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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das nachgelassene Werk Immanuel Kants.

Nichtich, d. h. die Welt, geschaffen habe. So erreichte der idealistische Schwärmer
wirklich, was er wollte. Man glaubte ihm, was er behauptete, daß er den
eigentlichen Sinn Kants besser verstanden habe, als dieser sich selbst, und das
Fichtesche System die folgerichtige Weiterentwicklung des Kantischen sei. Aber
nun war die reale Welt im Sinne der Philosophen in bloßen Schein aufgelöst.
Kant sollte diese Auflösung begonnen haben, da er das "Ding an sich" für un¬
erkennbar erklärt habe, und Erscheinung war im Sinne seiner Nachfolger nichts
als oberflächlicher Schein. Nun schien es den Gelehrten, als wäre uns das
Innere der Natur überhaupt verschlossen, als sollte uns durch die Philosophie
verboten werden, irgend etwas Festes, Wirkliches zu erkennen; nur die Ober¬
fläche der Dinge, ihr die Sinne täuschender Schein sollte uns zugänglich sein.
In diesem Sinne haben die berühmten Wortführer der Philosophie von Fichte,
Schelling und Hegel bis auf unsre Tage alle gelehrt. Weil Kant unsrer Er¬
kenntnis das Wirkliche in der Welt verschlossen habe, fühlten alle das Bedürfnis,
andre Wege zu suchen, um doch auf irgend eine Weise hinter das Geheimnis
zu kommen, und den eigentlichen Grund der Welt, das wahre "Ding an sich,"
zu erkennen. Anfänglich gaben sie ihm schönere, volltönendere Namen, wie das
Absolute, oder den Weltgeist, den Realgruud der Welt, den UrWillen, das Un¬
bewußte u. a. in., bis wir in neuester Zeit wieder als Ziel aller Zukunfts-
philosophie die Erkenntnis der Entwicklung des "Dinges an sich" haben an¬
preisen hören.

Selbstverständlich gab es für den ernsten und nüchternen Denker, der alle
Schwärmerei vermeiden wollte, keine Verbindung zwischen der Naturwissenschaft
und einer solchen bodenlosen Philosophie. Wenn gleichwohl von berühmten
Philosophieprofessoren Gewaltiges in Naturphilosophie geleistet wurde, so kann
man heutzutage nur darüber erstaunen, wie dergleichen unverständliche Phrasen
von den Zeitgenossen haben bewundert und für tiefsinnige Weisheit gehalten
werden können. Aber was war in Deutschland nicht alles möglich, so lange
wir ein unpolitisches und unpraktisches Volk waren! Alexander von Humboldt
hat sich bekanntlich mit der Philosophie seiner Zeitgenossen niemals beschäftigt,
weil er sie für die Erfahrungswissenschaften mit vollem Rechte für unfruchtbar
hielt. Nur über Kants Kritik der reinen Vernunft äußerte er gelegentlich, daß
er sie als eine gute Verstandesgymnastik schätze. Daß sie aber thatsächlich der
Naturwissenschaft unter die Arme greifen könne, dachte er nicht. Man kannte
sie ja bis auf unsre Tage von keinem andern Standpunkte als dem der be¬
rühmten Professorenphilosophie. Die Naturforscher wollten wirkliche Thatsachen
erfahren und freuten sich auf diesem Gebiete fortschreitender Erfolge. Dazu
schien keine Philosophie helfen zu können, sondern im Gegenteil, so wie sie sich
in Deutschland entwickelt hatte, schien sie nur als Hemmnis zu wirken, das die
Fortschritte der Erfahrung zurückhielt. Sobald der Nimbus Schellings und
Hegels zu erblassen begann, wandte sich die Naturwissenschaft von aller Philo-


Grenzbotm III. 1LL3. 32
Das nachgelassene Werk Immanuel Kants.

Nichtich, d. h. die Welt, geschaffen habe. So erreichte der idealistische Schwärmer
wirklich, was er wollte. Man glaubte ihm, was er behauptete, daß er den
eigentlichen Sinn Kants besser verstanden habe, als dieser sich selbst, und das
Fichtesche System die folgerichtige Weiterentwicklung des Kantischen sei. Aber
nun war die reale Welt im Sinne der Philosophen in bloßen Schein aufgelöst.
Kant sollte diese Auflösung begonnen haben, da er das „Ding an sich" für un¬
erkennbar erklärt habe, und Erscheinung war im Sinne seiner Nachfolger nichts
als oberflächlicher Schein. Nun schien es den Gelehrten, als wäre uns das
Innere der Natur überhaupt verschlossen, als sollte uns durch die Philosophie
verboten werden, irgend etwas Festes, Wirkliches zu erkennen; nur die Ober¬
fläche der Dinge, ihr die Sinne täuschender Schein sollte uns zugänglich sein.
In diesem Sinne haben die berühmten Wortführer der Philosophie von Fichte,
Schelling und Hegel bis auf unsre Tage alle gelehrt. Weil Kant unsrer Er¬
kenntnis das Wirkliche in der Welt verschlossen habe, fühlten alle das Bedürfnis,
andre Wege zu suchen, um doch auf irgend eine Weise hinter das Geheimnis
zu kommen, und den eigentlichen Grund der Welt, das wahre „Ding an sich,"
zu erkennen. Anfänglich gaben sie ihm schönere, volltönendere Namen, wie das
Absolute, oder den Weltgeist, den Realgruud der Welt, den UrWillen, das Un¬
bewußte u. a. in., bis wir in neuester Zeit wieder als Ziel aller Zukunfts-
philosophie die Erkenntnis der Entwicklung des „Dinges an sich" haben an¬
preisen hören.

Selbstverständlich gab es für den ernsten und nüchternen Denker, der alle
Schwärmerei vermeiden wollte, keine Verbindung zwischen der Naturwissenschaft
und einer solchen bodenlosen Philosophie. Wenn gleichwohl von berühmten
Philosophieprofessoren Gewaltiges in Naturphilosophie geleistet wurde, so kann
man heutzutage nur darüber erstaunen, wie dergleichen unverständliche Phrasen
von den Zeitgenossen haben bewundert und für tiefsinnige Weisheit gehalten
werden können. Aber was war in Deutschland nicht alles möglich, so lange
wir ein unpolitisches und unpraktisches Volk waren! Alexander von Humboldt
hat sich bekanntlich mit der Philosophie seiner Zeitgenossen niemals beschäftigt,
weil er sie für die Erfahrungswissenschaften mit vollem Rechte für unfruchtbar
hielt. Nur über Kants Kritik der reinen Vernunft äußerte er gelegentlich, daß
er sie als eine gute Verstandesgymnastik schätze. Daß sie aber thatsächlich der
Naturwissenschaft unter die Arme greifen könne, dachte er nicht. Man kannte
sie ja bis auf unsre Tage von keinem andern Standpunkte als dem der be¬
rühmten Professorenphilosophie. Die Naturforscher wollten wirkliche Thatsachen
erfahren und freuten sich auf diesem Gebiete fortschreitender Erfolge. Dazu
schien keine Philosophie helfen zu können, sondern im Gegenteil, so wie sie sich
in Deutschland entwickelt hatte, schien sie nur als Hemmnis zu wirken, das die
Fortschritte der Erfahrung zurückhielt. Sobald der Nimbus Schellings und
Hegels zu erblassen begann, wandte sich die Naturwissenschaft von aller Philo-


Grenzbotm III. 1LL3. 32
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[0257] Das nachgelassene Werk Immanuel Kants. Nichtich, d. h. die Welt, geschaffen habe. So erreichte der idealistische Schwärmer wirklich, was er wollte. Man glaubte ihm, was er behauptete, daß er den eigentlichen Sinn Kants besser verstanden habe, als dieser sich selbst, und das Fichtesche System die folgerichtige Weiterentwicklung des Kantischen sei. Aber nun war die reale Welt im Sinne der Philosophen in bloßen Schein aufgelöst. Kant sollte diese Auflösung begonnen haben, da er das „Ding an sich" für un¬ erkennbar erklärt habe, und Erscheinung war im Sinne seiner Nachfolger nichts als oberflächlicher Schein. Nun schien es den Gelehrten, als wäre uns das Innere der Natur überhaupt verschlossen, als sollte uns durch die Philosophie verboten werden, irgend etwas Festes, Wirkliches zu erkennen; nur die Ober¬ fläche der Dinge, ihr die Sinne täuschender Schein sollte uns zugänglich sein. In diesem Sinne haben die berühmten Wortführer der Philosophie von Fichte, Schelling und Hegel bis auf unsre Tage alle gelehrt. Weil Kant unsrer Er¬ kenntnis das Wirkliche in der Welt verschlossen habe, fühlten alle das Bedürfnis, andre Wege zu suchen, um doch auf irgend eine Weise hinter das Geheimnis zu kommen, und den eigentlichen Grund der Welt, das wahre „Ding an sich," zu erkennen. Anfänglich gaben sie ihm schönere, volltönendere Namen, wie das Absolute, oder den Weltgeist, den Realgruud der Welt, den UrWillen, das Un¬ bewußte u. a. in., bis wir in neuester Zeit wieder als Ziel aller Zukunfts- philosophie die Erkenntnis der Entwicklung des „Dinges an sich" haben an¬ preisen hören. Selbstverständlich gab es für den ernsten und nüchternen Denker, der alle Schwärmerei vermeiden wollte, keine Verbindung zwischen der Naturwissenschaft und einer solchen bodenlosen Philosophie. Wenn gleichwohl von berühmten Philosophieprofessoren Gewaltiges in Naturphilosophie geleistet wurde, so kann man heutzutage nur darüber erstaunen, wie dergleichen unverständliche Phrasen von den Zeitgenossen haben bewundert und für tiefsinnige Weisheit gehalten werden können. Aber was war in Deutschland nicht alles möglich, so lange wir ein unpolitisches und unpraktisches Volk waren! Alexander von Humboldt hat sich bekanntlich mit der Philosophie seiner Zeitgenossen niemals beschäftigt, weil er sie für die Erfahrungswissenschaften mit vollem Rechte für unfruchtbar hielt. Nur über Kants Kritik der reinen Vernunft äußerte er gelegentlich, daß er sie als eine gute Verstandesgymnastik schätze. Daß sie aber thatsächlich der Naturwissenschaft unter die Arme greifen könne, dachte er nicht. Man kannte sie ja bis auf unsre Tage von keinem andern Standpunkte als dem der be¬ rühmten Professorenphilosophie. Die Naturforscher wollten wirkliche Thatsachen erfahren und freuten sich auf diesem Gebiete fortschreitender Erfolge. Dazu schien keine Philosophie helfen zu können, sondern im Gegenteil, so wie sie sich in Deutschland entwickelt hatte, schien sie nur als Hemmnis zu wirken, das die Fortschritte der Erfahrung zurückhielt. Sobald der Nimbus Schellings und Hegels zu erblassen begann, wandte sich die Naturwissenschaft von aller Philo- Grenzbotm III. 1LL3. 32

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/257>, abgerufen am 22.07.2024.