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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Die Deutschfreisinnigen während der Rsgierungszeit Kaiser Friedrichs.

seines Vaters irgendwie abweisend erklärt hatte, so konnten die Worte unmöglich
etwas andres enthalten, als eine verständige Mahnung daran, daß es nur Auf¬
gabe des Staates sein kann, der höchsten Not zu Hilfe zu kommen und die
Schwachen und Hilflosen vor dem Untergange zu schützen. Auch wurde ebenso
weise als dringend vor den Gefahren der Halbbildung und der Weckung von
Lebensansprüchen gewarnt, denen nicht genügt werden kann. Die denkwürdige
Urkunde war erlassen an den Fürsten Bismarck, als "den treuen und mutvollen
Ratgeber, der den Zielen der Politik Kaiser Wilhelms die Form gegeben und
deren erfolgreiche Durchführung gesichert hat."

Nach diesen Erlassen stand so viel fest, daß wir in König Friedrich nicht
einen englischen Schattenkönig haben würden. Und das wußten auch die Fort¬
schrittler; daher die tollen Sprünge eines Teiles derselben. Kaum waren die
Proklamationen erschienen, so erschallten die Unkenrufe. Die Volkszeitung brachte
einen Leitartikel über das "Regierungsprogramm." Er klang ganz so, als wäre
er 1862 geschrieben. Wenn der Kaiser von dem Grundsatze der religiösen Duldung
gesprochen hatte, der allen seinen "Unterthanen" zum Schutze gereichen sollte,
so meinte das edle "Organ für jedermann," es sei hier "Staatsbürger" der
zutreffende Ausdruck gewesen; sachlich aber war ihm das Versprechen selbst gar
nichts wert, denn "wenn Bismarck bleibt, so ist es äußerst gleichgiltig, ob 100 000
Stöcker gehen." In den sozialpolitischen Sätzen des Erlasses "findet sich nicht
irgend ein konkreter Ansatz zu einer wirklichen Sozialreform." Und warum?
Weil das Sozialistengesetz nicht aufgehoben werden soll. Aber das ist ja ganz
natürlich; "denn, wo die Hand des Fürsten Bismarck mächtig ist, da ist die
Abhilfe für die arbeitenden Klassen fern." Und diese Hand ist mächtig gewesen
in Leipzig, das zwischen San Remo (Erlaß wegen der Landestrauer) und
Charlottenburg (die beiden Proklamationen) liegt. Und damit "geht der neue
Pfad, der sich den Blicken des Volkes eröffnete, nicht in die Höhe." In der
nächsten Nummer meint das "Organ," man müsse abwarten. Bald wurde die
Probe darauf gemacht, ob das Abwarten etwas helfen würde. Richter machte
die Entdeckung, daß die beiden vom Reichstage beschlossenen, aber noch nicht im
Reichsanzeiger publizirten Gesetze, das über die Verlängerung der Legislatur¬
perioden des Reichstags und das über die unter Ausschluß der Öffentlichkeit
abzuhaltenden Gerichtsverhandlungen, die Eingangsworte trugen: "Wir, Wil¬
helm" u. s. w., und sah sofort die Notwendigkeit einer Neubeschließung; er
hoffte, daß Kaiser Friedrich seine Unterschrift dann versagen würde. Von
dieser prächtigen Theorie, die die Kontinuität der Kaiserwürde aufhob, hielt aber
Kaiser Friedrich so wenig, daß er, unbekümmert um das Jammern der Fort¬
schrittspartei, alsbald seine Unterschrift gab und die Gesetze publiziren ließ.
Als das geschehen war und als später im preußischen Herrenhause Miquel die
Umänderung der Unterschrift für so verständlich erklärte, daß es dazu nicht
einmal eines Antrags oder Beschlusses bedürfte, da hielt auch die deutschfreisinnigc


Die Deutschfreisinnigen während der Rsgierungszeit Kaiser Friedrichs.

seines Vaters irgendwie abweisend erklärt hatte, so konnten die Worte unmöglich
etwas andres enthalten, als eine verständige Mahnung daran, daß es nur Auf¬
gabe des Staates sein kann, der höchsten Not zu Hilfe zu kommen und die
Schwachen und Hilflosen vor dem Untergange zu schützen. Auch wurde ebenso
weise als dringend vor den Gefahren der Halbbildung und der Weckung von
Lebensansprüchen gewarnt, denen nicht genügt werden kann. Die denkwürdige
Urkunde war erlassen an den Fürsten Bismarck, als „den treuen und mutvollen
Ratgeber, der den Zielen der Politik Kaiser Wilhelms die Form gegeben und
deren erfolgreiche Durchführung gesichert hat."

Nach diesen Erlassen stand so viel fest, daß wir in König Friedrich nicht
einen englischen Schattenkönig haben würden. Und das wußten auch die Fort¬
schrittler; daher die tollen Sprünge eines Teiles derselben. Kaum waren die
Proklamationen erschienen, so erschallten die Unkenrufe. Die Volkszeitung brachte
einen Leitartikel über das „Regierungsprogramm." Er klang ganz so, als wäre
er 1862 geschrieben. Wenn der Kaiser von dem Grundsatze der religiösen Duldung
gesprochen hatte, der allen seinen „Unterthanen" zum Schutze gereichen sollte,
so meinte das edle „Organ für jedermann," es sei hier „Staatsbürger" der
zutreffende Ausdruck gewesen; sachlich aber war ihm das Versprechen selbst gar
nichts wert, denn „wenn Bismarck bleibt, so ist es äußerst gleichgiltig, ob 100 000
Stöcker gehen." In den sozialpolitischen Sätzen des Erlasses „findet sich nicht
irgend ein konkreter Ansatz zu einer wirklichen Sozialreform." Und warum?
Weil das Sozialistengesetz nicht aufgehoben werden soll. Aber das ist ja ganz
natürlich; „denn, wo die Hand des Fürsten Bismarck mächtig ist, da ist die
Abhilfe für die arbeitenden Klassen fern." Und diese Hand ist mächtig gewesen
in Leipzig, das zwischen San Remo (Erlaß wegen der Landestrauer) und
Charlottenburg (die beiden Proklamationen) liegt. Und damit „geht der neue
Pfad, der sich den Blicken des Volkes eröffnete, nicht in die Höhe." In der
nächsten Nummer meint das „Organ," man müsse abwarten. Bald wurde die
Probe darauf gemacht, ob das Abwarten etwas helfen würde. Richter machte
die Entdeckung, daß die beiden vom Reichstage beschlossenen, aber noch nicht im
Reichsanzeiger publizirten Gesetze, das über die Verlängerung der Legislatur¬
perioden des Reichstags und das über die unter Ausschluß der Öffentlichkeit
abzuhaltenden Gerichtsverhandlungen, die Eingangsworte trugen: „Wir, Wil¬
helm" u. s. w., und sah sofort die Notwendigkeit einer Neubeschließung; er
hoffte, daß Kaiser Friedrich seine Unterschrift dann versagen würde. Von
dieser prächtigen Theorie, die die Kontinuität der Kaiserwürde aufhob, hielt aber
Kaiser Friedrich so wenig, daß er, unbekümmert um das Jammern der Fort¬
schrittspartei, alsbald seine Unterschrift gab und die Gesetze publiziren ließ.
Als das geschehen war und als später im preußischen Herrenhause Miquel die
Umänderung der Unterschrift für so verständlich erklärte, daß es dazu nicht
einmal eines Antrags oder Beschlusses bedürfte, da hielt auch die deutschfreisinnigc


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/108>, abgerufen am 29.06.2024.