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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Die Kriegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner.

und Entbehrungen, Genügsamkeit und die Gewohnheit, zu gehorchen. "Es ist
befohlen" ist das oberste Gesetz seines Thuns und Lassens, und das viele
Fasten, das seine Kirche vorschreibt, hat ihn gelehrt, im Bereiche dessen, was
Leib und Seele zusammenhält, wenig Bedürfnisse zu empfinden. Dagegen ist
er im Durchschnitte nicht sehr anstellig, vielmehr ein stumpfer Herdenmensch,
der schwer dazu gebracht werden kann, selbst zu denken und sich selbst zu helfen,
und deshalb fast immer die Stimme des Leiters bedarf. Auch ist sein Bildungs¬
grad äußerst niedrig, sodaß es der Regierung bisher nicht geraten erschien, ihn
mit dem Magazingewehr auszurüsten, das bei unsern modernen Schützenschlachten
unentbehrlich ist. Den Bemühungen, aus diesem Menschenmaterial tüchtige
Soldaten zu bilden, sind ferner durch die Natur des Landes enge Grenzen
gesteckt, welche ein Zusammenziehen großer Truppenmassen, eine gründliche Aus¬
bildung im Felddienste, den Austausch von Anschauungen und Erfahrungen, die
Anweisung und Überwachung der einzelnen Heereskörper außerordentlich erschwert.
Dazu kommt, daß die Mehrzahl der Offiziere, auf die bei der Unselbständigkeit
der Mannschaften hier weit mehr ankommt als anderwärts, viel zu wünschen
übrig läßt. Zwar giebt es auch in Rußland eine beachtenswerte Militärlitte¬
ratur und Offiziere, die von ihr Gebrauch machen und infolge dessen in ihrem
Fache wohl zu Hause sind. Doch gilt dies nur von denen der Garde und
einem Teile der obern Chargen in der Linie. Der gewöhnliche Linienoffizier
unterscheidet sich in Bildung und Haltung wesentlich von dem deutschen Stnndes-
genossen, aber sehr wenig von den Gemeinen seines Regiments. Die meisten
dieser Offiziere zweiter Klasse verbringen ihre Tage in kleinen, abgelegenen
Orten, wo kaum von einem Verkehr mit der übrigen Welt die Rede sein kann,
ohne Abwechslung und Anregung und ohne andern Umgang als den mit
ihresgleichen und mit der niedern Klasse des Volkes, verdrießlich, gelangweilt
und gleichgiltig gegen höhere Interessen und Bestrebungen, man müßte denn
die Lehren und Absichten des Nihilismus als solche bezeichnen wollen; denn
diese haben ihren Weg auch in die Kreise des halbgebildeter Mißmuth gefunden,
welcher sich über die ganze Mittelschicht der russischen Gesellschaft ausbreitet;
es wird kaum eine der vielen geheimen Gesellschaften mit staatsfeindlicher und
anarchistischer Tendenz entdeckt, wo sich nicht herausstellt, daß jüngere Offiziere
zu ihr gehören. Eine Armee mit solchen Elementen ist dem Kriegsherrn und
dem Staate gefährlicher als den Feinden, zumal da in Nußland in Gestalt der
Panslawisten eine andre Partei hinzukommt, der ebenfalls viele Offiziere, vor¬
züglich solche von höherm Range, angehören, und die den Willen des Zaren
auch nur gelten lassen möchte, wenn er mit ihrem Glaubensbekenntnisse und
ihren Wünschen übereinstimmt. Ein Krieg ist für die russische Regierung ein
doppeltes Wagnis: die Feuerprobe gegenüber einem tüchtigen europäischen Heere
hat die moskowitische Armee seit mehr als drei Jahrzehnten nicht zu bestehen
gehabt, und sie fiel damals schließlich für Rußland nicht günstig aus; geschieht


Die Kriegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner.

und Entbehrungen, Genügsamkeit und die Gewohnheit, zu gehorchen. „Es ist
befohlen" ist das oberste Gesetz seines Thuns und Lassens, und das viele
Fasten, das seine Kirche vorschreibt, hat ihn gelehrt, im Bereiche dessen, was
Leib und Seele zusammenhält, wenig Bedürfnisse zu empfinden. Dagegen ist
er im Durchschnitte nicht sehr anstellig, vielmehr ein stumpfer Herdenmensch,
der schwer dazu gebracht werden kann, selbst zu denken und sich selbst zu helfen,
und deshalb fast immer die Stimme des Leiters bedarf. Auch ist sein Bildungs¬
grad äußerst niedrig, sodaß es der Regierung bisher nicht geraten erschien, ihn
mit dem Magazingewehr auszurüsten, das bei unsern modernen Schützenschlachten
unentbehrlich ist. Den Bemühungen, aus diesem Menschenmaterial tüchtige
Soldaten zu bilden, sind ferner durch die Natur des Landes enge Grenzen
gesteckt, welche ein Zusammenziehen großer Truppenmassen, eine gründliche Aus¬
bildung im Felddienste, den Austausch von Anschauungen und Erfahrungen, die
Anweisung und Überwachung der einzelnen Heereskörper außerordentlich erschwert.
Dazu kommt, daß die Mehrzahl der Offiziere, auf die bei der Unselbständigkeit
der Mannschaften hier weit mehr ankommt als anderwärts, viel zu wünschen
übrig läßt. Zwar giebt es auch in Rußland eine beachtenswerte Militärlitte¬
ratur und Offiziere, die von ihr Gebrauch machen und infolge dessen in ihrem
Fache wohl zu Hause sind. Doch gilt dies nur von denen der Garde und
einem Teile der obern Chargen in der Linie. Der gewöhnliche Linienoffizier
unterscheidet sich in Bildung und Haltung wesentlich von dem deutschen Stnndes-
genossen, aber sehr wenig von den Gemeinen seines Regiments. Die meisten
dieser Offiziere zweiter Klasse verbringen ihre Tage in kleinen, abgelegenen
Orten, wo kaum von einem Verkehr mit der übrigen Welt die Rede sein kann,
ohne Abwechslung und Anregung und ohne andern Umgang als den mit
ihresgleichen und mit der niedern Klasse des Volkes, verdrießlich, gelangweilt
und gleichgiltig gegen höhere Interessen und Bestrebungen, man müßte denn
die Lehren und Absichten des Nihilismus als solche bezeichnen wollen; denn
diese haben ihren Weg auch in die Kreise des halbgebildeter Mißmuth gefunden,
welcher sich über die ganze Mittelschicht der russischen Gesellschaft ausbreitet;
es wird kaum eine der vielen geheimen Gesellschaften mit staatsfeindlicher und
anarchistischer Tendenz entdeckt, wo sich nicht herausstellt, daß jüngere Offiziere
zu ihr gehören. Eine Armee mit solchen Elementen ist dem Kriegsherrn und
dem Staate gefährlicher als den Feinden, zumal da in Nußland in Gestalt der
Panslawisten eine andre Partei hinzukommt, der ebenfalls viele Offiziere, vor¬
züglich solche von höherm Range, angehören, und die den Willen des Zaren
auch nur gelten lassen möchte, wenn er mit ihrem Glaubensbekenntnisse und
ihren Wünschen übereinstimmt. Ein Krieg ist für die russische Regierung ein
doppeltes Wagnis: die Feuerprobe gegenüber einem tüchtigen europäischen Heere
hat die moskowitische Armee seit mehr als drei Jahrzehnten nicht zu bestehen
gehabt, und sie fiel damals schließlich für Rußland nicht günstig aus; geschieht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/156>, abgerufen am 22.07.2024.