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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Sind die heutigen Arbeiternnterftützungsverbändc Versicherungsgesellschaften?

aller zwei oder drei Jahre zusammentretender Generalversammlungen zu, und
als Vereinsanzeiger und zugleich geistiges Bindemittel dient ein sogenanntes
Fachblatt. Da die ganze Exekutivgewalt in die Hand des Verbandsvor¬
standes gelegt ist, so ist klar, daß bei der streng durchgeführten Zentrali-
sation ein solcher über das ganze Reichsgebiet verzweigter Verband gegebenen¬
falls eine außerordentliche Wirkungsfähigkeit entwickeln kann. Diese findet aber
ihren eigentlichen Stützpunkt erst in der regelmäßigen Verbindung der bloßen
Vereinsorganisation mit sogenannten Unterstützungskassen, deren einheitliche
Verwaltung ebenfalls vom Verbandsvorstande ausgeht.

Diese Kasseneinrichtungen bezwecken im allgemeinen die Sicherstellung der
Vcrbandsgenossen bei Arbeitslosigkeit (Streik, Aussperrung, Arbeitsmangel),
Arbeitsunfähigkeit (Krankheit, Unfall, Invalidität). Todesfall und andern Not¬
fällen. Hier interessirt nur der erstgedachte Versicherungszweig, weil dieser für
die vorliegende Streitfrage von ganz besondrer Bedeutung ist, und die übrigen
Versicherungszweige, insoweit sie nicht bereits eine reichsgesetzliche Regelung
gefunden haben, aus Mangel an den dazu erforderlichen Mitteln meist nur
vereinzelt und versuchsweise betrieben werden.

Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit zerfällt regelmäßig in zwei Arten:
die Unterstützung "auf der Reise" und "am Orte." Die erstere findet ihren ge¬
schichtlichen Anknüpfungspunkt in dem sogenannten Viatikum, dem alten Hand¬
werksbrauch, wandernde Berufsgenossen durch freiwillige Gewährung von Herberge
und Zehrpfennig von Ort zu Ort zu unterstützen; sie hat sich aber den mo¬
dernen Bedürfnissen entsprechend jetzt durch enge Anlehnung an die oben
geschilderten Verbandsorganisativnen zu einer festgegliederten Einrichtung aus¬
gebildet und dient vornehmlich dazu, beim Eintritt von Streiks oder Aus¬
sperrung die nicht an den Ort gebundenen (unverheirateten) Verbandsgenosscn
von den im Aufstande befindlichen Plätzen sofort abzuschieben und damit einer¬
seits den Abziehenden bis zur Auffindung eines anderweiten Arbeitsverhältnisses
die nötigen Unterhaltsmittel zu gewährleisten, anderseits durch die Verringerung
des Arbeitsangebots einen entsprechenden Druck auf die Arbeitgeber auszuüben.
Die andre Unterstützung dient unter den nämlichen Voraussetzungen zur Sicher¬
stellung der verheirateten oder sonst an den Ort gebundenen Verbandsgenossen
während der Dauer des Aufstandes.

Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß diese Kasfeneinrichtungen auch bei
rein zufälliger Arbeitslosigkeit (wegen mangelnder Nachfrage) wirksam werden,
doch weist die ganze Art und Weise ihrer Einrichtung und Verwaltung, ins¬
besondre die enge Anpassung an die Verbandsorganisationen, darauf hin, daß
sie in erster Linie diesen die notwendige Ergänzung und Widerstandskraft zur
Durchführung sogenannter "normal-Lohntarife" für die bezüglichen Gewerbs-
zweige geben sollen, deren "Minimalsätze" den örtlichen Verhältnissen durch
entsprechende "Zuschlage" angepaßt werden. Dies springt sofort in die Augen,


Sind die heutigen Arbeiternnterftützungsverbändc Versicherungsgesellschaften?

aller zwei oder drei Jahre zusammentretender Generalversammlungen zu, und
als Vereinsanzeiger und zugleich geistiges Bindemittel dient ein sogenanntes
Fachblatt. Da die ganze Exekutivgewalt in die Hand des Verbandsvor¬
standes gelegt ist, so ist klar, daß bei der streng durchgeführten Zentrali-
sation ein solcher über das ganze Reichsgebiet verzweigter Verband gegebenen¬
falls eine außerordentliche Wirkungsfähigkeit entwickeln kann. Diese findet aber
ihren eigentlichen Stützpunkt erst in der regelmäßigen Verbindung der bloßen
Vereinsorganisation mit sogenannten Unterstützungskassen, deren einheitliche
Verwaltung ebenfalls vom Verbandsvorstande ausgeht.

Diese Kasseneinrichtungen bezwecken im allgemeinen die Sicherstellung der
Vcrbandsgenossen bei Arbeitslosigkeit (Streik, Aussperrung, Arbeitsmangel),
Arbeitsunfähigkeit (Krankheit, Unfall, Invalidität). Todesfall und andern Not¬
fällen. Hier interessirt nur der erstgedachte Versicherungszweig, weil dieser für
die vorliegende Streitfrage von ganz besondrer Bedeutung ist, und die übrigen
Versicherungszweige, insoweit sie nicht bereits eine reichsgesetzliche Regelung
gefunden haben, aus Mangel an den dazu erforderlichen Mitteln meist nur
vereinzelt und versuchsweise betrieben werden.

Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit zerfällt regelmäßig in zwei Arten:
die Unterstützung „auf der Reise" und „am Orte." Die erstere findet ihren ge¬
schichtlichen Anknüpfungspunkt in dem sogenannten Viatikum, dem alten Hand¬
werksbrauch, wandernde Berufsgenossen durch freiwillige Gewährung von Herberge
und Zehrpfennig von Ort zu Ort zu unterstützen; sie hat sich aber den mo¬
dernen Bedürfnissen entsprechend jetzt durch enge Anlehnung an die oben
geschilderten Verbandsorganisativnen zu einer festgegliederten Einrichtung aus¬
gebildet und dient vornehmlich dazu, beim Eintritt von Streiks oder Aus¬
sperrung die nicht an den Ort gebundenen (unverheirateten) Verbandsgenosscn
von den im Aufstande befindlichen Plätzen sofort abzuschieben und damit einer¬
seits den Abziehenden bis zur Auffindung eines anderweiten Arbeitsverhältnisses
die nötigen Unterhaltsmittel zu gewährleisten, anderseits durch die Verringerung
des Arbeitsangebots einen entsprechenden Druck auf die Arbeitgeber auszuüben.
Die andre Unterstützung dient unter den nämlichen Voraussetzungen zur Sicher¬
stellung der verheirateten oder sonst an den Ort gebundenen Verbandsgenossen
während der Dauer des Aufstandes.

Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß diese Kasfeneinrichtungen auch bei
rein zufälliger Arbeitslosigkeit (wegen mangelnder Nachfrage) wirksam werden,
doch weist die ganze Art und Weise ihrer Einrichtung und Verwaltung, ins¬
besondre die enge Anpassung an die Verbandsorganisationen, darauf hin, daß
sie in erster Linie diesen die notwendige Ergänzung und Widerstandskraft zur
Durchführung sogenannter „normal-Lohntarife" für die bezüglichen Gewerbs-
zweige geben sollen, deren „Minimalsätze" den örtlichen Verhältnissen durch
entsprechende „Zuschlage" angepaßt werden. Dies springt sofort in die Augen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/163>, abgerufen am 24.08.2024.