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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Halle in der Litteratur.

schaftliche Interesse mehr und mehr abstumpfende Pietismus diesem Prinzipe
zum mindesten keinen Widerstand."

Doch alles das und mehr konnte eine energische und lebensfrohe Welt¬
lichkeit und den rasch emporwachsenden geistlichen Hochmut der Stillen im Lande
auf die Dauer nicht versöhnen, und so sind denn schon die ersten Jahrzehnte
der Hallischen Litteraturgeschichte von grimmigen litterarischen Fehden erfüllt,
die nach der schlimmen Sitte der Zeit auf die persönlichen Verhältnisse und
Schicksale der Befehdeten einwirkten. Längst ehe sich der Schlußstein über den
großartigen Bauten und Stiftungen wölbte, welche Franckes Namen bis heute
im fortwirkenden Andenken halten, sah Thomasius in Franckes religiöser Be¬
triebsamkeit nur noch eine verderbliche Fabrikation von Frömmigkeit und Re¬
ligiosität, die ihn gegen die Franckischcn Anstalten förmlich erbitterte. Dafür
mußte Thomasius selbst noch den großen, mit bedenklichen Mitteln erfochtenen
Sieg und unedlen Triumph der Hallischen Pietisten über den Philosophen Christian
Wolff erleben. Während Francke Gott auf den Knieen dankte, daß es ihm und
seinen Genossen gelungen war, die bekannte brutale Kabinetsordre König Fried¬
rich Wilhelms I. zu erwirken, die Wolff bei Strafe des Stranges aus Halle
wies, hatte er weder die Entrüstung berechnet, die der ganze Vorgang in
der damaligen Welt erweckte, noch die großartige Teilnahme die er den
Schriften des Verfehmtcn damit zuführte, richtig angeschlagen. Kleinlich und
ärmlich, nur an Halle und ihre nächsten Umgebungen denkend, hatten die Halli¬
schen Pietisten nicht den nüchternen Philosophen, sondern sich selbst geschädigt
Kawcrau hebt mit Recht hervor, daß die gewaltsame Vertreibung Wolffs aus
Halle ihm Anhänger im eignen Lager des Pietismus gewann. "Siegmund Jakob
Baumgarten, der ältere Bruder des Philosophen, von Haus aus ein echtes
Kind des Hallischen Pietismus, wurde nun mehr und mehr Pietist und Wolffianer
zugleich. Er, der früher aufs eindringlichste die warme Pektoraltheologie des
Pietismus vertreten hatte, suchte nun für das Lehrsystem der lutherischen Kirche
eine kühle, verstandesmäßige Fassung, schied mehr und mehr alle eigentlich pie¬
tistischen Probleme aus seiner Theologie aus und mühte sich ab, möglichst viel
an der Religion zu erklären. Und zwar operirte er ausschließlich mit der von
Wolff erlernten Methode. Er war es, der den Wolffschen Grundsatz von der
Ermittlung des zureichenden Grundes anch in die Theologie hineintrug und
damit die pietistische Theologie der des Rationalismus mehr und mehr näherte.
Zunächst ist es eine eigentümliche Erscheinung, wie dieser Einfluß der Wolff¬
schen Philosophie auch aus die ganze Persönlichkeit des hervorragenden Theo¬
logen einwirkte. Wie eine Ernüchterung kommt es plötzlich über ihn, es ist,
als sei seine religiöse Temperatur jählings abgekühlt, als sei durch das Streben
nach logischer Schematisirung jedes warme Gefühl in ihm erstickt worden. Und
er nun war es, den den verkümmernder Pietismus Schritt vor Schritt zurück¬
drängte, der bald als das anerkannte Haupt der theologischen Fakultät galt


Halle in der Litteratur.

schaftliche Interesse mehr und mehr abstumpfende Pietismus diesem Prinzipe
zum mindesten keinen Widerstand."

Doch alles das und mehr konnte eine energische und lebensfrohe Welt¬
lichkeit und den rasch emporwachsenden geistlichen Hochmut der Stillen im Lande
auf die Dauer nicht versöhnen, und so sind denn schon die ersten Jahrzehnte
der Hallischen Litteraturgeschichte von grimmigen litterarischen Fehden erfüllt,
die nach der schlimmen Sitte der Zeit auf die persönlichen Verhältnisse und
Schicksale der Befehdeten einwirkten. Längst ehe sich der Schlußstein über den
großartigen Bauten und Stiftungen wölbte, welche Franckes Namen bis heute
im fortwirkenden Andenken halten, sah Thomasius in Franckes religiöser Be¬
triebsamkeit nur noch eine verderbliche Fabrikation von Frömmigkeit und Re¬
ligiosität, die ihn gegen die Franckischcn Anstalten förmlich erbitterte. Dafür
mußte Thomasius selbst noch den großen, mit bedenklichen Mitteln erfochtenen
Sieg und unedlen Triumph der Hallischen Pietisten über den Philosophen Christian
Wolff erleben. Während Francke Gott auf den Knieen dankte, daß es ihm und
seinen Genossen gelungen war, die bekannte brutale Kabinetsordre König Fried¬
rich Wilhelms I. zu erwirken, die Wolff bei Strafe des Stranges aus Halle
wies, hatte er weder die Entrüstung berechnet, die der ganze Vorgang in
der damaligen Welt erweckte, noch die großartige Teilnahme die er den
Schriften des Verfehmtcn damit zuführte, richtig angeschlagen. Kleinlich und
ärmlich, nur an Halle und ihre nächsten Umgebungen denkend, hatten die Halli¬
schen Pietisten nicht den nüchternen Philosophen, sondern sich selbst geschädigt
Kawcrau hebt mit Recht hervor, daß die gewaltsame Vertreibung Wolffs aus
Halle ihm Anhänger im eignen Lager des Pietismus gewann. „Siegmund Jakob
Baumgarten, der ältere Bruder des Philosophen, von Haus aus ein echtes
Kind des Hallischen Pietismus, wurde nun mehr und mehr Pietist und Wolffianer
zugleich. Er, der früher aufs eindringlichste die warme Pektoraltheologie des
Pietismus vertreten hatte, suchte nun für das Lehrsystem der lutherischen Kirche
eine kühle, verstandesmäßige Fassung, schied mehr und mehr alle eigentlich pie¬
tistischen Probleme aus seiner Theologie aus und mühte sich ab, möglichst viel
an der Religion zu erklären. Und zwar operirte er ausschließlich mit der von
Wolff erlernten Methode. Er war es, der den Wolffschen Grundsatz von der
Ermittlung des zureichenden Grundes anch in die Theologie hineintrug und
damit die pietistische Theologie der des Rationalismus mehr und mehr näherte.
Zunächst ist es eine eigentümliche Erscheinung, wie dieser Einfluß der Wolff¬
schen Philosophie auch aus die ganze Persönlichkeit des hervorragenden Theo¬
logen einwirkte. Wie eine Ernüchterung kommt es plötzlich über ihn, es ist,
als sei seine religiöse Temperatur jählings abgekühlt, als sei durch das Streben
nach logischer Schematisirung jedes warme Gefühl in ihm erstickt worden. Und
er nun war es, den den verkümmernder Pietismus Schritt vor Schritt zurück¬
drängte, der bald als das anerkannte Haupt der theologischen Fakultät galt


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[0559] Halle in der Litteratur. schaftliche Interesse mehr und mehr abstumpfende Pietismus diesem Prinzipe zum mindesten keinen Widerstand." Doch alles das und mehr konnte eine energische und lebensfrohe Welt¬ lichkeit und den rasch emporwachsenden geistlichen Hochmut der Stillen im Lande auf die Dauer nicht versöhnen, und so sind denn schon die ersten Jahrzehnte der Hallischen Litteraturgeschichte von grimmigen litterarischen Fehden erfüllt, die nach der schlimmen Sitte der Zeit auf die persönlichen Verhältnisse und Schicksale der Befehdeten einwirkten. Längst ehe sich der Schlußstein über den großartigen Bauten und Stiftungen wölbte, welche Franckes Namen bis heute im fortwirkenden Andenken halten, sah Thomasius in Franckes religiöser Be¬ triebsamkeit nur noch eine verderbliche Fabrikation von Frömmigkeit und Re¬ ligiosität, die ihn gegen die Franckischcn Anstalten förmlich erbitterte. Dafür mußte Thomasius selbst noch den großen, mit bedenklichen Mitteln erfochtenen Sieg und unedlen Triumph der Hallischen Pietisten über den Philosophen Christian Wolff erleben. Während Francke Gott auf den Knieen dankte, daß es ihm und seinen Genossen gelungen war, die bekannte brutale Kabinetsordre König Fried¬ rich Wilhelms I. zu erwirken, die Wolff bei Strafe des Stranges aus Halle wies, hatte er weder die Entrüstung berechnet, die der ganze Vorgang in der damaligen Welt erweckte, noch die großartige Teilnahme die er den Schriften des Verfehmtcn damit zuführte, richtig angeschlagen. Kleinlich und ärmlich, nur an Halle und ihre nächsten Umgebungen denkend, hatten die Halli¬ schen Pietisten nicht den nüchternen Philosophen, sondern sich selbst geschädigt Kawcrau hebt mit Recht hervor, daß die gewaltsame Vertreibung Wolffs aus Halle ihm Anhänger im eignen Lager des Pietismus gewann. „Siegmund Jakob Baumgarten, der ältere Bruder des Philosophen, von Haus aus ein echtes Kind des Hallischen Pietismus, wurde nun mehr und mehr Pietist und Wolffianer zugleich. Er, der früher aufs eindringlichste die warme Pektoraltheologie des Pietismus vertreten hatte, suchte nun für das Lehrsystem der lutherischen Kirche eine kühle, verstandesmäßige Fassung, schied mehr und mehr alle eigentlich pie¬ tistischen Probleme aus seiner Theologie aus und mühte sich ab, möglichst viel an der Religion zu erklären. Und zwar operirte er ausschließlich mit der von Wolff erlernten Methode. Er war es, der den Wolffschen Grundsatz von der Ermittlung des zureichenden Grundes anch in die Theologie hineintrug und damit die pietistische Theologie der des Rationalismus mehr und mehr näherte. Zunächst ist es eine eigentümliche Erscheinung, wie dieser Einfluß der Wolff¬ schen Philosophie auch aus die ganze Persönlichkeit des hervorragenden Theo¬ logen einwirkte. Wie eine Ernüchterung kommt es plötzlich über ihn, es ist, als sei seine religiöse Temperatur jählings abgekühlt, als sei durch das Streben nach logischer Schematisirung jedes warme Gefühl in ihm erstickt worden. Und er nun war es, den den verkümmernder Pietismus Schritt vor Schritt zurück¬ drängte, der bald als das anerkannte Haupt der theologischen Fakultät galt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/559>, abgerufen am 23.07.2024.