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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Weihnachtsfest in einem Pfarrhause.

sein Lebenlang nur in herrischem Ton geredet hatte? Die alte Bibel blieb
liegen, wo sie lag, und der Pfarrer trat wieder mit der Unruhe und dem
Widerstreit im Herzen ins Zimmer.

Da kam ein Windstoß und rüttelte das Dach des alten Pfarrhauses, daß
alle Fugen krachten, und der Schnee peitschte gegen die Fensterscheiben.

Es wird eine böse Nacht geben, sagte der Pfarrer, und seine Stimme
klang müde und verzagt. Geht zu Bette, Kinder! Und Gott gebe uns allen
ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Er küßte Lise und legte die Hand auf Fritzens Kopf, und dann ging
er hinaus.

Lise, sagte Fritz, du kannst mir's glauben, der Vater sehnte sich heute
Abend nach der Mutter, und mir geht es ebenso.

Lise lehnte abermals ihren Kopf an Fritzens Brust, lächelte unter Thränen
und sagte: Sie ist hier bei uns, Fritz! Mir ist es den ganzen Abend gewesen,
als sei sie mitten unter uns. Fröhliches Weihnachten, Fritz!

Der Bruder nickte, und dann ging jedes auf seine Kanuner und schlief
den Schlaf der Jugend.

Der Pfarrer aber konnte keine Ruhe finden. Die Nacht senkte sich herab,
und das Unwetter türinte sich um ihn auf, und er blieb noch immer in seinem
Zimmer sitzen. Vor ihm lag ein zur Hälfte beschriebener Bogen. Es war
seine Festpredigt. Er hatte dabei angefangen, aber bei den Worten: "Siehe,
ich verkündige euch große Freude" hatte er die Feder aus der Hand gelegt.
Die große Freude war ihm abhanden gekommen, und es war ihm unmöglich,
Worte zu finden, um ihr Ausdruck zu geben. Sein Auge fiel auf die alte
Bibel, die vor ihm aufgeschlagen lag, und auf die erste Seite schrieb die Feder
von selber die Worte, die er so gern seinem Sohne gesagt hätte, die ihm aber
nicht über die Lippen hatten kommen wollen. Lisch Name klang vor seiner
Seele, und seine Feder schrieb ihn einmal übers andre unverdrossen nieder,
ohne daß er es selber wußte. Und das Bild der leeren Kirche, in der er jeden
Sonntag mit heimlichem Sehnen nach seiner Gemeinde gestanden hatte, stieg
wieder vor ihm auf und machte ihm das Herz schwer. Wem sollte er die große
Freude verkünden, wenn er wieder Worte dafür fand? Was sollte er nur
thun, um alles wieder ins alte Geleis zu bringen? Dem alten Mann wurde
so unsäglich einsam zu Mute, eine namenlose Angst überfiel ihn, sein Antlitz
glühte, er erhob sich und rief aus:

Es ist zum Ersticken! Ich muß fort von hier, wo ich mich einschloß mit
meiner Thorheit und meinem Stolz, ich muß hinaus, dorthin, wo es frei und
frisch ist! Ich muß hinauf in das Haus meines Herrn, das ich so schlecht
gehütet habe! Ich muß ihn anrufen in dieser Nacht unter seinem eignen Dache,
ich kann nicht anders! Vielleicht teilt er mir die Freude wieder mit, die ich
Ärmster verlernt habe!


Weihnachtsfest in einem Pfarrhause.

sein Lebenlang nur in herrischem Ton geredet hatte? Die alte Bibel blieb
liegen, wo sie lag, und der Pfarrer trat wieder mit der Unruhe und dem
Widerstreit im Herzen ins Zimmer.

Da kam ein Windstoß und rüttelte das Dach des alten Pfarrhauses, daß
alle Fugen krachten, und der Schnee peitschte gegen die Fensterscheiben.

Es wird eine böse Nacht geben, sagte der Pfarrer, und seine Stimme
klang müde und verzagt. Geht zu Bette, Kinder! Und Gott gebe uns allen
ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Er küßte Lise und legte die Hand auf Fritzens Kopf, und dann ging
er hinaus.

Lise, sagte Fritz, du kannst mir's glauben, der Vater sehnte sich heute
Abend nach der Mutter, und mir geht es ebenso.

Lise lehnte abermals ihren Kopf an Fritzens Brust, lächelte unter Thränen
und sagte: Sie ist hier bei uns, Fritz! Mir ist es den ganzen Abend gewesen,
als sei sie mitten unter uns. Fröhliches Weihnachten, Fritz!

Der Bruder nickte, und dann ging jedes auf seine Kanuner und schlief
den Schlaf der Jugend.

Der Pfarrer aber konnte keine Ruhe finden. Die Nacht senkte sich herab,
und das Unwetter türinte sich um ihn auf, und er blieb noch immer in seinem
Zimmer sitzen. Vor ihm lag ein zur Hälfte beschriebener Bogen. Es war
seine Festpredigt. Er hatte dabei angefangen, aber bei den Worten: „Siehe,
ich verkündige euch große Freude" hatte er die Feder aus der Hand gelegt.
Die große Freude war ihm abhanden gekommen, und es war ihm unmöglich,
Worte zu finden, um ihr Ausdruck zu geben. Sein Auge fiel auf die alte
Bibel, die vor ihm aufgeschlagen lag, und auf die erste Seite schrieb die Feder
von selber die Worte, die er so gern seinem Sohne gesagt hätte, die ihm aber
nicht über die Lippen hatten kommen wollen. Lisch Name klang vor seiner
Seele, und seine Feder schrieb ihn einmal übers andre unverdrossen nieder,
ohne daß er es selber wußte. Und das Bild der leeren Kirche, in der er jeden
Sonntag mit heimlichem Sehnen nach seiner Gemeinde gestanden hatte, stieg
wieder vor ihm auf und machte ihm das Herz schwer. Wem sollte er die große
Freude verkünden, wenn er wieder Worte dafür fand? Was sollte er nur
thun, um alles wieder ins alte Geleis zu bringen? Dem alten Mann wurde
so unsäglich einsam zu Mute, eine namenlose Angst überfiel ihn, sein Antlitz
glühte, er erhob sich und rief aus:

Es ist zum Ersticken! Ich muß fort von hier, wo ich mich einschloß mit
meiner Thorheit und meinem Stolz, ich muß hinaus, dorthin, wo es frei und
frisch ist! Ich muß hinauf in das Haus meines Herrn, das ich so schlecht
gehütet habe! Ich muß ihn anrufen in dieser Nacht unter seinem eignen Dache,
ich kann nicht anders! Vielleicht teilt er mir die Freude wieder mit, die ich
Ärmster verlernt habe!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/634>, abgerufen am 24.08.2024.