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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

des modernsten Realismus entsetzlichen Arme" wie eine seelenlose Figur Brot
verleitend (W. Volz), endlich im Tode in der kahlen Klosterzelle, umgeben von
Nonnen und Armen (Jos. Flüggen). Nirgends erheben sich die Künstler zu
einer vou wirklichem Verständnis eingegebenen, lebendigen, individualisirenden
Charakteristik Unsre Zeit ist nicht die Zeit der Heiligen; in der Helldunkeln
Dämmerung, in der die Heiligen zu Hause sind, ist es unsrer Zeit nicht heimlich,
und in dem hellen Tageslichte, das wir lieben, können sie nicht leben.

An die Schwelle der Reformationszeit führt uns zuerst die wiederum schon
vom letzten Jahre her bekannte, vor dem prächtigen Stadtprospekt von Konstanz
zum Scheiterhaufen wandelnde Statue Hussens im Ketzergewande, angeflucht
von einigen Waldarbeitern, die Bündel dürres Holz gesammelt haben und in
die Tiefe des Bildes zum Holzstoß marschiren, begleitet im Hintergrunde im
feierlichem Aufzug von den Vertretern des Konzils -- ein unerschöpfliches
Thema seelischer Konflikte, irrender Leidenschaften, auf einander stoßender welt¬
geschichtlicher Gegensätze, dargestellt von Hellquist mit erschreckender Armut der
Motive und Nüchternheit der Auffassung. Was die Reformationszeit selbst
betrifft, diesen Höhepunkt deutscher Geschichte voll charakteristischer Gestalten,
mächtiger Konflikte, aufleuchtenden seelischen Lebens, so haben sich nur E. Hilde¬
brand und Stelzner mit den schon oft gemalten Genrebildern des in der
Kurrende singenden Knaben Luther und des mit seiner Familie zur Laute
singenden Reformators (die Bilder Hildebrands in Berlin ausgestellt) bis in
den Vorhof gewagt, während Hugo Vogel, der uns zur Berliner Jubiläums-
ausstclluug das mit großem geschichtlichen Sinn charakterisirte Bild von der
Aufnahme französischer Refugies durch den großen Kurfürsten, des schutzlosen,
opferwilligen Idealismus durch die selbstbewußte, aber für des erstere" Hoheit
empfängliche Kraft schenkte, uns die erste protestantische Abendmahlsfeier eines
Herzogs mit seiner Familie und seinem Hofstaat mit all den aus gläubiger
Zuversicht und bangem Schauer gemischten Gefühlen miterleben läßt. Ein
Zeilbild von ergreifender Kraft der Gegensätze hat Albert Keller geschaffen;
auf dem Holzstoß, an den Pfahl gebunden, in weißes Linnen gehüllt wie in
ein Sterbekleid eine jugendliche weibliche Gestalt, frische Anmut und reinste
Unschuld in den geistesabwesenden Zügen. Die in tiefster Erregung sie um¬
gebenden Gruppen empfinden teils inniges Mitleid, das sie ans uns übertragen,
teils zeigen ihre Geberden, daß sie vou leidenschaftlichem blinden Wahn be¬
fangen den kalten Richtern auf den hohen Stufen Recht geben, die hier eine
Hexe zu richten glauben.

Aus dem folgenden Zeitabschnitt erzählen nur Kriegsbilder, die wir mit
denen aus deu Befreiungskriegen und aus dem Jahre 1870 zusammenfassen
können, da es sich bei ihnen allen um Historie im strengen Sinne nicht han¬
delt. Der Künstler will die Leidenschaft des Kampfes oder das Malerische
der Szene darstellen, wenn ihm nicht, wie bei Röchlings Verennung des um-


Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

des modernsten Realismus entsetzlichen Arme» wie eine seelenlose Figur Brot
verleitend (W. Volz), endlich im Tode in der kahlen Klosterzelle, umgeben von
Nonnen und Armen (Jos. Flüggen). Nirgends erheben sich die Künstler zu
einer vou wirklichem Verständnis eingegebenen, lebendigen, individualisirenden
Charakteristik Unsre Zeit ist nicht die Zeit der Heiligen; in der Helldunkeln
Dämmerung, in der die Heiligen zu Hause sind, ist es unsrer Zeit nicht heimlich,
und in dem hellen Tageslichte, das wir lieben, können sie nicht leben.

An die Schwelle der Reformationszeit führt uns zuerst die wiederum schon
vom letzten Jahre her bekannte, vor dem prächtigen Stadtprospekt von Konstanz
zum Scheiterhaufen wandelnde Statue Hussens im Ketzergewande, angeflucht
von einigen Waldarbeitern, die Bündel dürres Holz gesammelt haben und in
die Tiefe des Bildes zum Holzstoß marschiren, begleitet im Hintergrunde im
feierlichem Aufzug von den Vertretern des Konzils — ein unerschöpfliches
Thema seelischer Konflikte, irrender Leidenschaften, auf einander stoßender welt¬
geschichtlicher Gegensätze, dargestellt von Hellquist mit erschreckender Armut der
Motive und Nüchternheit der Auffassung. Was die Reformationszeit selbst
betrifft, diesen Höhepunkt deutscher Geschichte voll charakteristischer Gestalten,
mächtiger Konflikte, aufleuchtenden seelischen Lebens, so haben sich nur E. Hilde¬
brand und Stelzner mit den schon oft gemalten Genrebildern des in der
Kurrende singenden Knaben Luther und des mit seiner Familie zur Laute
singenden Reformators (die Bilder Hildebrands in Berlin ausgestellt) bis in
den Vorhof gewagt, während Hugo Vogel, der uns zur Berliner Jubiläums-
ausstclluug das mit großem geschichtlichen Sinn charakterisirte Bild von der
Aufnahme französischer Refugies durch den großen Kurfürsten, des schutzlosen,
opferwilligen Idealismus durch die selbstbewußte, aber für des erstere» Hoheit
empfängliche Kraft schenkte, uns die erste protestantische Abendmahlsfeier eines
Herzogs mit seiner Familie und seinem Hofstaat mit all den aus gläubiger
Zuversicht und bangem Schauer gemischten Gefühlen miterleben läßt. Ein
Zeilbild von ergreifender Kraft der Gegensätze hat Albert Keller geschaffen;
auf dem Holzstoß, an den Pfahl gebunden, in weißes Linnen gehüllt wie in
ein Sterbekleid eine jugendliche weibliche Gestalt, frische Anmut und reinste
Unschuld in den geistesabwesenden Zügen. Die in tiefster Erregung sie um¬
gebenden Gruppen empfinden teils inniges Mitleid, das sie ans uns übertragen,
teils zeigen ihre Geberden, daß sie vou leidenschaftlichem blinden Wahn be¬
fangen den kalten Richtern auf den hohen Stufen Recht geben, die hier eine
Hexe zu richten glauben.

Aus dem folgenden Zeitabschnitt erzählen nur Kriegsbilder, die wir mit
denen aus deu Befreiungskriegen und aus dem Jahre 1870 zusammenfassen
können, da es sich bei ihnen allen um Historie im strengen Sinne nicht han¬
delt. Der Künstler will die Leidenschaft des Kampfes oder das Malerische
der Szene darstellen, wenn ihm nicht, wie bei Röchlings Verennung des um-


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[0568] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst. des modernsten Realismus entsetzlichen Arme» wie eine seelenlose Figur Brot verleitend (W. Volz), endlich im Tode in der kahlen Klosterzelle, umgeben von Nonnen und Armen (Jos. Flüggen). Nirgends erheben sich die Künstler zu einer vou wirklichem Verständnis eingegebenen, lebendigen, individualisirenden Charakteristik Unsre Zeit ist nicht die Zeit der Heiligen; in der Helldunkeln Dämmerung, in der die Heiligen zu Hause sind, ist es unsrer Zeit nicht heimlich, und in dem hellen Tageslichte, das wir lieben, können sie nicht leben. An die Schwelle der Reformationszeit führt uns zuerst die wiederum schon vom letzten Jahre her bekannte, vor dem prächtigen Stadtprospekt von Konstanz zum Scheiterhaufen wandelnde Statue Hussens im Ketzergewande, angeflucht von einigen Waldarbeitern, die Bündel dürres Holz gesammelt haben und in die Tiefe des Bildes zum Holzstoß marschiren, begleitet im Hintergrunde im feierlichem Aufzug von den Vertretern des Konzils — ein unerschöpfliches Thema seelischer Konflikte, irrender Leidenschaften, auf einander stoßender welt¬ geschichtlicher Gegensätze, dargestellt von Hellquist mit erschreckender Armut der Motive und Nüchternheit der Auffassung. Was die Reformationszeit selbst betrifft, diesen Höhepunkt deutscher Geschichte voll charakteristischer Gestalten, mächtiger Konflikte, aufleuchtenden seelischen Lebens, so haben sich nur E. Hilde¬ brand und Stelzner mit den schon oft gemalten Genrebildern des in der Kurrende singenden Knaben Luther und des mit seiner Familie zur Laute singenden Reformators (die Bilder Hildebrands in Berlin ausgestellt) bis in den Vorhof gewagt, während Hugo Vogel, der uns zur Berliner Jubiläums- ausstclluug das mit großem geschichtlichen Sinn charakterisirte Bild von der Aufnahme französischer Refugies durch den großen Kurfürsten, des schutzlosen, opferwilligen Idealismus durch die selbstbewußte, aber für des erstere» Hoheit empfängliche Kraft schenkte, uns die erste protestantische Abendmahlsfeier eines Herzogs mit seiner Familie und seinem Hofstaat mit all den aus gläubiger Zuversicht und bangem Schauer gemischten Gefühlen miterleben läßt. Ein Zeilbild von ergreifender Kraft der Gegensätze hat Albert Keller geschaffen; auf dem Holzstoß, an den Pfahl gebunden, in weißes Linnen gehüllt wie in ein Sterbekleid eine jugendliche weibliche Gestalt, frische Anmut und reinste Unschuld in den geistesabwesenden Zügen. Die in tiefster Erregung sie um¬ gebenden Gruppen empfinden teils inniges Mitleid, das sie ans uns übertragen, teils zeigen ihre Geberden, daß sie vou leidenschaftlichem blinden Wahn be¬ fangen den kalten Richtern auf den hohen Stufen Recht geben, die hier eine Hexe zu richten glauben. Aus dem folgenden Zeitabschnitt erzählen nur Kriegsbilder, die wir mit denen aus deu Befreiungskriegen und aus dem Jahre 1870 zusammenfassen können, da es sich bei ihnen allen um Historie im strengen Sinne nicht han¬ delt. Der Künstler will die Leidenschaft des Kampfes oder das Malerische der Szene darstellen, wenn ihm nicht, wie bei Röchlings Verennung des um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/568>, abgerufen am 24.08.2024.