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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Die Deutschfreisinnigen während der Regierungszeit Kaiser Friedrichs.

in unsern Willen gestellt werden könnte." Der Erlaß dünkt ihr darum als ein
"Märchen." "Wir sollen einmal selbst denken, selbst entscheiden, was uns ziemt,
was sich gebührt!. . . Das deutsche Volk wird sehr bald durch sein Ver¬
halten . .. sich als reif für die Erteilung fernerer, wichtigerer Rechte, für die
Bethätigung des freien Willens in höhern Beziehungen legitimirt haben." In
dieser unreifen, schülerhaften Tonart erging sich die Lobeshymne derer, die sich
jetzt dem Kaiser als Helfer anboten. Zu der Unreife kam sehr bald, wie es
unvermeidlich war, die Pöbelhaftigkeit. Der roheste Patron des Fortschritts
gab wenige Tage nach dem Tode des Kaisers Wilhelm, als dieser eben erst
im Dome aufgebahrt war, die Parole aus: "Bildet freisinnige Vereine im
Lande!" und wies auf die Möglichkeit einer alsbaldigen Auflösung des Reichs¬
tags hin.

Kann man im Hinblick auf die Wirkung, die der Erlaß von San Remo
hatte, über seine Güte zweifelhaft sein, so werden dagegen die beiden Prokla¬
mationen des Kaisers und Königs Friedrich ewig denkwürdige Zeugnisse eines
weisen und kraftvollen Herrschergeistes bleiben. Beide Schriftstücke, die Prokla¬
mation "An mein Volk" und die "An den Reichskanzler und Präsidenten des
Staatsministeriums," zeichnen sich durch die Kraft einer edeln Sprache und durch
Präzision der Gedanken aus; sie treffen alle Bedürfnisse der deutschen Nation
und des preußischen Volkes in richtiger Schätzung. Am bemerkenswertesten war
an ihnen, daß sie der geschichtlichen Wahrheit die Ehre geben. In der Pro¬
klamation "An mein Volk" erinnerte der Kaiser daran, daß die Neubegründung
des Vaterlandes die Frucht der ausdauernden Arbeit von Preußens Volk und
Fürsten ist, daß König Wilhelm durch das preußische Heer den sichern Grund
zu den folgenden Siegen der deutschen Waffen gelegt hat, aus denen die nationale
Einigung hervorging. Ebenso war in der Proklamation an den Reichskanzler
der Gedanke des Reiches als eines preußisch-deutschen betont. Überall zeigte sich
so die richtige geschichtliche Auffassung, die allein die sichere Gewähr für den
Bestand des Reiches abgiebt, der ohne Wahrung des festen preußischen Kernes
nicht möglich wäre. Daß jeder deutsche Kaiser das wisse, ist von höchster Be¬
deutung. Kaiser Friedrich wußte es. Die Gesichtspunkte, die er in dem Erlaß
an den Reichskanzler aufstellte, im einzelnen wiederzugeben, ist hier nicht der
Ort. Nur auf einiges wollen wir noch hinweisen: erstens, daß die Gewinnung
überseeischer Besitzungen erwähnt wurde, durch welche der Marine "ernste Pflichten
erwachsen sind." Die neue Regierung ging also, ganz Wider die fortschrittlichen
Wünsche, mit demselben Ernst an die kolonialen Aufgaben, wie der verstorbene
Kaiser. Bei Erwähnung der Bestrebungen für das wirtschaftliche Gedeihen
wurde sodann vor der Erwartung gewarnt, "als ob es möglich sei, durch Ein¬
greifen des Staates allen Übeln der Gesellschaft ein Ende zu machen"; diese
Stelle verwerteten die Freisinnigen für ihre Theorie vom Gehenlassen wie es
will. Da aber der Kaiser früher nie sich gegen die sozialreformatorischen Grundsätze


Die Deutschfreisinnigen während der Regierungszeit Kaiser Friedrichs.

in unsern Willen gestellt werden könnte." Der Erlaß dünkt ihr darum als ein
„Märchen." „Wir sollen einmal selbst denken, selbst entscheiden, was uns ziemt,
was sich gebührt!. . . Das deutsche Volk wird sehr bald durch sein Ver¬
halten . .. sich als reif für die Erteilung fernerer, wichtigerer Rechte, für die
Bethätigung des freien Willens in höhern Beziehungen legitimirt haben." In
dieser unreifen, schülerhaften Tonart erging sich die Lobeshymne derer, die sich
jetzt dem Kaiser als Helfer anboten. Zu der Unreife kam sehr bald, wie es
unvermeidlich war, die Pöbelhaftigkeit. Der roheste Patron des Fortschritts
gab wenige Tage nach dem Tode des Kaisers Wilhelm, als dieser eben erst
im Dome aufgebahrt war, die Parole aus: „Bildet freisinnige Vereine im
Lande!" und wies auf die Möglichkeit einer alsbaldigen Auflösung des Reichs¬
tags hin.

Kann man im Hinblick auf die Wirkung, die der Erlaß von San Remo
hatte, über seine Güte zweifelhaft sein, so werden dagegen die beiden Prokla¬
mationen des Kaisers und Königs Friedrich ewig denkwürdige Zeugnisse eines
weisen und kraftvollen Herrschergeistes bleiben. Beide Schriftstücke, die Prokla¬
mation „An mein Volk" und die „An den Reichskanzler und Präsidenten des
Staatsministeriums," zeichnen sich durch die Kraft einer edeln Sprache und durch
Präzision der Gedanken aus; sie treffen alle Bedürfnisse der deutschen Nation
und des preußischen Volkes in richtiger Schätzung. Am bemerkenswertesten war
an ihnen, daß sie der geschichtlichen Wahrheit die Ehre geben. In der Pro¬
klamation „An mein Volk" erinnerte der Kaiser daran, daß die Neubegründung
des Vaterlandes die Frucht der ausdauernden Arbeit von Preußens Volk und
Fürsten ist, daß König Wilhelm durch das preußische Heer den sichern Grund
zu den folgenden Siegen der deutschen Waffen gelegt hat, aus denen die nationale
Einigung hervorging. Ebenso war in der Proklamation an den Reichskanzler
der Gedanke des Reiches als eines preußisch-deutschen betont. Überall zeigte sich
so die richtige geschichtliche Auffassung, die allein die sichere Gewähr für den
Bestand des Reiches abgiebt, der ohne Wahrung des festen preußischen Kernes
nicht möglich wäre. Daß jeder deutsche Kaiser das wisse, ist von höchster Be¬
deutung. Kaiser Friedrich wußte es. Die Gesichtspunkte, die er in dem Erlaß
an den Reichskanzler aufstellte, im einzelnen wiederzugeben, ist hier nicht der
Ort. Nur auf einiges wollen wir noch hinweisen: erstens, daß die Gewinnung
überseeischer Besitzungen erwähnt wurde, durch welche der Marine „ernste Pflichten
erwachsen sind." Die neue Regierung ging also, ganz Wider die fortschrittlichen
Wünsche, mit demselben Ernst an die kolonialen Aufgaben, wie der verstorbene
Kaiser. Bei Erwähnung der Bestrebungen für das wirtschaftliche Gedeihen
wurde sodann vor der Erwartung gewarnt, „als ob es möglich sei, durch Ein¬
greifen des Staates allen Übeln der Gesellschaft ein Ende zu machen"; diese
Stelle verwerteten die Freisinnigen für ihre Theorie vom Gehenlassen wie es
will. Da aber der Kaiser früher nie sich gegen die sozialreformatorischen Grundsätze


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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/107>, abgerufen am 26.06.2024.