Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hermann von Gilm.

Damals erschien Hamlet als die Verkörperung des deutschen Nationalcharakters
man grübelte, aber handelte nicht, und man hat dies mit einem sich selbst
geißelndem Hohn der Nation so lange gesagt, bis sie dann in das Gegenteil
umschlug, die Blut- und Eisenpolitik betrieb, statt bei Gedichten und Romanen
zu schwärmen, an die Arbeit ging, Industrien schuf, Eisenbahnen baute, Fabriken
in Betrieb setzte. Wie leere Schwätzer oder besten Falls wie harmlose, wolkeu-
gängerische Schöngeister kam dem realistischen Geschlecht, das die deutsche
Einheit schuf, das vormärzliche Geschlecht, das sich nach ihr gesehnt hatte,
ohne sie banen zu können, und das zugleich mit dem Zerstäuben des Frankfurter
Parlaments Bankrott gemacht hatte. Darum wurden alle Sänger der vormärzlichen
Zeit, die politisch waren, bei Seite geschoben -- geschichtliche Gerechtigkeit kennt
ja das politische Leben nicht, die Kunst nur die Gelehrtenstube -- und darunter
hatte auch Hermann von Gilm zu leiden. Die Lyrik des neuen, in den drei
großen deutschen Kriegen schwer geprüften Geschlechts ist cmakreontisch geworden;
man hatte sattsam Politik in den Zeitungen, die Dichter sollten nur die Schönheit
Pflegen. Aber auch dieses Geschlecht ist im Vorübergehen, wir stehen wieder
an der Schwelle einer neuen Zeit. Der Realismus, deu Julian Schmidt und
Gustav Freytag in Deutschland gefordert und begründet haben, hat seinen
Höhepunkt überschritten, indem er in den Naturalismus auslief. Es mehren
sich die Zeichen, daß wir auch den Kultus der rohen Thatsache satt haben;
die Naturwissenschaften knüpfen wieder an die Philosophie an, die Historiker
streben nach zusammenfassenden Gesichtspunkten, die Philosophen wollen auf
Grund des umgeackerten Bodens der positiven Wissenschaften eine sittliche Welt¬
anschauung aufbauen u. f. f. Der alte deutsche Idealismus regt sich wieder,
und da darf auch die vormärzliche Zeit hoffen, gerechter beurteilt zu werden,
als bisher. Als eines der Anzeichen dieser Strömung wollen wir die Aufer¬
stehung Gnus nehmen, die schon jetzt, nach wenigen Wochen, die Aufmerksamkeit
aller Freunde der Poesie auf sich gelenkt hat.

Kann man eine zu hohe Meinung von dem Berufe der Poesie haben?
Schwerlich, denn sie gehört in der That zu den höchsten und folgenreichsten
Thätigkeitsformen- Aber man kann sich irren in dem Glauben an die un¬
mittelbare Wirkungsfähigkeit der Poesie, in der Auffassung ihres praktischen
Berufes, und das ist der auffälligste Charakterzug des vormärzlichen Geschlechts,
der auch bei Gilm zunächst in die Augen fällt. Er sollte ihm zum Verhängnis
werden, wie aus unsrer Darstellung hervorgehen wird.

Bis zum Jahre 1840 lebte Gilm in Innsbruck als der Sohn eines
höhern Justizbeamten und schließlich selbst als Gerichtspraktikant. Tirol ruhte
damals ans den Lorbeeren ans, die es sich in den Franzosenkriegen durch seinen
heldenmütigen Kampf und seine sagenhafte Treue an die Habsburgische Dynastie
erworben hatte. Für die heutige Geschichtsforschung ist es außer Zweifel, daß
die Tiroler unter Andreas Hofer hauptsächlich für ihren alten Glauben gekümpft


Grenzboten IV. 1888. 74
Hermann von Gilm.

Damals erschien Hamlet als die Verkörperung des deutschen Nationalcharakters
man grübelte, aber handelte nicht, und man hat dies mit einem sich selbst
geißelndem Hohn der Nation so lange gesagt, bis sie dann in das Gegenteil
umschlug, die Blut- und Eisenpolitik betrieb, statt bei Gedichten und Romanen
zu schwärmen, an die Arbeit ging, Industrien schuf, Eisenbahnen baute, Fabriken
in Betrieb setzte. Wie leere Schwätzer oder besten Falls wie harmlose, wolkeu-
gängerische Schöngeister kam dem realistischen Geschlecht, das die deutsche
Einheit schuf, das vormärzliche Geschlecht, das sich nach ihr gesehnt hatte,
ohne sie banen zu können, und das zugleich mit dem Zerstäuben des Frankfurter
Parlaments Bankrott gemacht hatte. Darum wurden alle Sänger der vormärzlichen
Zeit, die politisch waren, bei Seite geschoben — geschichtliche Gerechtigkeit kennt
ja das politische Leben nicht, die Kunst nur die Gelehrtenstube — und darunter
hatte auch Hermann von Gilm zu leiden. Die Lyrik des neuen, in den drei
großen deutschen Kriegen schwer geprüften Geschlechts ist cmakreontisch geworden;
man hatte sattsam Politik in den Zeitungen, die Dichter sollten nur die Schönheit
Pflegen. Aber auch dieses Geschlecht ist im Vorübergehen, wir stehen wieder
an der Schwelle einer neuen Zeit. Der Realismus, deu Julian Schmidt und
Gustav Freytag in Deutschland gefordert und begründet haben, hat seinen
Höhepunkt überschritten, indem er in den Naturalismus auslief. Es mehren
sich die Zeichen, daß wir auch den Kultus der rohen Thatsache satt haben;
die Naturwissenschaften knüpfen wieder an die Philosophie an, die Historiker
streben nach zusammenfassenden Gesichtspunkten, die Philosophen wollen auf
Grund des umgeackerten Bodens der positiven Wissenschaften eine sittliche Welt¬
anschauung aufbauen u. f. f. Der alte deutsche Idealismus regt sich wieder,
und da darf auch die vormärzliche Zeit hoffen, gerechter beurteilt zu werden,
als bisher. Als eines der Anzeichen dieser Strömung wollen wir die Aufer¬
stehung Gnus nehmen, die schon jetzt, nach wenigen Wochen, die Aufmerksamkeit
aller Freunde der Poesie auf sich gelenkt hat.

Kann man eine zu hohe Meinung von dem Berufe der Poesie haben?
Schwerlich, denn sie gehört in der That zu den höchsten und folgenreichsten
Thätigkeitsformen- Aber man kann sich irren in dem Glauben an die un¬
mittelbare Wirkungsfähigkeit der Poesie, in der Auffassung ihres praktischen
Berufes, und das ist der auffälligste Charakterzug des vormärzlichen Geschlechts,
der auch bei Gilm zunächst in die Augen fällt. Er sollte ihm zum Verhängnis
werden, wie aus unsrer Darstellung hervorgehen wird.

Bis zum Jahre 1840 lebte Gilm in Innsbruck als der Sohn eines
höhern Justizbeamten und schließlich selbst als Gerichtspraktikant. Tirol ruhte
damals ans den Lorbeeren ans, die es sich in den Franzosenkriegen durch seinen
heldenmütigen Kampf und seine sagenhafte Treue an die Habsburgische Dynastie
erworben hatte. Für die heutige Geschichtsforschung ist es außer Zweifel, daß
die Tiroler unter Andreas Hofer hauptsächlich für ihren alten Glauben gekümpft


Grenzboten IV. 1888. 74
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0593" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204028"/>
          <fw type="header" place="top"> Hermann von Gilm.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1557" prev="#ID_1556"> Damals erschien Hamlet als die Verkörperung des deutschen Nationalcharakters<lb/>
man grübelte, aber handelte nicht, und man hat dies mit einem sich selbst<lb/>
geißelndem Hohn der Nation so lange gesagt, bis sie dann in das Gegenteil<lb/>
umschlug, die Blut- und Eisenpolitik betrieb, statt bei Gedichten und Romanen<lb/>
zu schwärmen, an die Arbeit ging, Industrien schuf, Eisenbahnen baute, Fabriken<lb/>
in Betrieb setzte. Wie leere Schwätzer oder besten Falls wie harmlose, wolkeu-<lb/>
gängerische Schöngeister kam dem realistischen Geschlecht, das die deutsche<lb/>
Einheit schuf, das vormärzliche Geschlecht, das sich nach ihr gesehnt hatte,<lb/>
ohne sie banen zu können, und das zugleich mit dem Zerstäuben des Frankfurter<lb/>
Parlaments Bankrott gemacht hatte. Darum wurden alle Sänger der vormärzlichen<lb/>
Zeit, die politisch waren, bei Seite geschoben &#x2014; geschichtliche Gerechtigkeit kennt<lb/>
ja das politische Leben nicht, die Kunst nur die Gelehrtenstube &#x2014; und darunter<lb/>
hatte auch Hermann von Gilm zu leiden. Die Lyrik des neuen, in den drei<lb/>
großen deutschen Kriegen schwer geprüften Geschlechts ist cmakreontisch geworden;<lb/>
man hatte sattsam Politik in den Zeitungen, die Dichter sollten nur die Schönheit<lb/>
Pflegen. Aber auch dieses Geschlecht ist im Vorübergehen, wir stehen wieder<lb/>
an der Schwelle einer neuen Zeit. Der Realismus, deu Julian Schmidt und<lb/>
Gustav Freytag in Deutschland gefordert und begründet haben, hat seinen<lb/>
Höhepunkt überschritten, indem er in den Naturalismus auslief. Es mehren<lb/>
sich die Zeichen, daß wir auch den Kultus der rohen Thatsache satt haben;<lb/>
die Naturwissenschaften knüpfen wieder an die Philosophie an, die Historiker<lb/>
streben nach zusammenfassenden Gesichtspunkten, die Philosophen wollen auf<lb/>
Grund des umgeackerten Bodens der positiven Wissenschaften eine sittliche Welt¬<lb/>
anschauung aufbauen u. f. f. Der alte deutsche Idealismus regt sich wieder,<lb/>
und da darf auch die vormärzliche Zeit hoffen, gerechter beurteilt zu werden,<lb/>
als bisher. Als eines der Anzeichen dieser Strömung wollen wir die Aufer¬<lb/>
stehung Gnus nehmen, die schon jetzt, nach wenigen Wochen, die Aufmerksamkeit<lb/>
aller Freunde der Poesie auf sich gelenkt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1558"> Kann man eine zu hohe Meinung von dem Berufe der Poesie haben?<lb/>
Schwerlich, denn sie gehört in der That zu den höchsten und folgenreichsten<lb/>
Thätigkeitsformen- Aber man kann sich irren in dem Glauben an die un¬<lb/>
mittelbare Wirkungsfähigkeit der Poesie, in der Auffassung ihres praktischen<lb/>
Berufes, und das ist der auffälligste Charakterzug des vormärzlichen Geschlechts,<lb/>
der auch bei Gilm zunächst in die Augen fällt. Er sollte ihm zum Verhängnis<lb/>
werden, wie aus unsrer Darstellung hervorgehen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1559" next="#ID_1560"> Bis zum Jahre 1840 lebte Gilm in Innsbruck als der Sohn eines<lb/>
höhern Justizbeamten und schließlich selbst als Gerichtspraktikant. Tirol ruhte<lb/>
damals ans den Lorbeeren ans, die es sich in den Franzosenkriegen durch seinen<lb/>
heldenmütigen Kampf und seine sagenhafte Treue an die Habsburgische Dynastie<lb/>
erworben hatte. Für die heutige Geschichtsforschung ist es außer Zweifel, daß<lb/>
die Tiroler unter Andreas Hofer hauptsächlich für ihren alten Glauben gekümpft</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1888. 74</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0593] Hermann von Gilm. Damals erschien Hamlet als die Verkörperung des deutschen Nationalcharakters man grübelte, aber handelte nicht, und man hat dies mit einem sich selbst geißelndem Hohn der Nation so lange gesagt, bis sie dann in das Gegenteil umschlug, die Blut- und Eisenpolitik betrieb, statt bei Gedichten und Romanen zu schwärmen, an die Arbeit ging, Industrien schuf, Eisenbahnen baute, Fabriken in Betrieb setzte. Wie leere Schwätzer oder besten Falls wie harmlose, wolkeu- gängerische Schöngeister kam dem realistischen Geschlecht, das die deutsche Einheit schuf, das vormärzliche Geschlecht, das sich nach ihr gesehnt hatte, ohne sie banen zu können, und das zugleich mit dem Zerstäuben des Frankfurter Parlaments Bankrott gemacht hatte. Darum wurden alle Sänger der vormärzlichen Zeit, die politisch waren, bei Seite geschoben — geschichtliche Gerechtigkeit kennt ja das politische Leben nicht, die Kunst nur die Gelehrtenstube — und darunter hatte auch Hermann von Gilm zu leiden. Die Lyrik des neuen, in den drei großen deutschen Kriegen schwer geprüften Geschlechts ist cmakreontisch geworden; man hatte sattsam Politik in den Zeitungen, die Dichter sollten nur die Schönheit Pflegen. Aber auch dieses Geschlecht ist im Vorübergehen, wir stehen wieder an der Schwelle einer neuen Zeit. Der Realismus, deu Julian Schmidt und Gustav Freytag in Deutschland gefordert und begründet haben, hat seinen Höhepunkt überschritten, indem er in den Naturalismus auslief. Es mehren sich die Zeichen, daß wir auch den Kultus der rohen Thatsache satt haben; die Naturwissenschaften knüpfen wieder an die Philosophie an, die Historiker streben nach zusammenfassenden Gesichtspunkten, die Philosophen wollen auf Grund des umgeackerten Bodens der positiven Wissenschaften eine sittliche Welt¬ anschauung aufbauen u. f. f. Der alte deutsche Idealismus regt sich wieder, und da darf auch die vormärzliche Zeit hoffen, gerechter beurteilt zu werden, als bisher. Als eines der Anzeichen dieser Strömung wollen wir die Aufer¬ stehung Gnus nehmen, die schon jetzt, nach wenigen Wochen, die Aufmerksamkeit aller Freunde der Poesie auf sich gelenkt hat. Kann man eine zu hohe Meinung von dem Berufe der Poesie haben? Schwerlich, denn sie gehört in der That zu den höchsten und folgenreichsten Thätigkeitsformen- Aber man kann sich irren in dem Glauben an die un¬ mittelbare Wirkungsfähigkeit der Poesie, in der Auffassung ihres praktischen Berufes, und das ist der auffälligste Charakterzug des vormärzlichen Geschlechts, der auch bei Gilm zunächst in die Augen fällt. Er sollte ihm zum Verhängnis werden, wie aus unsrer Darstellung hervorgehen wird. Bis zum Jahre 1840 lebte Gilm in Innsbruck als der Sohn eines höhern Justizbeamten und schließlich selbst als Gerichtspraktikant. Tirol ruhte damals ans den Lorbeeren ans, die es sich in den Franzosenkriegen durch seinen heldenmütigen Kampf und seine sagenhafte Treue an die Habsburgische Dynastie erworben hatte. Für die heutige Geschichtsforschung ist es außer Zweifel, daß die Tiroler unter Andreas Hofer hauptsächlich für ihren alten Glauben gekümpft Grenzboten IV. 1888. 74

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/593
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/593>, abgerufen am 02.07.2024.