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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Neue Romane.

sie überhaupt Äbtissin wird, und die wichtigen innern Umwandlungen, die sie
durchmacht, werden uns schließlich gerade nur referirt. Wir ahnen wohl, was
der Verfasser wollte, können aber nicht sagen, daß er es auch erreicht habe.
Wir staunen über seine Gelehrsamkeit, auch seine genaue Kenntnis der ober¬
rheinischen Lokalgeschichte vermag uns zu fesseln, die Zeichnung Zwinglis ver¬
folgen wir sogar mit dem Anteil, den Blum selbst an ihr genommen hat --
allein der Roman als Ganzes vermag uns nicht zu befriedigen.

Einen wesentlich freundlicheren Eindruck, eben weil sie übersichtlicher kom-
ponirt ist, hinterläßt die "lustige Zeitgeschichte auf ernstem Hintergrunde."
Zwar hat sich Blum die Arbeit hier etwas leicht gemacht, die Fabel einfach
erfunden, den Knoten der Verwicklung lose geschürzt, die eigentlich schwierige
psychologische Aufgabe, die auf dem Wege der Erzählung lag, vorsichtig über¬
sprungen, allein die Erzählung ist doch witzig im Problem, das in allen seinen
Konsequenzen verfolgt wird, und munter im Vortrag, fesselt den Leser immer¬
fort und entläßt ihn in heiterm Behagen, nachdem sie knapp vor dem Schluß
große, ernste, erschütternde Kriegsbilder entrollt hat. Es ist nur zu bedauern,
daß die Grundvoraussetzung der ganzen Fabel ganz unglaublich ist, und daß
darum die Geschichte völlig in der Luft hängt; hierin mag auch der Grund
liegen, daß Blum sein Thema nicht recht vertiefen konnte.

Die Geschichte ist folgende. Nach den Schlachten von Langensalza und
Königgrätz, welche über die Stellung Preußens im deutschen Bunde und über
dessen Vorherrschaft endgiltig entschieden, faßt der hannoversche Offizier Wolf
Freiherr von Warnecke den Entschluß, mit seinem Diener, dem Unteroffizier
Habakuk, nach Amerika auszuwandern. Warnecke will dem tief gehaßten
Preußen nicht dienen, so sehr er im übrigen ein braves deutsches Herz hat.
Kurz vor der Abreise findet er nun in einem hannoverschen Zeitungsblatte fol¬
gende Anzeige: "Staatlos! Ein Grundstück in Mitteldeutschland, an vier
deutsche Staaten grenzend, zu keinem Staate gehörig, frei von Steuern, Ab¬
gaben, Militärpflicht und Einquartierung, dessen Eigentümer sein eigner Sou¬
verän ist, und das aus ansehnlichen Gebäuden, Feld-, Wald- und Wiesenbesitz
besteht, und in Viehstand, Vorräten und Inventar gut versehen ist, hat wegen
Todesfalls gegen Vaarzahlung zu verkaufen Advokat Pfeffermann in Heida."
Rasch entschlossen reist Wolf auf dieses Inserat nach Heida zu dem genannten
Advokaten, und nachdem er sich aus dem Unterthanenverbande Preußens hat
ausscheiden lassen, kauft er das Gut "Staatlos" an, das ihm, ohne Reise in
die Urwälder Amerikas, mitten in Deutschland jene vollständige politische Freiheit
gewährt, die er sich wünschte. Das Gut ist in vorzüglichem Zustande. Die
merkwürdige Staatlosigkeit desselben erklärt der Fabulist damit, daß der Boden
ursprünglich das Bett des Flusses war, der seinen Lauf verschoben hatte, und
im Wiener Kongreß, wo Deutschland neu verteilt wurde, hatte man das Stückchen
Land geringschätzig übersehen. Es war dann von einem mit der Vielregiererei


Neue Romane.

sie überhaupt Äbtissin wird, und die wichtigen innern Umwandlungen, die sie
durchmacht, werden uns schließlich gerade nur referirt. Wir ahnen wohl, was
der Verfasser wollte, können aber nicht sagen, daß er es auch erreicht habe.
Wir staunen über seine Gelehrsamkeit, auch seine genaue Kenntnis der ober¬
rheinischen Lokalgeschichte vermag uns zu fesseln, die Zeichnung Zwinglis ver¬
folgen wir sogar mit dem Anteil, den Blum selbst an ihr genommen hat —
allein der Roman als Ganzes vermag uns nicht zu befriedigen.

Einen wesentlich freundlicheren Eindruck, eben weil sie übersichtlicher kom-
ponirt ist, hinterläßt die „lustige Zeitgeschichte auf ernstem Hintergrunde."
Zwar hat sich Blum die Arbeit hier etwas leicht gemacht, die Fabel einfach
erfunden, den Knoten der Verwicklung lose geschürzt, die eigentlich schwierige
psychologische Aufgabe, die auf dem Wege der Erzählung lag, vorsichtig über¬
sprungen, allein die Erzählung ist doch witzig im Problem, das in allen seinen
Konsequenzen verfolgt wird, und munter im Vortrag, fesselt den Leser immer¬
fort und entläßt ihn in heiterm Behagen, nachdem sie knapp vor dem Schluß
große, ernste, erschütternde Kriegsbilder entrollt hat. Es ist nur zu bedauern,
daß die Grundvoraussetzung der ganzen Fabel ganz unglaublich ist, und daß
darum die Geschichte völlig in der Luft hängt; hierin mag auch der Grund
liegen, daß Blum sein Thema nicht recht vertiefen konnte.

Die Geschichte ist folgende. Nach den Schlachten von Langensalza und
Königgrätz, welche über die Stellung Preußens im deutschen Bunde und über
dessen Vorherrschaft endgiltig entschieden, faßt der hannoversche Offizier Wolf
Freiherr von Warnecke den Entschluß, mit seinem Diener, dem Unteroffizier
Habakuk, nach Amerika auszuwandern. Warnecke will dem tief gehaßten
Preußen nicht dienen, so sehr er im übrigen ein braves deutsches Herz hat.
Kurz vor der Abreise findet er nun in einem hannoverschen Zeitungsblatte fol¬
gende Anzeige: „Staatlos! Ein Grundstück in Mitteldeutschland, an vier
deutsche Staaten grenzend, zu keinem Staate gehörig, frei von Steuern, Ab¬
gaben, Militärpflicht und Einquartierung, dessen Eigentümer sein eigner Sou¬
verän ist, und das aus ansehnlichen Gebäuden, Feld-, Wald- und Wiesenbesitz
besteht, und in Viehstand, Vorräten und Inventar gut versehen ist, hat wegen
Todesfalls gegen Vaarzahlung zu verkaufen Advokat Pfeffermann in Heida."
Rasch entschlossen reist Wolf auf dieses Inserat nach Heida zu dem genannten
Advokaten, und nachdem er sich aus dem Unterthanenverbande Preußens hat
ausscheiden lassen, kauft er das Gut „Staatlos" an, das ihm, ohne Reise in
die Urwälder Amerikas, mitten in Deutschland jene vollständige politische Freiheit
gewährt, die er sich wünschte. Das Gut ist in vorzüglichem Zustande. Die
merkwürdige Staatlosigkeit desselben erklärt der Fabulist damit, daß der Boden
ursprünglich das Bett des Flusses war, der seinen Lauf verschoben hatte, und
im Wiener Kongreß, wo Deutschland neu verteilt wurde, hatte man das Stückchen
Land geringschätzig übersehen. Es war dann von einem mit der Vielregiererei


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[0228] Neue Romane. sie überhaupt Äbtissin wird, und die wichtigen innern Umwandlungen, die sie durchmacht, werden uns schließlich gerade nur referirt. Wir ahnen wohl, was der Verfasser wollte, können aber nicht sagen, daß er es auch erreicht habe. Wir staunen über seine Gelehrsamkeit, auch seine genaue Kenntnis der ober¬ rheinischen Lokalgeschichte vermag uns zu fesseln, die Zeichnung Zwinglis ver¬ folgen wir sogar mit dem Anteil, den Blum selbst an ihr genommen hat — allein der Roman als Ganzes vermag uns nicht zu befriedigen. Einen wesentlich freundlicheren Eindruck, eben weil sie übersichtlicher kom- ponirt ist, hinterläßt die „lustige Zeitgeschichte auf ernstem Hintergrunde." Zwar hat sich Blum die Arbeit hier etwas leicht gemacht, die Fabel einfach erfunden, den Knoten der Verwicklung lose geschürzt, die eigentlich schwierige psychologische Aufgabe, die auf dem Wege der Erzählung lag, vorsichtig über¬ sprungen, allein die Erzählung ist doch witzig im Problem, das in allen seinen Konsequenzen verfolgt wird, und munter im Vortrag, fesselt den Leser immer¬ fort und entläßt ihn in heiterm Behagen, nachdem sie knapp vor dem Schluß große, ernste, erschütternde Kriegsbilder entrollt hat. Es ist nur zu bedauern, daß die Grundvoraussetzung der ganzen Fabel ganz unglaublich ist, und daß darum die Geschichte völlig in der Luft hängt; hierin mag auch der Grund liegen, daß Blum sein Thema nicht recht vertiefen konnte. Die Geschichte ist folgende. Nach den Schlachten von Langensalza und Königgrätz, welche über die Stellung Preußens im deutschen Bunde und über dessen Vorherrschaft endgiltig entschieden, faßt der hannoversche Offizier Wolf Freiherr von Warnecke den Entschluß, mit seinem Diener, dem Unteroffizier Habakuk, nach Amerika auszuwandern. Warnecke will dem tief gehaßten Preußen nicht dienen, so sehr er im übrigen ein braves deutsches Herz hat. Kurz vor der Abreise findet er nun in einem hannoverschen Zeitungsblatte fol¬ gende Anzeige: „Staatlos! Ein Grundstück in Mitteldeutschland, an vier deutsche Staaten grenzend, zu keinem Staate gehörig, frei von Steuern, Ab¬ gaben, Militärpflicht und Einquartierung, dessen Eigentümer sein eigner Sou¬ verän ist, und das aus ansehnlichen Gebäuden, Feld-, Wald- und Wiesenbesitz besteht, und in Viehstand, Vorräten und Inventar gut versehen ist, hat wegen Todesfalls gegen Vaarzahlung zu verkaufen Advokat Pfeffermann in Heida." Rasch entschlossen reist Wolf auf dieses Inserat nach Heida zu dem genannten Advokaten, und nachdem er sich aus dem Unterthanenverbande Preußens hat ausscheiden lassen, kauft er das Gut „Staatlos" an, das ihm, ohne Reise in die Urwälder Amerikas, mitten in Deutschland jene vollständige politische Freiheit gewährt, die er sich wünschte. Das Gut ist in vorzüglichem Zustande. Die merkwürdige Staatlosigkeit desselben erklärt der Fabulist damit, daß der Boden ursprünglich das Bett des Flusses war, der seinen Lauf verschoben hatte, und im Wiener Kongreß, wo Deutschland neu verteilt wurde, hatte man das Stückchen Land geringschätzig übersehen. Es war dann von einem mit der Vielregiererei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/228>, abgerufen am 29.06.2024.