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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Neue Romane.

des Vaterlandes unzufriedenen deutschen Gelehrten angekauft worden, der nach
gründliche" juristisch-historischen Forschungen die völlige Staatlosigkeit des neuen
Bodens festgestellt hatte. Nach dem Tode dieses Einsiedlers kam das Gut
"Staatlos" an einen mit der Gestaltung Deutschlands ebenfalls unzufriedenen
Achtundvierziger, der hier seine Zuflucht ebenso fand, wie viele seiner Streit¬
genossen aus der Paulskirche in England oder Amerika. Beide Eigentümer
waren ohne Familie, lebten ausschließlich sich selbst, ihrer Landwirtschaft und
wurden von den nicht staatlosen Nachbarn sehr geachtet. Jetzt ist Wolf
von Warnecke Souverän des kleinsten deutschen Ländchens.

Das Thema des Romans ist nun gegeben, wenn man die unglaubliche,
jedenfalls heitere Voraussetzung gelten läßt. Es handelt sich darum, Wolf
Warnecke von seinem Preußenhaß zu heilen und sein Bedürfnis nach Staat¬
losigkeit sa ichsuräum zu führen. Er muß erkennen, daß einem Staate an¬
zugehören Notwendigkeit sei; daß die Pflichten, die der Staatsbürger übernimmt,
ihm auch Rechte gewähren, welche seinen wirtschaftlichen und auch moralischen Be¬
stand überhaupt erst ermöglichen. Rein vom Nützlichkeitsstandpunkte muß Wolf,
nach der Absicht Blums, zuvörderst zur Erkenntnis des Wertes der Staats¬
angehörigkeit an sich gelangen. Ihn zum deutschen Staatsbürger im edleren
Sinne zu gestalten, benutzt Blum die großen geschichtlichen Ereignisse, die mit in
die Romanhandlung hineinspielen. Den fanatischen Welsen, der mit dem Sturze
seines Königshauses anch alle Heimat verloren zu haben wähnt, soll der neue
Staat, das auf den französischen Schlachtfeldern geborene deutsche Reich, ohne
ihn zur Untreue gegen sich selbst zu zwingen, in sich aufnehmen.

Zu alleu diesen inneren Wandlungen wird nun Wolf durch die Liebes¬
geschichte geführt, in die er gleich beim ersten Eintritt in sein Gut verwickelt
wird. Er sieht Fräulein Gertrud Kratz, die Tochter des humoristisch grobia¬
nischen Gutsnachbars, und liebt sie auch gleich (eine Bequemlichkeit Blums),
indes sein an urwüchsigen Bildern im Ausdruck üppiger Diener Habakuk ebenso
geschwind sein Herz an die ererbte Wirtschafterin, Fräulein Minchen, verliert.
Die ganze Handlung dreht sich darum, daß Wolf die geliebte Gertrud an¬
standlos und legitim heiraten könne. Zuerst steht dem Plane der väterliche
Grobian Kratz im Wege, der mit dem staatlosen Nachbar nichts zu thun haben
will. Kratz macht Wolf auf das Gefährliche seiner Stellung aufmerksam.
Als vorsorglicher Landwirt muß sich Wolf doch bei irgend einer Gesellschaft
gegen Feuer-, Hagel- und Seucheuschaden versichern. Welche wird aber dies
Geschäft mit ihm wagen? Die Gesellschaft muß doch ihrerseits durch die Gesetze
des Staates gegen etwaige verbrecherische Absichten des Versicherten geschützt
werden; der Staat muß denjenigen, der mit der Spekulation auf die Prämie
sein eignes Haus anzündet, bestrafen, sonst wäre ja die Versicherungsgesellschaft
die Beute von Dieben. Wolf aber gehört keinem Staate an, er ist keinem Ge¬
setze unterworfen, es findet sich also keine Gesellschaft, die sein Hab und Gut


Neue Romane.

des Vaterlandes unzufriedenen deutschen Gelehrten angekauft worden, der nach
gründliche» juristisch-historischen Forschungen die völlige Staatlosigkeit des neuen
Bodens festgestellt hatte. Nach dem Tode dieses Einsiedlers kam das Gut
„Staatlos" an einen mit der Gestaltung Deutschlands ebenfalls unzufriedenen
Achtundvierziger, der hier seine Zuflucht ebenso fand, wie viele seiner Streit¬
genossen aus der Paulskirche in England oder Amerika. Beide Eigentümer
waren ohne Familie, lebten ausschließlich sich selbst, ihrer Landwirtschaft und
wurden von den nicht staatlosen Nachbarn sehr geachtet. Jetzt ist Wolf
von Warnecke Souverän des kleinsten deutschen Ländchens.

Das Thema des Romans ist nun gegeben, wenn man die unglaubliche,
jedenfalls heitere Voraussetzung gelten läßt. Es handelt sich darum, Wolf
Warnecke von seinem Preußenhaß zu heilen und sein Bedürfnis nach Staat¬
losigkeit sa ichsuräum zu führen. Er muß erkennen, daß einem Staate an¬
zugehören Notwendigkeit sei; daß die Pflichten, die der Staatsbürger übernimmt,
ihm auch Rechte gewähren, welche seinen wirtschaftlichen und auch moralischen Be¬
stand überhaupt erst ermöglichen. Rein vom Nützlichkeitsstandpunkte muß Wolf,
nach der Absicht Blums, zuvörderst zur Erkenntnis des Wertes der Staats¬
angehörigkeit an sich gelangen. Ihn zum deutschen Staatsbürger im edleren
Sinne zu gestalten, benutzt Blum die großen geschichtlichen Ereignisse, die mit in
die Romanhandlung hineinspielen. Den fanatischen Welsen, der mit dem Sturze
seines Königshauses anch alle Heimat verloren zu haben wähnt, soll der neue
Staat, das auf den französischen Schlachtfeldern geborene deutsche Reich, ohne
ihn zur Untreue gegen sich selbst zu zwingen, in sich aufnehmen.

Zu alleu diesen inneren Wandlungen wird nun Wolf durch die Liebes¬
geschichte geführt, in die er gleich beim ersten Eintritt in sein Gut verwickelt
wird. Er sieht Fräulein Gertrud Kratz, die Tochter des humoristisch grobia¬
nischen Gutsnachbars, und liebt sie auch gleich (eine Bequemlichkeit Blums),
indes sein an urwüchsigen Bildern im Ausdruck üppiger Diener Habakuk ebenso
geschwind sein Herz an die ererbte Wirtschafterin, Fräulein Minchen, verliert.
Die ganze Handlung dreht sich darum, daß Wolf die geliebte Gertrud an¬
standlos und legitim heiraten könne. Zuerst steht dem Plane der väterliche
Grobian Kratz im Wege, der mit dem staatlosen Nachbar nichts zu thun haben
will. Kratz macht Wolf auf das Gefährliche seiner Stellung aufmerksam.
Als vorsorglicher Landwirt muß sich Wolf doch bei irgend einer Gesellschaft
gegen Feuer-, Hagel- und Seucheuschaden versichern. Welche wird aber dies
Geschäft mit ihm wagen? Die Gesellschaft muß doch ihrerseits durch die Gesetze
des Staates gegen etwaige verbrecherische Absichten des Versicherten geschützt
werden; der Staat muß denjenigen, der mit der Spekulation auf die Prämie
sein eignes Haus anzündet, bestrafen, sonst wäre ja die Versicherungsgesellschaft
die Beute von Dieben. Wolf aber gehört keinem Staate an, er ist keinem Ge¬
setze unterworfen, es findet sich also keine Gesellschaft, die sein Hab und Gut


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[0229] Neue Romane. des Vaterlandes unzufriedenen deutschen Gelehrten angekauft worden, der nach gründliche» juristisch-historischen Forschungen die völlige Staatlosigkeit des neuen Bodens festgestellt hatte. Nach dem Tode dieses Einsiedlers kam das Gut „Staatlos" an einen mit der Gestaltung Deutschlands ebenfalls unzufriedenen Achtundvierziger, der hier seine Zuflucht ebenso fand, wie viele seiner Streit¬ genossen aus der Paulskirche in England oder Amerika. Beide Eigentümer waren ohne Familie, lebten ausschließlich sich selbst, ihrer Landwirtschaft und wurden von den nicht staatlosen Nachbarn sehr geachtet. Jetzt ist Wolf von Warnecke Souverän des kleinsten deutschen Ländchens. Das Thema des Romans ist nun gegeben, wenn man die unglaubliche, jedenfalls heitere Voraussetzung gelten läßt. Es handelt sich darum, Wolf Warnecke von seinem Preußenhaß zu heilen und sein Bedürfnis nach Staat¬ losigkeit sa ichsuräum zu führen. Er muß erkennen, daß einem Staate an¬ zugehören Notwendigkeit sei; daß die Pflichten, die der Staatsbürger übernimmt, ihm auch Rechte gewähren, welche seinen wirtschaftlichen und auch moralischen Be¬ stand überhaupt erst ermöglichen. Rein vom Nützlichkeitsstandpunkte muß Wolf, nach der Absicht Blums, zuvörderst zur Erkenntnis des Wertes der Staats¬ angehörigkeit an sich gelangen. Ihn zum deutschen Staatsbürger im edleren Sinne zu gestalten, benutzt Blum die großen geschichtlichen Ereignisse, die mit in die Romanhandlung hineinspielen. Den fanatischen Welsen, der mit dem Sturze seines Königshauses anch alle Heimat verloren zu haben wähnt, soll der neue Staat, das auf den französischen Schlachtfeldern geborene deutsche Reich, ohne ihn zur Untreue gegen sich selbst zu zwingen, in sich aufnehmen. Zu alleu diesen inneren Wandlungen wird nun Wolf durch die Liebes¬ geschichte geführt, in die er gleich beim ersten Eintritt in sein Gut verwickelt wird. Er sieht Fräulein Gertrud Kratz, die Tochter des humoristisch grobia¬ nischen Gutsnachbars, und liebt sie auch gleich (eine Bequemlichkeit Blums), indes sein an urwüchsigen Bildern im Ausdruck üppiger Diener Habakuk ebenso geschwind sein Herz an die ererbte Wirtschafterin, Fräulein Minchen, verliert. Die ganze Handlung dreht sich darum, daß Wolf die geliebte Gertrud an¬ standlos und legitim heiraten könne. Zuerst steht dem Plane der väterliche Grobian Kratz im Wege, der mit dem staatlosen Nachbar nichts zu thun haben will. Kratz macht Wolf auf das Gefährliche seiner Stellung aufmerksam. Als vorsorglicher Landwirt muß sich Wolf doch bei irgend einer Gesellschaft gegen Feuer-, Hagel- und Seucheuschaden versichern. Welche wird aber dies Geschäft mit ihm wagen? Die Gesellschaft muß doch ihrerseits durch die Gesetze des Staates gegen etwaige verbrecherische Absichten des Versicherten geschützt werden; der Staat muß denjenigen, der mit der Spekulation auf die Prämie sein eignes Haus anzündet, bestrafen, sonst wäre ja die Versicherungsgesellschaft die Beute von Dieben. Wolf aber gehört keinem Staate an, er ist keinem Ge¬ setze unterworfen, es findet sich also keine Gesellschaft, die sein Hab und Gut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/229>, abgerufen am 01.07.2024.