große Werk hat er leider nicht mehr druckfertig vollenden könne», wenn es auch dem Inhalt nach vollständig ausgearbeitet wurde. Es blieb verborgen, bis im Jahre 1882 die ersten Bogen dnrch Rcicke veröffentlicht wurden. Jene kleineren Abwehrversuche aber, die Kant selber veröffentlichte, brachten ihm bei unsern großen Philosophen nur den Ruf ein, daß er sich selbst widersprochen und aus Furcht, die reine Wahrheit vor den Menschen zu sagen, seine eignen Ansichten teils verschwiegen, teils entstellt habe, bis er überhaupt vor Alters¬ schwäche nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sei. Das ist nicht etwa von er¬ bitterten Gegnern, sondern von solchen Philosophen ausgesprochen, die sich, wie Schopenhauer und Kuno Fischer, ganz besonders rühmen, seine Jünger und Verehrer zu sein. So sind denn die Aussichten, unter denen die Darstellung des nachge¬ lassenen Kantwerkes erscheint, vorläufig sehr ungünstig. Ganze Berge von Vorurteilen und Mißverständnissen müssen überwunden werden, ehe das richtige Verständnis gelingen kann. Die Naturforscher, denen es die größten Dienste leisten will, werden sich schwer dazu entschließen, es zu lesen, weil sie in der Regel nicht die geringste philosophische Vorbildung haben, und gar nicht wissen, wie dringend nötig ihnen ein sicherer Leitfaden wäre, um sich aus dem Chaos der Hypothesen, die sich jeder nach Belieben macht, herauszufinden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/258>, abgerufen am 24.08.2024.