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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

Der Stil ist der Mensch -- das gilt auch von der Kunst. Die Herrschaft
eines internationalen Stils bedeutet einen Verlust an Nationalcharakteren unter
den Kunstvölkern, von welchen doch im Grunde jede Nation die Wirklichkeit
mit eignen Augen und in eigentümlicher Strahlenbrechung sieht. Auch bezüg¬
lich der Wahl der Stoffe sind in der ganzen kunstschaffenden Welt zur Zeit
dieselben Neigungen und Abneigungen zu beobachten. Auch hier waltet eine inter¬
nationale Macht. Überall hat der Realismus den Sinn für ideale, historische,
religiöse Malerei verdrängt. Überall beherrschen das Interesse der Künstler
die Landschaft mit dem Tierstück, das Bildnis und das Sittenbild. Überall
wird in Landschaft und Genre das Nationale immer entschiedener bevorzugt;
das Fremde verliert an Reiz. Daneben lassen sich noch folgende Beobachtungen
machen. Während sich für religiöse Malerei ebenso in den rein protestantischen
Nationen des Nordens als in den katholischen des Südens, vor allem in
Frankreich und Italien, kaum ein Pinsel zu rühren scheint, findet sie bei uns
Deutschen verhältnismäßig immer noch eine beachtenswerte Pflege. Während
Skandinavien nur in Landschaften hervorragendes leistet, tritt in Ungarn und
Spanien, dort bunt, leidenschaftlich, derb, hier ernst, feierlich, tieferfaßt das Sitten¬
bild hervor. Für Bildnisse ist Deutschland klassisch und etwa England, während
Italien darin auffällig zurücktritt. Italien liebt das Harmlose, Heitere; eine Freude
am Leben, die sich dessen ernstere Seiten möglichst aus dem Auge rückt, aber auch
für Leichtfertigkeit und fade Tändelei nichts übrig hat, spiegelt sich in seiner
Kunst. Holland pflegt in vollem Gleichgewicht und mit derselben Gewissen¬
haftigkeit und Virtuosität Landschaft und Sitte, ohne sich aber je aus der
Ruhe bringen zu lassen durch einen Aufschwung zum Packenden oder Gro߬
artigen; das Alltägliche, Behagliche besitzt Mynheers Herz. Belgien liefert
vor allem prächtige Seestücke; seine Sittenbilder lassen eine tiefere, liebende
Versenkung in das menschliche Leben vermissen. Frankreich, dessen Kunstschaffen
nach den wenigen Nummern in München nicht zu beurteilen ist, soll nach Otto
Brandes' Bericht über den diesjährigen Salon, den er einen "Salon der Ent¬
kleideten" nennt, seine Liebe immer noch neben dem Nackten der Revanche- und
der Greuelmalerei widmen, eine Kulturstufe, über die wir anderen glücklich
hinaus sind.

Wem aber, der durch Münchens Glaspalast schreitend die Kunst aller
Kulturvölker an sich vorüberziehen läßt, tritt in diesem internationalen Kongreß
der Kunst auf deutschem Boden nicht in gewaltigem Bilde zutreffend bis zu
dem bezeichneten Zuge, daß Nußland gar nicht, Frankreich schlecht, England
dürftig sich beteiligt hat, die Brust höher schwellend, die zentrale Ehren- und
Machtstellung des deutschen Vaterlandes entgegen inmitten dieses großen Ge¬
meinsamen, das die Völker alle als der internationale Geist der Zeit um¬
schlingt und eint? _




Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

Der Stil ist der Mensch — das gilt auch von der Kunst. Die Herrschaft
eines internationalen Stils bedeutet einen Verlust an Nationalcharakteren unter
den Kunstvölkern, von welchen doch im Grunde jede Nation die Wirklichkeit
mit eignen Augen und in eigentümlicher Strahlenbrechung sieht. Auch bezüg¬
lich der Wahl der Stoffe sind in der ganzen kunstschaffenden Welt zur Zeit
dieselben Neigungen und Abneigungen zu beobachten. Auch hier waltet eine inter¬
nationale Macht. Überall hat der Realismus den Sinn für ideale, historische,
religiöse Malerei verdrängt. Überall beherrschen das Interesse der Künstler
die Landschaft mit dem Tierstück, das Bildnis und das Sittenbild. Überall
wird in Landschaft und Genre das Nationale immer entschiedener bevorzugt;
das Fremde verliert an Reiz. Daneben lassen sich noch folgende Beobachtungen
machen. Während sich für religiöse Malerei ebenso in den rein protestantischen
Nationen des Nordens als in den katholischen des Südens, vor allem in
Frankreich und Italien, kaum ein Pinsel zu rühren scheint, findet sie bei uns
Deutschen verhältnismäßig immer noch eine beachtenswerte Pflege. Während
Skandinavien nur in Landschaften hervorragendes leistet, tritt in Ungarn und
Spanien, dort bunt, leidenschaftlich, derb, hier ernst, feierlich, tieferfaßt das Sitten¬
bild hervor. Für Bildnisse ist Deutschland klassisch und etwa England, während
Italien darin auffällig zurücktritt. Italien liebt das Harmlose, Heitere; eine Freude
am Leben, die sich dessen ernstere Seiten möglichst aus dem Auge rückt, aber auch
für Leichtfertigkeit und fade Tändelei nichts übrig hat, spiegelt sich in seiner
Kunst. Holland pflegt in vollem Gleichgewicht und mit derselben Gewissen¬
haftigkeit und Virtuosität Landschaft und Sitte, ohne sich aber je aus der
Ruhe bringen zu lassen durch einen Aufschwung zum Packenden oder Gro߬
artigen; das Alltägliche, Behagliche besitzt Mynheers Herz. Belgien liefert
vor allem prächtige Seestücke; seine Sittenbilder lassen eine tiefere, liebende
Versenkung in das menschliche Leben vermissen. Frankreich, dessen Kunstschaffen
nach den wenigen Nummern in München nicht zu beurteilen ist, soll nach Otto
Brandes' Bericht über den diesjährigen Salon, den er einen „Salon der Ent¬
kleideten" nennt, seine Liebe immer noch neben dem Nackten der Revanche- und
der Greuelmalerei widmen, eine Kulturstufe, über die wir anderen glücklich
hinaus sind.

Wem aber, der durch Münchens Glaspalast schreitend die Kunst aller
Kulturvölker an sich vorüberziehen läßt, tritt in diesem internationalen Kongreß
der Kunst auf deutschem Boden nicht in gewaltigem Bilde zutreffend bis zu
dem bezeichneten Zuge, daß Nußland gar nicht, Frankreich schlecht, England
dürftig sich beteiligt hat, die Brust höher schwellend, die zentrale Ehren- und
Machtstellung des deutschen Vaterlandes entgegen inmitten dieses großen Ge¬
meinsamen, das die Völker alle als der internationale Geist der Zeit um¬
schlingt und eint? _




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[0613] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst. Der Stil ist der Mensch — das gilt auch von der Kunst. Die Herrschaft eines internationalen Stils bedeutet einen Verlust an Nationalcharakteren unter den Kunstvölkern, von welchen doch im Grunde jede Nation die Wirklichkeit mit eignen Augen und in eigentümlicher Strahlenbrechung sieht. Auch bezüg¬ lich der Wahl der Stoffe sind in der ganzen kunstschaffenden Welt zur Zeit dieselben Neigungen und Abneigungen zu beobachten. Auch hier waltet eine inter¬ nationale Macht. Überall hat der Realismus den Sinn für ideale, historische, religiöse Malerei verdrängt. Überall beherrschen das Interesse der Künstler die Landschaft mit dem Tierstück, das Bildnis und das Sittenbild. Überall wird in Landschaft und Genre das Nationale immer entschiedener bevorzugt; das Fremde verliert an Reiz. Daneben lassen sich noch folgende Beobachtungen machen. Während sich für religiöse Malerei ebenso in den rein protestantischen Nationen des Nordens als in den katholischen des Südens, vor allem in Frankreich und Italien, kaum ein Pinsel zu rühren scheint, findet sie bei uns Deutschen verhältnismäßig immer noch eine beachtenswerte Pflege. Während Skandinavien nur in Landschaften hervorragendes leistet, tritt in Ungarn und Spanien, dort bunt, leidenschaftlich, derb, hier ernst, feierlich, tieferfaßt das Sitten¬ bild hervor. Für Bildnisse ist Deutschland klassisch und etwa England, während Italien darin auffällig zurücktritt. Italien liebt das Harmlose, Heitere; eine Freude am Leben, die sich dessen ernstere Seiten möglichst aus dem Auge rückt, aber auch für Leichtfertigkeit und fade Tändelei nichts übrig hat, spiegelt sich in seiner Kunst. Holland pflegt in vollem Gleichgewicht und mit derselben Gewissen¬ haftigkeit und Virtuosität Landschaft und Sitte, ohne sich aber je aus der Ruhe bringen zu lassen durch einen Aufschwung zum Packenden oder Gro߬ artigen; das Alltägliche, Behagliche besitzt Mynheers Herz. Belgien liefert vor allem prächtige Seestücke; seine Sittenbilder lassen eine tiefere, liebende Versenkung in das menschliche Leben vermissen. Frankreich, dessen Kunstschaffen nach den wenigen Nummern in München nicht zu beurteilen ist, soll nach Otto Brandes' Bericht über den diesjährigen Salon, den er einen „Salon der Ent¬ kleideten" nennt, seine Liebe immer noch neben dem Nackten der Revanche- und der Greuelmalerei widmen, eine Kulturstufe, über die wir anderen glücklich hinaus sind. Wem aber, der durch Münchens Glaspalast schreitend die Kunst aller Kulturvölker an sich vorüberziehen läßt, tritt in diesem internationalen Kongreß der Kunst auf deutschem Boden nicht in gewaltigem Bilde zutreffend bis zu dem bezeichneten Zuge, daß Nußland gar nicht, Frankreich schlecht, England dürftig sich beteiligt hat, die Brust höher schwellend, die zentrale Ehren- und Machtstellung des deutschen Vaterlandes entgegen inmitten dieses großen Ge¬ meinsamen, das die Völker alle als der internationale Geist der Zeit um¬ schlingt und eint? _

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/613>, abgerufen am 01.07.2024.