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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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tVeihnachtsfest in einem Pfarrhause.

Der Herbst zog grau und regnerisch ins Land, und der Winter folgte un¬
gewöhnlich früh.

Fritz kommt "ach Hause! sagte der Pfarrer eiues Tages kurz vor Weih¬
nachte". Was meinst du, könnten wir zum Feste nicht eine kleine Gesellschaft
geben? Unsre Nachbarn werden uus allmählich ganz entfremdet, niemand besucht
uus mehr, wie damals, als die Mutter noch lebte. Und dann -- du und Fritz,
ihr seid beide noch so jung, und hier ist so our'g, worüber ihr euch freuen könnt.

Er war mit dem Briefe in der Hand ins Zimmer getreten, und seine
Worte klangen so unsicher, als würde es ihm schwer, sie herauszubringen.
Lise blickte hastig zu ihm auf, aber ihre Augen füllten sich mit Thränen, und
ehe sie sie noch getrocknet hatte, war der Vater schon aus der Thür.

So wartete man im Pfarrhause auf das Weihnachtsfest, lind in Küche
und Keller herrschte emsige Geschäftigkeit. Aber Lisch Thränen fielen wie Reif
auf die Vorbereitungen, und der Himmel sah gar nicht milde drein. Mehrere
Tage vor Weihnachten war der Schnee in dichten Flocken auf Feld und Haide
gefallen, hatte sich wie ein Wall um den Pfarrhof gelagert und sich bis an
den Hügel aufgetürmt, wo er in unabsehbaren Massen über dem Kirchhofsteich
lag. Und oben in der Luft wurde es immer finstrer, die Wolken zogen sich
mehr und mehr über dem Pfarrhause zusammen, und unten rollte die tiefe
Stimme der Nordsee wie ein hohles, drohendes Brausen.

Und auch über dem Weihnachtsabend, der im Pfarrhause gefeiert wurde,
lagerten schwere Wolken. Lise ging hin und her und machte sich weit mehr
zu schaffen, als sie nötig hatte, nur um nicht allzuviel darüber nachzudenken,
wie beklommen ihr ums Herz war. Fritz saß schweigend da und starrte das
ergraute Haupt an, und es war ihm, als riefe ihm eine innere Stimme zu,
seine Arme um den Hals des Vaters zu schlingen und wie ein Sohn mit ihm
zu reden. Aber die Wolke war zwischen ihnen, und er blieb sitzen. Er ver¬
stand nicht das Antlitz des Vaters, aus dem eine wunderliche Unruhe lag, und
hinter dem ein heimlicher Kampf tobte. Einmal übers andre ging es wie
ein Schimmer von einem Entschluß über das Antlitz des Pfarrers, und er
verschwand in seine Kammer, aber jedesmal, wenn er wiederkam, sah er nur
noch verschlossener aus. Vielleicht hätten ihn Fritz und Lise verstanden, wenn
sie ihn nur in seiner Kammer hätten sehen können.

Dort lag eine alte Bibel auf seinem Tische mit dem Namen seiner Frau
auf der ersten Seite, und er stand da und schaute den Namen so sehnsuchtsvoll
an und wünschte von ganzem Herzen, daß er zu Fritz hineingehen und die
Bibel in seine Hand legen könnte und ihm am heiligen Abend sagen: Das ist
die Bibel deiner Mutter, mein Junge! Der Gott deiner Mutter ruft dich durch
diese Bibel!

Aber das mußte so einfach und so zart gesagt werden, so wahr und so
innig, wie es nur eine Mutter selber sagen kann. Wie konnte er das, er, der


Grenzboten IV. 1888. 79
tVeihnachtsfest in einem Pfarrhause.

Der Herbst zog grau und regnerisch ins Land, und der Winter folgte un¬
gewöhnlich früh.

Fritz kommt »ach Hause! sagte der Pfarrer eiues Tages kurz vor Weih¬
nachte». Was meinst du, könnten wir zum Feste nicht eine kleine Gesellschaft
geben? Unsre Nachbarn werden uus allmählich ganz entfremdet, niemand besucht
uus mehr, wie damals, als die Mutter noch lebte. Und dann — du und Fritz,
ihr seid beide noch so jung, und hier ist so our'g, worüber ihr euch freuen könnt.

Er war mit dem Briefe in der Hand ins Zimmer getreten, und seine
Worte klangen so unsicher, als würde es ihm schwer, sie herauszubringen.
Lise blickte hastig zu ihm auf, aber ihre Augen füllten sich mit Thränen, und
ehe sie sie noch getrocknet hatte, war der Vater schon aus der Thür.

So wartete man im Pfarrhause auf das Weihnachtsfest, lind in Küche
und Keller herrschte emsige Geschäftigkeit. Aber Lisch Thränen fielen wie Reif
auf die Vorbereitungen, und der Himmel sah gar nicht milde drein. Mehrere
Tage vor Weihnachten war der Schnee in dichten Flocken auf Feld und Haide
gefallen, hatte sich wie ein Wall um den Pfarrhof gelagert und sich bis an
den Hügel aufgetürmt, wo er in unabsehbaren Massen über dem Kirchhofsteich
lag. Und oben in der Luft wurde es immer finstrer, die Wolken zogen sich
mehr und mehr über dem Pfarrhause zusammen, und unten rollte die tiefe
Stimme der Nordsee wie ein hohles, drohendes Brausen.

Und auch über dem Weihnachtsabend, der im Pfarrhause gefeiert wurde,
lagerten schwere Wolken. Lise ging hin und her und machte sich weit mehr
zu schaffen, als sie nötig hatte, nur um nicht allzuviel darüber nachzudenken,
wie beklommen ihr ums Herz war. Fritz saß schweigend da und starrte das
ergraute Haupt an, und es war ihm, als riefe ihm eine innere Stimme zu,
seine Arme um den Hals des Vaters zu schlingen und wie ein Sohn mit ihm
zu reden. Aber die Wolke war zwischen ihnen, und er blieb sitzen. Er ver¬
stand nicht das Antlitz des Vaters, aus dem eine wunderliche Unruhe lag, und
hinter dem ein heimlicher Kampf tobte. Einmal übers andre ging es wie
ein Schimmer von einem Entschluß über das Antlitz des Pfarrers, und er
verschwand in seine Kammer, aber jedesmal, wenn er wiederkam, sah er nur
noch verschlossener aus. Vielleicht hätten ihn Fritz und Lise verstanden, wenn
sie ihn nur in seiner Kammer hätten sehen können.

Dort lag eine alte Bibel auf seinem Tische mit dem Namen seiner Frau
auf der ersten Seite, und er stand da und schaute den Namen so sehnsuchtsvoll
an und wünschte von ganzem Herzen, daß er zu Fritz hineingehen und die
Bibel in seine Hand legen könnte und ihm am heiligen Abend sagen: Das ist
die Bibel deiner Mutter, mein Junge! Der Gott deiner Mutter ruft dich durch
diese Bibel!

Aber das mußte so einfach und so zart gesagt werden, so wahr und so
innig, wie es nur eine Mutter selber sagen kann. Wie konnte er das, er, der


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[0633] tVeihnachtsfest in einem Pfarrhause. Der Herbst zog grau und regnerisch ins Land, und der Winter folgte un¬ gewöhnlich früh. Fritz kommt »ach Hause! sagte der Pfarrer eiues Tages kurz vor Weih¬ nachte». Was meinst du, könnten wir zum Feste nicht eine kleine Gesellschaft geben? Unsre Nachbarn werden uus allmählich ganz entfremdet, niemand besucht uus mehr, wie damals, als die Mutter noch lebte. Und dann — du und Fritz, ihr seid beide noch so jung, und hier ist so our'g, worüber ihr euch freuen könnt. Er war mit dem Briefe in der Hand ins Zimmer getreten, und seine Worte klangen so unsicher, als würde es ihm schwer, sie herauszubringen. Lise blickte hastig zu ihm auf, aber ihre Augen füllten sich mit Thränen, und ehe sie sie noch getrocknet hatte, war der Vater schon aus der Thür. So wartete man im Pfarrhause auf das Weihnachtsfest, lind in Küche und Keller herrschte emsige Geschäftigkeit. Aber Lisch Thränen fielen wie Reif auf die Vorbereitungen, und der Himmel sah gar nicht milde drein. Mehrere Tage vor Weihnachten war der Schnee in dichten Flocken auf Feld und Haide gefallen, hatte sich wie ein Wall um den Pfarrhof gelagert und sich bis an den Hügel aufgetürmt, wo er in unabsehbaren Massen über dem Kirchhofsteich lag. Und oben in der Luft wurde es immer finstrer, die Wolken zogen sich mehr und mehr über dem Pfarrhause zusammen, und unten rollte die tiefe Stimme der Nordsee wie ein hohles, drohendes Brausen. Und auch über dem Weihnachtsabend, der im Pfarrhause gefeiert wurde, lagerten schwere Wolken. Lise ging hin und her und machte sich weit mehr zu schaffen, als sie nötig hatte, nur um nicht allzuviel darüber nachzudenken, wie beklommen ihr ums Herz war. Fritz saß schweigend da und starrte das ergraute Haupt an, und es war ihm, als riefe ihm eine innere Stimme zu, seine Arme um den Hals des Vaters zu schlingen und wie ein Sohn mit ihm zu reden. Aber die Wolke war zwischen ihnen, und er blieb sitzen. Er ver¬ stand nicht das Antlitz des Vaters, aus dem eine wunderliche Unruhe lag, und hinter dem ein heimlicher Kampf tobte. Einmal übers andre ging es wie ein Schimmer von einem Entschluß über das Antlitz des Pfarrers, und er verschwand in seine Kammer, aber jedesmal, wenn er wiederkam, sah er nur noch verschlossener aus. Vielleicht hätten ihn Fritz und Lise verstanden, wenn sie ihn nur in seiner Kammer hätten sehen können. Dort lag eine alte Bibel auf seinem Tische mit dem Namen seiner Frau auf der ersten Seite, und er stand da und schaute den Namen so sehnsuchtsvoll an und wünschte von ganzem Herzen, daß er zu Fritz hineingehen und die Bibel in seine Hand legen könnte und ihm am heiligen Abend sagen: Das ist die Bibel deiner Mutter, mein Junge! Der Gott deiner Mutter ruft dich durch diese Bibel! Aber das mußte so einfach und so zart gesagt werden, so wahr und so innig, wie es nur eine Mutter selber sagen kann. Wie konnte er das, er, der Grenzboten IV. 1888. 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/633>, abgerufen am 22.07.2024.