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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Die Kriegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner.

ausnutzen. Wenn Rußland und Frankreich im Verlaufe eines lange dauernden
Kampfes allmählich sehr große Massen von Truppen auf die Beine zu bringen
vermögen, so ist es anderseits nicht schwierig, nachzuweisen, daß die Überlegenheit
der Zahl in den ersten Wochen, vielleicht auch Monaten des Krieges auf Seiten
des Dreibundes sein würde, wie dieser sich in der glücklichen Verfassung be¬
findet, rascher mobil machen zu können und dann mit Sicherheit den Aufmarsch
der einzelnen Heeresteile zu vollziehen imstande ist. Unter solchen Verhältnissen
ist es aber wahrscheinlich, daß die ersten Zusammenstöße der Verbündeten mit
den Feinden zu Niederlagen der letztern führen würden, dann würde die numerische
Überlegenheit der Verbündeten selbstverständlich wenigstens noch einige Zeit fort¬
dauern, und inzwischen würden neuere Einrichtungen bewirken, daß sie dann noch
länger fortbestünde. Der geniale Griff, den die deutsche Regierung und Heeres¬
leitung mit der Abänderung der Wehrverfassung gethan hat, hat für das Reich
den Grund zu einer wesentlichen Ergänzung der Feldarmee gelegt, und das
Landsturmgesetz in Österreich und Ungarn wird ähnliches zur Folge haben und
im Vereine mit jener Maßregel beinahe so viel bedeuten, als ob sich im Kriegs¬
falle eine vierte Großmacht mit ihren Streitkräften dem Dreibunde anzuschließen
versprochen hätte. Auch wenn wir die Wahrscheinlichkeit, daß Rumänien, Serbien
und Bulgarien sowie die Türkei bei Ausbruch eines Krieges zwischen Rußland
einerseits und den beiden mitteleuropäischen Mächten anderseits mindestens eine
drohende Haltung gegen das Zarenreich annehmen würden, und die immerhin
nicht undenkbare Möglichkeit eines Anschlusses Englands an den Bund und
einer Gefährdung der russischen Küsten durch eine englische Flotte nicht in
Rechnung bringen, würde Nußland auf dem Kriegsschauplatze in seinen west¬
lichen Provinzen kaum mehr als 54 Infanterie- und 15 Kavalleriedivisionen
bereitstellen können. Österreich-Ungarn aber würde, wenn es noch einige Zeit
zur weitern Organisation und Ausrüstung seiner Wehrkräfte behält, 32 Linien-,
13 Landwehr- und 6 bis 7 Neservedivisionen, also im ganzen 52 bis 53 Di¬
visionen Infanterie und 6 bis 7 Divisionen Reiterei mobil machen können und
dann immer noch über die Landsturmreserve, darunter 172 im Frieden vorbe¬
reitete Auszugsbataillone und 90 Schwadronen, verfügen können. Dem deutschen
Reiche würde es nicht unmöglich sein, sofort die Hälfte und allmählich ungefähr
zwei Drittel dieser Streitkräfte nach dem östlichen Kriegsschauplatze zu senden.
Die Überlegenheit der Zahl nach wäre also hier umso mehr gesichert, als Ru߬
land im Weichselgebiete und dem ganzen Polen überhaupt während der ersten
zwanzig bis vierundzwanzig Tage nach Beginn der Feindseligkeiten nicht wohl
mehr als 33 Divisionen Infanterie und 8 bis 9 Divisionen Kavallerie ver¬
sammeln kann. Es ist infolge dessen nicht zu begreifen, wenn Militärschriftsteller
wie der Verfasser der im ersten Abschnitte dieser Betrachtung erwähnten Schrift
"Der europäische Koalitionskrieg" der Meinung sein können, der Oberbefehls¬
haber des deutsch-österreichischen Bundesheeres werde hier, an der Westgrenze


Grenzboten III. 1888. 29
Die Kriegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner.

ausnutzen. Wenn Rußland und Frankreich im Verlaufe eines lange dauernden
Kampfes allmählich sehr große Massen von Truppen auf die Beine zu bringen
vermögen, so ist es anderseits nicht schwierig, nachzuweisen, daß die Überlegenheit
der Zahl in den ersten Wochen, vielleicht auch Monaten des Krieges auf Seiten
des Dreibundes sein würde, wie dieser sich in der glücklichen Verfassung be¬
findet, rascher mobil machen zu können und dann mit Sicherheit den Aufmarsch
der einzelnen Heeresteile zu vollziehen imstande ist. Unter solchen Verhältnissen
ist es aber wahrscheinlich, daß die ersten Zusammenstöße der Verbündeten mit
den Feinden zu Niederlagen der letztern führen würden, dann würde die numerische
Überlegenheit der Verbündeten selbstverständlich wenigstens noch einige Zeit fort¬
dauern, und inzwischen würden neuere Einrichtungen bewirken, daß sie dann noch
länger fortbestünde. Der geniale Griff, den die deutsche Regierung und Heeres¬
leitung mit der Abänderung der Wehrverfassung gethan hat, hat für das Reich
den Grund zu einer wesentlichen Ergänzung der Feldarmee gelegt, und das
Landsturmgesetz in Österreich und Ungarn wird ähnliches zur Folge haben und
im Vereine mit jener Maßregel beinahe so viel bedeuten, als ob sich im Kriegs¬
falle eine vierte Großmacht mit ihren Streitkräften dem Dreibunde anzuschließen
versprochen hätte. Auch wenn wir die Wahrscheinlichkeit, daß Rumänien, Serbien
und Bulgarien sowie die Türkei bei Ausbruch eines Krieges zwischen Rußland
einerseits und den beiden mitteleuropäischen Mächten anderseits mindestens eine
drohende Haltung gegen das Zarenreich annehmen würden, und die immerhin
nicht undenkbare Möglichkeit eines Anschlusses Englands an den Bund und
einer Gefährdung der russischen Küsten durch eine englische Flotte nicht in
Rechnung bringen, würde Nußland auf dem Kriegsschauplatze in seinen west¬
lichen Provinzen kaum mehr als 54 Infanterie- und 15 Kavalleriedivisionen
bereitstellen können. Österreich-Ungarn aber würde, wenn es noch einige Zeit
zur weitern Organisation und Ausrüstung seiner Wehrkräfte behält, 32 Linien-,
13 Landwehr- und 6 bis 7 Neservedivisionen, also im ganzen 52 bis 53 Di¬
visionen Infanterie und 6 bis 7 Divisionen Reiterei mobil machen können und
dann immer noch über die Landsturmreserve, darunter 172 im Frieden vorbe¬
reitete Auszugsbataillone und 90 Schwadronen, verfügen können. Dem deutschen
Reiche würde es nicht unmöglich sein, sofort die Hälfte und allmählich ungefähr
zwei Drittel dieser Streitkräfte nach dem östlichen Kriegsschauplatze zu senden.
Die Überlegenheit der Zahl nach wäre also hier umso mehr gesichert, als Ru߬
land im Weichselgebiete und dem ganzen Polen überhaupt während der ersten
zwanzig bis vierundzwanzig Tage nach Beginn der Feindseligkeiten nicht wohl
mehr als 33 Divisionen Infanterie und 8 bis 9 Divisionen Kavallerie ver¬
sammeln kann. Es ist infolge dessen nicht zu begreifen, wenn Militärschriftsteller
wie der Verfasser der im ersten Abschnitte dieser Betrachtung erwähnten Schrift
„Der europäische Koalitionskrieg" der Meinung sein können, der Oberbefehls¬
haber des deutsch-österreichischen Bundesheeres werde hier, an der Westgrenze


Grenzboten III. 1888. 29
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[0233] Die Kriegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner. ausnutzen. Wenn Rußland und Frankreich im Verlaufe eines lange dauernden Kampfes allmählich sehr große Massen von Truppen auf die Beine zu bringen vermögen, so ist es anderseits nicht schwierig, nachzuweisen, daß die Überlegenheit der Zahl in den ersten Wochen, vielleicht auch Monaten des Krieges auf Seiten des Dreibundes sein würde, wie dieser sich in der glücklichen Verfassung be¬ findet, rascher mobil machen zu können und dann mit Sicherheit den Aufmarsch der einzelnen Heeresteile zu vollziehen imstande ist. Unter solchen Verhältnissen ist es aber wahrscheinlich, daß die ersten Zusammenstöße der Verbündeten mit den Feinden zu Niederlagen der letztern führen würden, dann würde die numerische Überlegenheit der Verbündeten selbstverständlich wenigstens noch einige Zeit fort¬ dauern, und inzwischen würden neuere Einrichtungen bewirken, daß sie dann noch länger fortbestünde. Der geniale Griff, den die deutsche Regierung und Heeres¬ leitung mit der Abänderung der Wehrverfassung gethan hat, hat für das Reich den Grund zu einer wesentlichen Ergänzung der Feldarmee gelegt, und das Landsturmgesetz in Österreich und Ungarn wird ähnliches zur Folge haben und im Vereine mit jener Maßregel beinahe so viel bedeuten, als ob sich im Kriegs¬ falle eine vierte Großmacht mit ihren Streitkräften dem Dreibunde anzuschließen versprochen hätte. Auch wenn wir die Wahrscheinlichkeit, daß Rumänien, Serbien und Bulgarien sowie die Türkei bei Ausbruch eines Krieges zwischen Rußland einerseits und den beiden mitteleuropäischen Mächten anderseits mindestens eine drohende Haltung gegen das Zarenreich annehmen würden, und die immerhin nicht undenkbare Möglichkeit eines Anschlusses Englands an den Bund und einer Gefährdung der russischen Küsten durch eine englische Flotte nicht in Rechnung bringen, würde Nußland auf dem Kriegsschauplatze in seinen west¬ lichen Provinzen kaum mehr als 54 Infanterie- und 15 Kavalleriedivisionen bereitstellen können. Österreich-Ungarn aber würde, wenn es noch einige Zeit zur weitern Organisation und Ausrüstung seiner Wehrkräfte behält, 32 Linien-, 13 Landwehr- und 6 bis 7 Neservedivisionen, also im ganzen 52 bis 53 Di¬ visionen Infanterie und 6 bis 7 Divisionen Reiterei mobil machen können und dann immer noch über die Landsturmreserve, darunter 172 im Frieden vorbe¬ reitete Auszugsbataillone und 90 Schwadronen, verfügen können. Dem deutschen Reiche würde es nicht unmöglich sein, sofort die Hälfte und allmählich ungefähr zwei Drittel dieser Streitkräfte nach dem östlichen Kriegsschauplatze zu senden. Die Überlegenheit der Zahl nach wäre also hier umso mehr gesichert, als Ru߬ land im Weichselgebiete und dem ganzen Polen überhaupt während der ersten zwanzig bis vierundzwanzig Tage nach Beginn der Feindseligkeiten nicht wohl mehr als 33 Divisionen Infanterie und 8 bis 9 Divisionen Kavallerie ver¬ sammeln kann. Es ist infolge dessen nicht zu begreifen, wenn Militärschriftsteller wie der Verfasser der im ersten Abschnitte dieser Betrachtung erwähnten Schrift „Der europäische Koalitionskrieg" der Meinung sein können, der Oberbefehls¬ haber des deutsch-österreichischen Bundesheeres werde hier, an der Westgrenze Grenzboten III. 1888. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/233>, abgerufen am 22.07.2024.