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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Hermann von Gilm.

Gilm war von Natur, wie jedes starke dichterische Naturell, für alle Eindrücke
seiner Umgebung ungemein empfänglich. Ein Denker, ein Forscher ist viel
weniger von den Zufällen der Erziehung und der Zeitläufte abhängig, der
Dichter kaun sich ihrem Einflüsse gar nicht entziehen. Er wächst ja mit seiner
ganzen Produktion aus ihnen heraus. Gilm stand mit seinem angebornen Wesen
in geradem Gegensatze zu Schule und Hans, zu Gesellschaft und Gesinnung,
worin er aufwuchs. Die Lehrer waren Pedanten, die Familie bestand aus sehr
frommen Katholiken, die Stadt war klein, philiströs, von der klerikalen Herr¬
schaft verschüchtert, ängstlich, zurückhaltend. Gnus Natur strebte nach Heiter¬
keit, frischem Lebensgenuß, reicher Behaglichkeit, Sinnenlust und Bewegung.
Was die dumpfe Gläubigkeit seiner Erzieher an ihm verschuldete, das spricht
er in späten Tagen in einem unter dem Drucke der Ereignisse der Märzrevo¬
lution geschriebenen Briefe von Wien (7. November 1848) svlbst aus: "Wenn
in meiner Erziehung nicht gar so plump zu Werke gegangen, wenn die N!^
geschmacktheit nicht gar so nackt hingestellt, wenn die schöne Lehre Christi nicht
gar so verhunzt worden wäre, ich hätte nicht so früh -- ein halbes Kind -
den ganzen Katholizismus über Bord geworfen. Ich bin zwar froh, so früh
damit fertig geworden zu sein, aber es braucht einen eignen Gott im Herzen,
ohne Religion, so ohne Leuchte der Vernunft herumzutappen. Die Poesie hat
mich über diese gefährliche Kluft hinausgetragen, und wo ich seitdem angelangt
bin, da ist das Land der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, das wahre Land
Christi. Ich bin ein Christ im wahren Sinne des Wortes, ein Christ des
Evangeliums, und es ist nicht ein Wort darin, das ich nicht bestätige. Aber
was die Menschen dazu gemacht haben, ist pure Alfanzerei. Politik, Philosophie
und Religion ist eins und dasselbe geworden." Die Folge dieser beklagten Er¬
ziehung Gnus war sein frühzeitiges und nur um so derberes Auflehnen gegen
die landesübliche fromme Kopfhnngerei, so das; er schon früh als Ketzer oder
Heide galt, während er in einer weltmännischeren Umgebung wohl noch als guter
Christ betrachtet worden wäre und sich mit theologischer Engbrüstigkeit nicht
hätte herumschlagen müssen. Sehr anmutig läßt es Gilm in einem seiner ersten
Cyklen: "Sommerfrischlieder (eines Mädchens) aus Natters" aussprechen:


[Beginn Spaltensatz] Es schelten mich die Leute
Gar oft ob meiner Lieb',
Als wäre er ein Heide,
Brandleger oder Dieb. Und steht's mit seinem Glauben
Gar übel immerhin,
Es heißt: wer viel geliebt hat,
Dem wird auch viel verziehn. [Spaltenumbruch] Und hat er gelegt auch ein Feuer,
Es Hot doch kein Wächter gelärmt,
Mir aber haben die Flammen
Das frierende Herz erwärmt. Und hat er auch wirklich gestohlen
Viel Küsse bei Tag und bei Nacht,
So hat er doch niemand ärmer,
Mich ober reicher gemacht. [Ende Spaltensatz]

Natürlich konnte diese "heidnische" Gesinnung in dem Innsbruck der dreißiger
Jahre nur bei wenig Menschen Verständnis finden. Aber Gnus Geistesent-


Hermann von Gilm.

Gilm war von Natur, wie jedes starke dichterische Naturell, für alle Eindrücke
seiner Umgebung ungemein empfänglich. Ein Denker, ein Forscher ist viel
weniger von den Zufällen der Erziehung und der Zeitläufte abhängig, der
Dichter kaun sich ihrem Einflüsse gar nicht entziehen. Er wächst ja mit seiner
ganzen Produktion aus ihnen heraus. Gilm stand mit seinem angebornen Wesen
in geradem Gegensatze zu Schule und Hans, zu Gesellschaft und Gesinnung,
worin er aufwuchs. Die Lehrer waren Pedanten, die Familie bestand aus sehr
frommen Katholiken, die Stadt war klein, philiströs, von der klerikalen Herr¬
schaft verschüchtert, ängstlich, zurückhaltend. Gnus Natur strebte nach Heiter¬
keit, frischem Lebensgenuß, reicher Behaglichkeit, Sinnenlust und Bewegung.
Was die dumpfe Gläubigkeit seiner Erzieher an ihm verschuldete, das spricht
er in späten Tagen in einem unter dem Drucke der Ereignisse der Märzrevo¬
lution geschriebenen Briefe von Wien (7. November 1848) svlbst aus: „Wenn
in meiner Erziehung nicht gar so plump zu Werke gegangen, wenn die N!^
geschmacktheit nicht gar so nackt hingestellt, wenn die schöne Lehre Christi nicht
gar so verhunzt worden wäre, ich hätte nicht so früh — ein halbes Kind -
den ganzen Katholizismus über Bord geworfen. Ich bin zwar froh, so früh
damit fertig geworden zu sein, aber es braucht einen eignen Gott im Herzen,
ohne Religion, so ohne Leuchte der Vernunft herumzutappen. Die Poesie hat
mich über diese gefährliche Kluft hinausgetragen, und wo ich seitdem angelangt
bin, da ist das Land der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, das wahre Land
Christi. Ich bin ein Christ im wahren Sinne des Wortes, ein Christ des
Evangeliums, und es ist nicht ein Wort darin, das ich nicht bestätige. Aber
was die Menschen dazu gemacht haben, ist pure Alfanzerei. Politik, Philosophie
und Religion ist eins und dasselbe geworden." Die Folge dieser beklagten Er¬
ziehung Gnus war sein frühzeitiges und nur um so derberes Auflehnen gegen
die landesübliche fromme Kopfhnngerei, so das; er schon früh als Ketzer oder
Heide galt, während er in einer weltmännischeren Umgebung wohl noch als guter
Christ betrachtet worden wäre und sich mit theologischer Engbrüstigkeit nicht
hätte herumschlagen müssen. Sehr anmutig läßt es Gilm in einem seiner ersten
Cyklen: „Sommerfrischlieder (eines Mädchens) aus Natters" aussprechen:


[Beginn Spaltensatz] Es schelten mich die Leute
Gar oft ob meiner Lieb',
Als wäre er ein Heide,
Brandleger oder Dieb. Und steht's mit seinem Glauben
Gar übel immerhin,
Es heißt: wer viel geliebt hat,
Dem wird auch viel verziehn. [Spaltenumbruch] Und hat er gelegt auch ein Feuer,
Es Hot doch kein Wächter gelärmt,
Mir aber haben die Flammen
Das frierende Herz erwärmt. Und hat er auch wirklich gestohlen
Viel Küsse bei Tag und bei Nacht,
So hat er doch niemand ärmer,
Mich ober reicher gemacht. [Ende Spaltensatz]

Natürlich konnte diese „heidnische" Gesinnung in dem Innsbruck der dreißiger
Jahre nur bei wenig Menschen Verständnis finden. Aber Gnus Geistesent-


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[0598] Hermann von Gilm. Gilm war von Natur, wie jedes starke dichterische Naturell, für alle Eindrücke seiner Umgebung ungemein empfänglich. Ein Denker, ein Forscher ist viel weniger von den Zufällen der Erziehung und der Zeitläufte abhängig, der Dichter kaun sich ihrem Einflüsse gar nicht entziehen. Er wächst ja mit seiner ganzen Produktion aus ihnen heraus. Gilm stand mit seinem angebornen Wesen in geradem Gegensatze zu Schule und Hans, zu Gesellschaft und Gesinnung, worin er aufwuchs. Die Lehrer waren Pedanten, die Familie bestand aus sehr frommen Katholiken, die Stadt war klein, philiströs, von der klerikalen Herr¬ schaft verschüchtert, ängstlich, zurückhaltend. Gnus Natur strebte nach Heiter¬ keit, frischem Lebensgenuß, reicher Behaglichkeit, Sinnenlust und Bewegung. Was die dumpfe Gläubigkeit seiner Erzieher an ihm verschuldete, das spricht er in späten Tagen in einem unter dem Drucke der Ereignisse der Märzrevo¬ lution geschriebenen Briefe von Wien (7. November 1848) svlbst aus: „Wenn in meiner Erziehung nicht gar so plump zu Werke gegangen, wenn die N!^ geschmacktheit nicht gar so nackt hingestellt, wenn die schöne Lehre Christi nicht gar so verhunzt worden wäre, ich hätte nicht so früh — ein halbes Kind - den ganzen Katholizismus über Bord geworfen. Ich bin zwar froh, so früh damit fertig geworden zu sein, aber es braucht einen eignen Gott im Herzen, ohne Religion, so ohne Leuchte der Vernunft herumzutappen. Die Poesie hat mich über diese gefährliche Kluft hinausgetragen, und wo ich seitdem angelangt bin, da ist das Land der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, das wahre Land Christi. Ich bin ein Christ im wahren Sinne des Wortes, ein Christ des Evangeliums, und es ist nicht ein Wort darin, das ich nicht bestätige. Aber was die Menschen dazu gemacht haben, ist pure Alfanzerei. Politik, Philosophie und Religion ist eins und dasselbe geworden." Die Folge dieser beklagten Er¬ ziehung Gnus war sein frühzeitiges und nur um so derberes Auflehnen gegen die landesübliche fromme Kopfhnngerei, so das; er schon früh als Ketzer oder Heide galt, während er in einer weltmännischeren Umgebung wohl noch als guter Christ betrachtet worden wäre und sich mit theologischer Engbrüstigkeit nicht hätte herumschlagen müssen. Sehr anmutig läßt es Gilm in einem seiner ersten Cyklen: „Sommerfrischlieder (eines Mädchens) aus Natters" aussprechen: Es schelten mich die Leute Gar oft ob meiner Lieb', Als wäre er ein Heide, Brandleger oder Dieb. Und steht's mit seinem Glauben Gar übel immerhin, Es heißt: wer viel geliebt hat, Dem wird auch viel verziehn. Und hat er gelegt auch ein Feuer, Es Hot doch kein Wächter gelärmt, Mir aber haben die Flammen Das frierende Herz erwärmt. Und hat er auch wirklich gestohlen Viel Küsse bei Tag und bei Nacht, So hat er doch niemand ärmer, Mich ober reicher gemacht. Natürlich konnte diese „heidnische" Gesinnung in dem Innsbruck der dreißiger Jahre nur bei wenig Menschen Verständnis finden. Aber Gnus Geistesent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/598>, abgerufen am 04.07.2024.