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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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N?eihnachtsfest in einem Pfarrhause.

Eine neue Kraft war in den Pfarrer gefahren, als er durch Nacht und
Unwetter über den Hügel dahinschritt, dem Friedhofe und der Kirche zu. Es
war, als wenn Himmel und Erde in eins verschwommen. Der Schnee fegte
von oben und von unten und baute seinem Schritt unaufhörlich Schanzen in
den Weg, aber er rastete nicht. Wie eine Wolke umgaben ihn die Schneemassen,
und das flatternde Licht in seiner Laterne erblaßte; aber der Ostwind erfaßte
ihn und trug ihn widerstandslos aufwärts, bis er sein Ziel erreicht hatte und
in der Kirche stand.

Dunkel und feierlich wölbte sich das Gotteshaus über ihm. Er schritt
den Gang entlang, und in dem unsichern Schein der Laterne ward der
Raum wunderbar tief und groß. Und eins nach dem andern stiegen die
Dinge, die er so genau kannte, aus dem Dunkel auf und redeten zu ihm in der
tiefen Stille.

Dort hing die Tafel mit dem Namen seiner Gattin, mit ihrem Geburts¬
und Todestag, und sie rief ihm ihren Lieblingsspruch zu, deu er selber hatte
darauf setzen lassen: "Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig."

Ich glaubte, ich sei ihre Stütze und Stärke, sagte er zu sich. Mein Weib,
die ich seit meiner Jugend geliebt habe, mußtest du von dannen gehen, damit
ich erfahren sollte, wie wenig ich ohne dich auszurichten vermag?

Hoch und ernst ragte die Kanzel vor ihm auf, .und es war ihm, als
richtete sie die Frage an ihn: Wo ist die Gemeinde, die du um mich ver¬
sammeln solltest?

Meine Zornesworte haben sie Vertrieben! ertönte die Antwort in ihm.
War es Amtseifer im Dienste meines Herrn und Gottes, der sie mir auf die
Zunge gelegt hatte? Oder war es mein eigner Stolz und Hochmut?

Alle eure Sorge werfet auf Gott! klang es vom Altar her.

Da kniete der alte Pfarrer nieder und blieb still und gebeugt liegen,
während alle unruhigen Gedanken sich in ihm erhoben und an seiner Seele
vorüberzogen. Und das Unwetter sauste und brauste draußen, als wollte es
die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern. Es konnte seinen Kummer nicht
betäuben. Wie sollte er nur seine Gemeinde wiedergewinnen, wie sollte er ihr
morgen die Botschaft verkünden, die ihm für sie anvertraut worden war? Wie
sollte er seine Kinder wieder an sich ziehen und sie zurückführen zu dem
Weihnachtsgotte, jetzt, wo sie sich von ihm gewandt hatten?

Herr, mein Gott! seufzte er. Ich will dir ja so gerne treu dienen. Aber
hier sitze ich allein in deinem Hause, und um mich her ist alles finster, und
ich habe keine Kraft mehr. Lehre mich, Herr, was ich thun soll!

Er erhob sich, um nach Hanse zu gehen, als er aber die Kirchenthür öffnen
wollte, fand er sie verschlossen. Der Wind drang pfeifend von oben herein
und blies ihm eine Schneewolke ins Gesicht, als er sich mit aller Gewalt gegen
die Thür lehnte; aber weiter kam er nicht -- er war eingefahren.


N?eihnachtsfest in einem Pfarrhause.

Eine neue Kraft war in den Pfarrer gefahren, als er durch Nacht und
Unwetter über den Hügel dahinschritt, dem Friedhofe und der Kirche zu. Es
war, als wenn Himmel und Erde in eins verschwommen. Der Schnee fegte
von oben und von unten und baute seinem Schritt unaufhörlich Schanzen in
den Weg, aber er rastete nicht. Wie eine Wolke umgaben ihn die Schneemassen,
und das flatternde Licht in seiner Laterne erblaßte; aber der Ostwind erfaßte
ihn und trug ihn widerstandslos aufwärts, bis er sein Ziel erreicht hatte und
in der Kirche stand.

Dunkel und feierlich wölbte sich das Gotteshaus über ihm. Er schritt
den Gang entlang, und in dem unsichern Schein der Laterne ward der
Raum wunderbar tief und groß. Und eins nach dem andern stiegen die
Dinge, die er so genau kannte, aus dem Dunkel auf und redeten zu ihm in der
tiefen Stille.

Dort hing die Tafel mit dem Namen seiner Gattin, mit ihrem Geburts¬
und Todestag, und sie rief ihm ihren Lieblingsspruch zu, deu er selber hatte
darauf setzen lassen: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig."

Ich glaubte, ich sei ihre Stütze und Stärke, sagte er zu sich. Mein Weib,
die ich seit meiner Jugend geliebt habe, mußtest du von dannen gehen, damit
ich erfahren sollte, wie wenig ich ohne dich auszurichten vermag?

Hoch und ernst ragte die Kanzel vor ihm auf, .und es war ihm, als
richtete sie die Frage an ihn: Wo ist die Gemeinde, die du um mich ver¬
sammeln solltest?

Meine Zornesworte haben sie Vertrieben! ertönte die Antwort in ihm.
War es Amtseifer im Dienste meines Herrn und Gottes, der sie mir auf die
Zunge gelegt hatte? Oder war es mein eigner Stolz und Hochmut?

Alle eure Sorge werfet auf Gott! klang es vom Altar her.

Da kniete der alte Pfarrer nieder und blieb still und gebeugt liegen,
während alle unruhigen Gedanken sich in ihm erhoben und an seiner Seele
vorüberzogen. Und das Unwetter sauste und brauste draußen, als wollte es
die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern. Es konnte seinen Kummer nicht
betäuben. Wie sollte er nur seine Gemeinde wiedergewinnen, wie sollte er ihr
morgen die Botschaft verkünden, die ihm für sie anvertraut worden war? Wie
sollte er seine Kinder wieder an sich ziehen und sie zurückführen zu dem
Weihnachtsgotte, jetzt, wo sie sich von ihm gewandt hatten?

Herr, mein Gott! seufzte er. Ich will dir ja so gerne treu dienen. Aber
hier sitze ich allein in deinem Hause, und um mich her ist alles finster, und
ich habe keine Kraft mehr. Lehre mich, Herr, was ich thun soll!

Er erhob sich, um nach Hanse zu gehen, als er aber die Kirchenthür öffnen
wollte, fand er sie verschlossen. Der Wind drang pfeifend von oben herein
und blies ihm eine Schneewolke ins Gesicht, als er sich mit aller Gewalt gegen
die Thür lehnte; aber weiter kam er nicht — er war eingefahren.


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[0635] N?eihnachtsfest in einem Pfarrhause. Eine neue Kraft war in den Pfarrer gefahren, als er durch Nacht und Unwetter über den Hügel dahinschritt, dem Friedhofe und der Kirche zu. Es war, als wenn Himmel und Erde in eins verschwommen. Der Schnee fegte von oben und von unten und baute seinem Schritt unaufhörlich Schanzen in den Weg, aber er rastete nicht. Wie eine Wolke umgaben ihn die Schneemassen, und das flatternde Licht in seiner Laterne erblaßte; aber der Ostwind erfaßte ihn und trug ihn widerstandslos aufwärts, bis er sein Ziel erreicht hatte und in der Kirche stand. Dunkel und feierlich wölbte sich das Gotteshaus über ihm. Er schritt den Gang entlang, und in dem unsichern Schein der Laterne ward der Raum wunderbar tief und groß. Und eins nach dem andern stiegen die Dinge, die er so genau kannte, aus dem Dunkel auf und redeten zu ihm in der tiefen Stille. Dort hing die Tafel mit dem Namen seiner Gattin, mit ihrem Geburts¬ und Todestag, und sie rief ihm ihren Lieblingsspruch zu, deu er selber hatte darauf setzen lassen: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig." Ich glaubte, ich sei ihre Stütze und Stärke, sagte er zu sich. Mein Weib, die ich seit meiner Jugend geliebt habe, mußtest du von dannen gehen, damit ich erfahren sollte, wie wenig ich ohne dich auszurichten vermag? Hoch und ernst ragte die Kanzel vor ihm auf, .und es war ihm, als richtete sie die Frage an ihn: Wo ist die Gemeinde, die du um mich ver¬ sammeln solltest? Meine Zornesworte haben sie Vertrieben! ertönte die Antwort in ihm. War es Amtseifer im Dienste meines Herrn und Gottes, der sie mir auf die Zunge gelegt hatte? Oder war es mein eigner Stolz und Hochmut? Alle eure Sorge werfet auf Gott! klang es vom Altar her. Da kniete der alte Pfarrer nieder und blieb still und gebeugt liegen, während alle unruhigen Gedanken sich in ihm erhoben und an seiner Seele vorüberzogen. Und das Unwetter sauste und brauste draußen, als wollte es die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern. Es konnte seinen Kummer nicht betäuben. Wie sollte er nur seine Gemeinde wiedergewinnen, wie sollte er ihr morgen die Botschaft verkünden, die ihm für sie anvertraut worden war? Wie sollte er seine Kinder wieder an sich ziehen und sie zurückführen zu dem Weihnachtsgotte, jetzt, wo sie sich von ihm gewandt hatten? Herr, mein Gott! seufzte er. Ich will dir ja so gerne treu dienen. Aber hier sitze ich allein in deinem Hause, und um mich her ist alles finster, und ich habe keine Kraft mehr. Lehre mich, Herr, was ich thun soll! Er erhob sich, um nach Hanse zu gehen, als er aber die Kirchenthür öffnen wollte, fand er sie verschlossen. Der Wind drang pfeifend von oben herein und blies ihm eine Schneewolke ins Gesicht, als er sich mit aller Gewalt gegen die Thür lehnte; aber weiter kam er nicht — er war eingefahren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/635>, abgerufen am 25.07.2024.