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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Zeit im Spiegel ihrer Runst.

Aber auch Amerika kommt hier nur als geographische, nicht als künstlerische
Größe in Betracht. Denn die Künstler der neuen Welt gehören alle irgend einer
der europäischen hohen Schulen an und bilden kein Ganzes für sich. Was im
Glaspalast zu München in den Amerika-Sälen hing, war Münchener oder Pariser
Kunst. Auch England, so tüchtig es zu Porträtiren vermag, ist noch eine proble¬
matische Größe im Künstlerleben. Die zwei berühmtesten Londoner sind keine, der
Deutsche Herkommer und der Friese Alma Tadema. Auch die Polen können kaum
als eine Größe für sich zählen trotz ihrer Akademie in Krakau und deren Direktor
Matejko, der bedeutende Bilder aus dem polnischen Leben malt, in München
aber mit einem farbigen Einzuge der Jungfrau von Orleaus in Rheims völlig
durchgefallen ist. Ein Teil der Polen malt in Paris und bildet ein tüchtiges
Element der dortigen Kunst; ein andrer in München; die Bilder der letztern
gehören zur Münchener Kunst, wenn sie auch teilweise polnisches Leben dar¬
stellen. Ungarn und Rußland sind auf dem Wege, sich zu nationalen Schulen
auszubilden und weisen zur Zeit Künstler von eigenartiger Bedeutung auf,
denen vollendete Technik und urwüchsige Kraft der Darstellung zu Gebote
stehen. Beide lieben noch das Grausame zu sehr; die Ungarn speziell malen
Leidenschaften, die manchmal an Halbkultur streifen, aber durch ihre unge¬
brochene Kraft und durch das Malerische ihrer Erscheinung gewinnen. So
stehen neben den deutschen Schulen einschließlich Wien die drei erst genannten
Nationenpaare im Vordergrunde. Sie alle haben, wobei sich nur Holland und
Spanien ein wenig konservativer zeigen, den gemeinsamen Zug, daß von der
Eigenart der großen Vergangenheit ihrer Kunst in deren heutigen Schöpfungen
fast nichts mehr zu erkennen ist. Die "moderne Kunst" als internationale
Größe ist von viel bestimmenderem Einfluß auf ihr Kunstschaffen als ihre
national-künstlerische Vergangenheit. Dabei berühren sie sich paarweise unter
einander näher, wie denn auch zwischen Belgien und Frankreich, Spanien und
Italien ein lebhafter künstlerischer Verkehr stattfindet. Deutschland, das sich
früher abwechselnd von Italien und Frankreich beeinflussen ließ, steht, nachdem
es von Paris den Anstoß zum Freilicht und zum Impressionismus erhalten
hat, zur Zeit in lebendigster Wechselwirkung mit Holland, während in Skandi¬
navien der Einfluß beider Länder mit dem von Paris zusammenwirkt und
Originalität unter den sieben Ländern dort verhältnismäßig am wenigsten vor¬
handen ist.

Trotz dieser näheren oder entfernteren Beziehungen der einzelnen Kunst¬
länder unter einander ist die Malweise international zu nennen. Überall ist
die Technik annähernd auf gleicher Höhe. Überall ist die erste Frage die
nach der Naturwahrheit. Überall blüht das Freilicht. Überall werden mit
mehr oder weniger Glück impressionistische Versuche gemacht. Als Zeichen des
lebendigsten Austausches der Kräfte mag dies erfreulich sein. Aber wie jeder
Gewinn, bedeutet auch der hierin beurkundete auf andrer Seite einen Verlust.


Unsre Zeit im Spiegel ihrer Runst.

Aber auch Amerika kommt hier nur als geographische, nicht als künstlerische
Größe in Betracht. Denn die Künstler der neuen Welt gehören alle irgend einer
der europäischen hohen Schulen an und bilden kein Ganzes für sich. Was im
Glaspalast zu München in den Amerika-Sälen hing, war Münchener oder Pariser
Kunst. Auch England, so tüchtig es zu Porträtiren vermag, ist noch eine proble¬
matische Größe im Künstlerleben. Die zwei berühmtesten Londoner sind keine, der
Deutsche Herkommer und der Friese Alma Tadema. Auch die Polen können kaum
als eine Größe für sich zählen trotz ihrer Akademie in Krakau und deren Direktor
Matejko, der bedeutende Bilder aus dem polnischen Leben malt, in München
aber mit einem farbigen Einzuge der Jungfrau von Orleaus in Rheims völlig
durchgefallen ist. Ein Teil der Polen malt in Paris und bildet ein tüchtiges
Element der dortigen Kunst; ein andrer in München; die Bilder der letztern
gehören zur Münchener Kunst, wenn sie auch teilweise polnisches Leben dar¬
stellen. Ungarn und Rußland sind auf dem Wege, sich zu nationalen Schulen
auszubilden und weisen zur Zeit Künstler von eigenartiger Bedeutung auf,
denen vollendete Technik und urwüchsige Kraft der Darstellung zu Gebote
stehen. Beide lieben noch das Grausame zu sehr; die Ungarn speziell malen
Leidenschaften, die manchmal an Halbkultur streifen, aber durch ihre unge¬
brochene Kraft und durch das Malerische ihrer Erscheinung gewinnen. So
stehen neben den deutschen Schulen einschließlich Wien die drei erst genannten
Nationenpaare im Vordergrunde. Sie alle haben, wobei sich nur Holland und
Spanien ein wenig konservativer zeigen, den gemeinsamen Zug, daß von der
Eigenart der großen Vergangenheit ihrer Kunst in deren heutigen Schöpfungen
fast nichts mehr zu erkennen ist. Die „moderne Kunst" als internationale
Größe ist von viel bestimmenderem Einfluß auf ihr Kunstschaffen als ihre
national-künstlerische Vergangenheit. Dabei berühren sie sich paarweise unter
einander näher, wie denn auch zwischen Belgien und Frankreich, Spanien und
Italien ein lebhafter künstlerischer Verkehr stattfindet. Deutschland, das sich
früher abwechselnd von Italien und Frankreich beeinflussen ließ, steht, nachdem
es von Paris den Anstoß zum Freilicht und zum Impressionismus erhalten
hat, zur Zeit in lebendigster Wechselwirkung mit Holland, während in Skandi¬
navien der Einfluß beider Länder mit dem von Paris zusammenwirkt und
Originalität unter den sieben Ländern dort verhältnismäßig am wenigsten vor¬
handen ist.

Trotz dieser näheren oder entfernteren Beziehungen der einzelnen Kunst¬
länder unter einander ist die Malweise international zu nennen. Überall ist
die Technik annähernd auf gleicher Höhe. Überall ist die erste Frage die
nach der Naturwahrheit. Überall blüht das Freilicht. Überall werden mit
mehr oder weniger Glück impressionistische Versuche gemacht. Als Zeichen des
lebendigsten Austausches der Kräfte mag dies erfreulich sein. Aber wie jeder
Gewinn, bedeutet auch der hierin beurkundete auf andrer Seite einen Verlust.


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[0612] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Runst. Aber auch Amerika kommt hier nur als geographische, nicht als künstlerische Größe in Betracht. Denn die Künstler der neuen Welt gehören alle irgend einer der europäischen hohen Schulen an und bilden kein Ganzes für sich. Was im Glaspalast zu München in den Amerika-Sälen hing, war Münchener oder Pariser Kunst. Auch England, so tüchtig es zu Porträtiren vermag, ist noch eine proble¬ matische Größe im Künstlerleben. Die zwei berühmtesten Londoner sind keine, der Deutsche Herkommer und der Friese Alma Tadema. Auch die Polen können kaum als eine Größe für sich zählen trotz ihrer Akademie in Krakau und deren Direktor Matejko, der bedeutende Bilder aus dem polnischen Leben malt, in München aber mit einem farbigen Einzuge der Jungfrau von Orleaus in Rheims völlig durchgefallen ist. Ein Teil der Polen malt in Paris und bildet ein tüchtiges Element der dortigen Kunst; ein andrer in München; die Bilder der letztern gehören zur Münchener Kunst, wenn sie auch teilweise polnisches Leben dar¬ stellen. Ungarn und Rußland sind auf dem Wege, sich zu nationalen Schulen auszubilden und weisen zur Zeit Künstler von eigenartiger Bedeutung auf, denen vollendete Technik und urwüchsige Kraft der Darstellung zu Gebote stehen. Beide lieben noch das Grausame zu sehr; die Ungarn speziell malen Leidenschaften, die manchmal an Halbkultur streifen, aber durch ihre unge¬ brochene Kraft und durch das Malerische ihrer Erscheinung gewinnen. So stehen neben den deutschen Schulen einschließlich Wien die drei erst genannten Nationenpaare im Vordergrunde. Sie alle haben, wobei sich nur Holland und Spanien ein wenig konservativer zeigen, den gemeinsamen Zug, daß von der Eigenart der großen Vergangenheit ihrer Kunst in deren heutigen Schöpfungen fast nichts mehr zu erkennen ist. Die „moderne Kunst" als internationale Größe ist von viel bestimmenderem Einfluß auf ihr Kunstschaffen als ihre national-künstlerische Vergangenheit. Dabei berühren sie sich paarweise unter einander näher, wie denn auch zwischen Belgien und Frankreich, Spanien und Italien ein lebhafter künstlerischer Verkehr stattfindet. Deutschland, das sich früher abwechselnd von Italien und Frankreich beeinflussen ließ, steht, nachdem es von Paris den Anstoß zum Freilicht und zum Impressionismus erhalten hat, zur Zeit in lebendigster Wechselwirkung mit Holland, während in Skandi¬ navien der Einfluß beider Länder mit dem von Paris zusammenwirkt und Originalität unter den sieben Ländern dort verhältnismäßig am wenigsten vor¬ handen ist. Trotz dieser näheren oder entfernteren Beziehungen der einzelnen Kunst¬ länder unter einander ist die Malweise international zu nennen. Überall ist die Technik annähernd auf gleicher Höhe. Überall ist die erste Frage die nach der Naturwahrheit. Überall blüht das Freilicht. Überall werden mit mehr oder weniger Glück impressionistische Versuche gemacht. Als Zeichen des lebendigsten Austausches der Kräfte mag dies erfreulich sein. Aber wie jeder Gewinn, bedeutet auch der hierin beurkundete auf andrer Seite einen Verlust.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/612>, abgerufen am 03.07.2024.