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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Halle in der Litteratur.

und der, was dem Pietismus nie gelungen war, wirklich eine theologische
Schule zu bilden verstand, welche denn in der Folge nur zu rasch ihren
pietistischen Ursprung gründlich verleugnete. Aus seiner Schule ging Semler
hervor, der die heutige historische Quellenkritik begründete."

Mit dieser von Kawerau bezeichneten Wendung kam noch vor der Mitte
des Jahrhunderts eine größere geistige Einheit in das Universitäts- und das
litterarische Leben Haltes. Der siegreiche Nationalismus, wie ihn der ehr¬
würdige Semler lauge schon vom Katheder vertrat und durch zahllose Schüler
verbreitete, beherrschte von dieser Zeit an auch die ästhetische und poetische Thätig¬
keit, deren Schauplatz und Mittelpunkt Halle war. Jene halbvergessenen Dichter,
deren Namen in der deutschen Litteraturgeschichte fortklingen, ohne daß selbst
die Kenner dieser Geschichte einen klaren Begriff von ihren Bestrebungen und
Leistungen hätten: die Immanuel Phra, Samuel Gotthold Lange, die Uz,
Götz und Nudnick treten natürlich auch in Kaweraus Buche auf. Sie gewinnen
wieder ein deutlicheres Gesicht für den aufmerksamen Leser und vergegenwärtigen
uns die eigentümliche Entwicklungsperiode der deutschen Poesie, in der die
schüchternen Versuche von Studenten und jungen Magistern eine Bedeutung
hatten und den Weg zur Empfindung und Darstellung des Schönen bahnen
halfen. Die Dichtungen dieser jugendlichen Männer, die ein paar Menschen¬
alter lang das Entzücken kleiner Kreise blieben, liest heute freilich niemand
mehr, und bei aller modischen Vorliebe für die Litteraturgeschichte giebt es eben
sehr wenige Leute, die den Unterschied zwischen dem gemachten, schwülstigen
Pathos des vom Hamburger Opernpoeten zum Hallischen Professor empor¬
gestiegenen Chr. Fr. Hunold (Menantes) und den anakreontischen Versuchen
der späteren Hallischen Dichter oder gar zwischen Uzens "Theodicee" und Götzens
"Mädcheninsel" zu würdigen vermögen. Es ist ein verzweifeltes Ding, an
Blumen, die inzwischen allesamt zu Heu geworden sind, den Unterschied der
Farbe und des Duftes nachweisen zu müssen. Der Verfasser der lebensvollen
Erinnerungen aus Haltes Vergangenheit hätte immerhin diesen jugendlichen
Poeten noch ein paar Worte mehr gönnen und seinerseits an dem noch immer
unvollständigen Nachweis mitarbeiten können, wie nach und nach einige Tropfen
Erlebnisses die nachgeahmte, nachgestammelte Poesie zu färben begannen wie
dunkler Wein das Wasser. Auch die Hallischen Dichterkränzchen -- mochte das
eine zu Milton, das andre zu Hagedorn und den französischen, leicht eleganten
Liedcrsüngern neigen -- rangen mit der langen Gewöhnung an die traditionelle,
unpersönliche, gemachte Poesie, und ihre ersten schüchternen Versuche, eigne
Empfindung, eignen Lebensgenuß auszudrücken, haben zu gleicher Zeit den Reiz
des Rührender und die Komik der Unbeholfenheit. Gewiß war es thöricht,
wenn nachmals der alte Gleim, der einzige von den dichtenden Hallischen
Studenten, dessen Gestalt etwas deutlicher im Gedächtnis der Nachwelt steht,
am herrlichsten, goldensten Tage unsrer Dichtung um die friedfertige Dürftigkeit


Halle in der Litteratur.

und der, was dem Pietismus nie gelungen war, wirklich eine theologische
Schule zu bilden verstand, welche denn in der Folge nur zu rasch ihren
pietistischen Ursprung gründlich verleugnete. Aus seiner Schule ging Semler
hervor, der die heutige historische Quellenkritik begründete."

Mit dieser von Kawerau bezeichneten Wendung kam noch vor der Mitte
des Jahrhunderts eine größere geistige Einheit in das Universitäts- und das
litterarische Leben Haltes. Der siegreiche Nationalismus, wie ihn der ehr¬
würdige Semler lauge schon vom Katheder vertrat und durch zahllose Schüler
verbreitete, beherrschte von dieser Zeit an auch die ästhetische und poetische Thätig¬
keit, deren Schauplatz und Mittelpunkt Halle war. Jene halbvergessenen Dichter,
deren Namen in der deutschen Litteraturgeschichte fortklingen, ohne daß selbst
die Kenner dieser Geschichte einen klaren Begriff von ihren Bestrebungen und
Leistungen hätten: die Immanuel Phra, Samuel Gotthold Lange, die Uz,
Götz und Nudnick treten natürlich auch in Kaweraus Buche auf. Sie gewinnen
wieder ein deutlicheres Gesicht für den aufmerksamen Leser und vergegenwärtigen
uns die eigentümliche Entwicklungsperiode der deutschen Poesie, in der die
schüchternen Versuche von Studenten und jungen Magistern eine Bedeutung
hatten und den Weg zur Empfindung und Darstellung des Schönen bahnen
halfen. Die Dichtungen dieser jugendlichen Männer, die ein paar Menschen¬
alter lang das Entzücken kleiner Kreise blieben, liest heute freilich niemand
mehr, und bei aller modischen Vorliebe für die Litteraturgeschichte giebt es eben
sehr wenige Leute, die den Unterschied zwischen dem gemachten, schwülstigen
Pathos des vom Hamburger Opernpoeten zum Hallischen Professor empor¬
gestiegenen Chr. Fr. Hunold (Menantes) und den anakreontischen Versuchen
der späteren Hallischen Dichter oder gar zwischen Uzens „Theodicee" und Götzens
„Mädcheninsel" zu würdigen vermögen. Es ist ein verzweifeltes Ding, an
Blumen, die inzwischen allesamt zu Heu geworden sind, den Unterschied der
Farbe und des Duftes nachweisen zu müssen. Der Verfasser der lebensvollen
Erinnerungen aus Haltes Vergangenheit hätte immerhin diesen jugendlichen
Poeten noch ein paar Worte mehr gönnen und seinerseits an dem noch immer
unvollständigen Nachweis mitarbeiten können, wie nach und nach einige Tropfen
Erlebnisses die nachgeahmte, nachgestammelte Poesie zu färben begannen wie
dunkler Wein das Wasser. Auch die Hallischen Dichterkränzchen — mochte das
eine zu Milton, das andre zu Hagedorn und den französischen, leicht eleganten
Liedcrsüngern neigen — rangen mit der langen Gewöhnung an die traditionelle,
unpersönliche, gemachte Poesie, und ihre ersten schüchternen Versuche, eigne
Empfindung, eignen Lebensgenuß auszudrücken, haben zu gleicher Zeit den Reiz
des Rührender und die Komik der Unbeholfenheit. Gewiß war es thöricht,
wenn nachmals der alte Gleim, der einzige von den dichtenden Hallischen
Studenten, dessen Gestalt etwas deutlicher im Gedächtnis der Nachwelt steht,
am herrlichsten, goldensten Tage unsrer Dichtung um die friedfertige Dürftigkeit


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[0560] Halle in der Litteratur. und der, was dem Pietismus nie gelungen war, wirklich eine theologische Schule zu bilden verstand, welche denn in der Folge nur zu rasch ihren pietistischen Ursprung gründlich verleugnete. Aus seiner Schule ging Semler hervor, der die heutige historische Quellenkritik begründete." Mit dieser von Kawerau bezeichneten Wendung kam noch vor der Mitte des Jahrhunderts eine größere geistige Einheit in das Universitäts- und das litterarische Leben Haltes. Der siegreiche Nationalismus, wie ihn der ehr¬ würdige Semler lauge schon vom Katheder vertrat und durch zahllose Schüler verbreitete, beherrschte von dieser Zeit an auch die ästhetische und poetische Thätig¬ keit, deren Schauplatz und Mittelpunkt Halle war. Jene halbvergessenen Dichter, deren Namen in der deutschen Litteraturgeschichte fortklingen, ohne daß selbst die Kenner dieser Geschichte einen klaren Begriff von ihren Bestrebungen und Leistungen hätten: die Immanuel Phra, Samuel Gotthold Lange, die Uz, Götz und Nudnick treten natürlich auch in Kaweraus Buche auf. Sie gewinnen wieder ein deutlicheres Gesicht für den aufmerksamen Leser und vergegenwärtigen uns die eigentümliche Entwicklungsperiode der deutschen Poesie, in der die schüchternen Versuche von Studenten und jungen Magistern eine Bedeutung hatten und den Weg zur Empfindung und Darstellung des Schönen bahnen halfen. Die Dichtungen dieser jugendlichen Männer, die ein paar Menschen¬ alter lang das Entzücken kleiner Kreise blieben, liest heute freilich niemand mehr, und bei aller modischen Vorliebe für die Litteraturgeschichte giebt es eben sehr wenige Leute, die den Unterschied zwischen dem gemachten, schwülstigen Pathos des vom Hamburger Opernpoeten zum Hallischen Professor empor¬ gestiegenen Chr. Fr. Hunold (Menantes) und den anakreontischen Versuchen der späteren Hallischen Dichter oder gar zwischen Uzens „Theodicee" und Götzens „Mädcheninsel" zu würdigen vermögen. Es ist ein verzweifeltes Ding, an Blumen, die inzwischen allesamt zu Heu geworden sind, den Unterschied der Farbe und des Duftes nachweisen zu müssen. Der Verfasser der lebensvollen Erinnerungen aus Haltes Vergangenheit hätte immerhin diesen jugendlichen Poeten noch ein paar Worte mehr gönnen und seinerseits an dem noch immer unvollständigen Nachweis mitarbeiten können, wie nach und nach einige Tropfen Erlebnisses die nachgeahmte, nachgestammelte Poesie zu färben begannen wie dunkler Wein das Wasser. Auch die Hallischen Dichterkränzchen — mochte das eine zu Milton, das andre zu Hagedorn und den französischen, leicht eleganten Liedcrsüngern neigen — rangen mit der langen Gewöhnung an die traditionelle, unpersönliche, gemachte Poesie, und ihre ersten schüchternen Versuche, eigne Empfindung, eignen Lebensgenuß auszudrücken, haben zu gleicher Zeit den Reiz des Rührender und die Komik der Unbeholfenheit. Gewiß war es thöricht, wenn nachmals der alte Gleim, der einzige von den dichtenden Hallischen Studenten, dessen Gestalt etwas deutlicher im Gedächtnis der Nachwelt steht, am herrlichsten, goldensten Tage unsrer Dichtung um die friedfertige Dürftigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/560>, abgerufen am 22.07.2024.