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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Hallo in der Litteratur.

faltigsten Bilder ans Hailes Vergangenheit, und wenn sich auch im Eingange
ein Rückblick auf die gelehrten "Schulen" der Saalestadt und am Schlüsse ein
Überblick über die "Theaterhändel", die zu Halle besonders heftig und charak¬
teristisch waren, findet, so erscheinen doch beinahe alle übrigen Skizzen auf
dem Hintergrunde der Hallischen Universität des achtzehnten Jahrhunderts.

Die Universität Halle-Wittenberg nimmt auch heute noch einen hohen
Rang unter den deutschen Hochschulen ein, aber sie trägt das allgemeine Ge¬
präge dieser Hochschulen, sie steht nicht mehr wie zur Zeit ihrer Gründung
und in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im entschiedenen Gegen¬
satze zu den ältern Universitäten. Im gemeinsamen Kampfe gegen die verknöcherte
lutherische Orthodoxie und den Gelchrtenpedcmtismus des siebzehnten Jahr¬
hunderts hatten die beginnende Aufklärung des Verstandes, die durch Chr.
Thomcisius vertreten ward, und der Pietismus, der für Halle in der Person
August Hermann Frcmckes, des Stifters des Waisenhauses, verkörpert erschien,
ein Bündnis geschlossen, das zum raschen und eigenartigen Emporblllhen der
neuen Universität beitrug, aber schwere Zerwürfnisse und Zwistigkeiten zwischen
den Bundesgenossen des Augenblicks in seinem Schoße trug. Die ersten her¬
vorragenden Lehrer der Hallischen Hochschule, eben Thomasius und Francke,
konnten sich, von gleichen Verfolgern bedroht und bedrängt, wohl Rücken an
Rücken gegen eben diese Verfolger stellen, aber sie mußten, sowie sie sich ein¬
ander ins Auge sahen, die innerste Gegensätzlichkeit empfinden. Wohl halfen
nicht nur die gemeinsamen Bedränger, sondern auch gewisse bewußte und un¬
bewußte Übereinstimmungen das wunderliche Bündnis, dem die Universität Halle
ihr Dasein und ihren ersten Glanz dankte, eine Zeitlang festigen. Diese Über¬
einstimmung gab sich vor allem in gewissen pädagogischen Bestrebungen kund.
Kawerau drückt die Verwandtschaft mit dem Satze aus: "Wie Thomasius bei
aller Wissenschaft nur den unmittelbaren Nutzen im Auge hatte und nur eine
praktische Zurichtung der Studirenden anstrebte, so war Franckes Endzweck
Erbauung und Erweckung, nicht aber intensive wissenschaftliche Schulung. Es
war darum auch keineswegs zufällig, daß die junge Hallische Hochschule gleich¬
zeitig die Hochburg des Pietismus und die Hochburg der Aufklärung war.
Thomasius lief tapfer wider den theologischen Positivismus Sturm, während
die Pietisten, denen das Gefühl alles war, gleichgiltig den dogmatischen Satzungen
gegenüberstanden und ihrem Abbröckeln ruhig zusahen. Thomasius wollte eine
verständliche, volkstümliche und praktische Auffassung des Christentums und
durch dasselbe die moralische Veredlung des Volkes, auch die Pietisten strebten
nach einer volkstümlichen Laienreligion, deren Echtheit ihnen allein an ihren
Früchten erkennbar war; gleich Thomasius suchten auch die Pietisten die Kluft
zu überbrücken, durch welche die Wissenschaft vom Leben getrennt war. Und
stritt Thomasius keck und energisch für das Prinzip der freien, allen Über¬
lieferungen prüfend gegenübertretenden Subjektivität, so leistete der das wissen-


Hallo in der Litteratur.

faltigsten Bilder ans Hailes Vergangenheit, und wenn sich auch im Eingange
ein Rückblick auf die gelehrten „Schulen" der Saalestadt und am Schlüsse ein
Überblick über die „Theaterhändel", die zu Halle besonders heftig und charak¬
teristisch waren, findet, so erscheinen doch beinahe alle übrigen Skizzen auf
dem Hintergrunde der Hallischen Universität des achtzehnten Jahrhunderts.

Die Universität Halle-Wittenberg nimmt auch heute noch einen hohen
Rang unter den deutschen Hochschulen ein, aber sie trägt das allgemeine Ge¬
präge dieser Hochschulen, sie steht nicht mehr wie zur Zeit ihrer Gründung
und in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im entschiedenen Gegen¬
satze zu den ältern Universitäten. Im gemeinsamen Kampfe gegen die verknöcherte
lutherische Orthodoxie und den Gelchrtenpedcmtismus des siebzehnten Jahr¬
hunderts hatten die beginnende Aufklärung des Verstandes, die durch Chr.
Thomcisius vertreten ward, und der Pietismus, der für Halle in der Person
August Hermann Frcmckes, des Stifters des Waisenhauses, verkörpert erschien,
ein Bündnis geschlossen, das zum raschen und eigenartigen Emporblllhen der
neuen Universität beitrug, aber schwere Zerwürfnisse und Zwistigkeiten zwischen
den Bundesgenossen des Augenblicks in seinem Schoße trug. Die ersten her¬
vorragenden Lehrer der Hallischen Hochschule, eben Thomasius und Francke,
konnten sich, von gleichen Verfolgern bedroht und bedrängt, wohl Rücken an
Rücken gegen eben diese Verfolger stellen, aber sie mußten, sowie sie sich ein¬
ander ins Auge sahen, die innerste Gegensätzlichkeit empfinden. Wohl halfen
nicht nur die gemeinsamen Bedränger, sondern auch gewisse bewußte und un¬
bewußte Übereinstimmungen das wunderliche Bündnis, dem die Universität Halle
ihr Dasein und ihren ersten Glanz dankte, eine Zeitlang festigen. Diese Über¬
einstimmung gab sich vor allem in gewissen pädagogischen Bestrebungen kund.
Kawerau drückt die Verwandtschaft mit dem Satze aus: „Wie Thomasius bei
aller Wissenschaft nur den unmittelbaren Nutzen im Auge hatte und nur eine
praktische Zurichtung der Studirenden anstrebte, so war Franckes Endzweck
Erbauung und Erweckung, nicht aber intensive wissenschaftliche Schulung. Es
war darum auch keineswegs zufällig, daß die junge Hallische Hochschule gleich¬
zeitig die Hochburg des Pietismus und die Hochburg der Aufklärung war.
Thomasius lief tapfer wider den theologischen Positivismus Sturm, während
die Pietisten, denen das Gefühl alles war, gleichgiltig den dogmatischen Satzungen
gegenüberstanden und ihrem Abbröckeln ruhig zusahen. Thomasius wollte eine
verständliche, volkstümliche und praktische Auffassung des Christentums und
durch dasselbe die moralische Veredlung des Volkes, auch die Pietisten strebten
nach einer volkstümlichen Laienreligion, deren Echtheit ihnen allein an ihren
Früchten erkennbar war; gleich Thomasius suchten auch die Pietisten die Kluft
zu überbrücken, durch welche die Wissenschaft vom Leben getrennt war. Und
stritt Thomasius keck und energisch für das Prinzip der freien, allen Über¬
lieferungen prüfend gegenübertretenden Subjektivität, so leistete der das wissen-


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[0558] Hallo in der Litteratur. faltigsten Bilder ans Hailes Vergangenheit, und wenn sich auch im Eingange ein Rückblick auf die gelehrten „Schulen" der Saalestadt und am Schlüsse ein Überblick über die „Theaterhändel", die zu Halle besonders heftig und charak¬ teristisch waren, findet, so erscheinen doch beinahe alle übrigen Skizzen auf dem Hintergrunde der Hallischen Universität des achtzehnten Jahrhunderts. Die Universität Halle-Wittenberg nimmt auch heute noch einen hohen Rang unter den deutschen Hochschulen ein, aber sie trägt das allgemeine Ge¬ präge dieser Hochschulen, sie steht nicht mehr wie zur Zeit ihrer Gründung und in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im entschiedenen Gegen¬ satze zu den ältern Universitäten. Im gemeinsamen Kampfe gegen die verknöcherte lutherische Orthodoxie und den Gelchrtenpedcmtismus des siebzehnten Jahr¬ hunderts hatten die beginnende Aufklärung des Verstandes, die durch Chr. Thomcisius vertreten ward, und der Pietismus, der für Halle in der Person August Hermann Frcmckes, des Stifters des Waisenhauses, verkörpert erschien, ein Bündnis geschlossen, das zum raschen und eigenartigen Emporblllhen der neuen Universität beitrug, aber schwere Zerwürfnisse und Zwistigkeiten zwischen den Bundesgenossen des Augenblicks in seinem Schoße trug. Die ersten her¬ vorragenden Lehrer der Hallischen Hochschule, eben Thomasius und Francke, konnten sich, von gleichen Verfolgern bedroht und bedrängt, wohl Rücken an Rücken gegen eben diese Verfolger stellen, aber sie mußten, sowie sie sich ein¬ ander ins Auge sahen, die innerste Gegensätzlichkeit empfinden. Wohl halfen nicht nur die gemeinsamen Bedränger, sondern auch gewisse bewußte und un¬ bewußte Übereinstimmungen das wunderliche Bündnis, dem die Universität Halle ihr Dasein und ihren ersten Glanz dankte, eine Zeitlang festigen. Diese Über¬ einstimmung gab sich vor allem in gewissen pädagogischen Bestrebungen kund. Kawerau drückt die Verwandtschaft mit dem Satze aus: „Wie Thomasius bei aller Wissenschaft nur den unmittelbaren Nutzen im Auge hatte und nur eine praktische Zurichtung der Studirenden anstrebte, so war Franckes Endzweck Erbauung und Erweckung, nicht aber intensive wissenschaftliche Schulung. Es war darum auch keineswegs zufällig, daß die junge Hallische Hochschule gleich¬ zeitig die Hochburg des Pietismus und die Hochburg der Aufklärung war. Thomasius lief tapfer wider den theologischen Positivismus Sturm, während die Pietisten, denen das Gefühl alles war, gleichgiltig den dogmatischen Satzungen gegenüberstanden und ihrem Abbröckeln ruhig zusahen. Thomasius wollte eine verständliche, volkstümliche und praktische Auffassung des Christentums und durch dasselbe die moralische Veredlung des Volkes, auch die Pietisten strebten nach einer volkstümlichen Laienreligion, deren Echtheit ihnen allein an ihren Früchten erkennbar war; gleich Thomasius suchten auch die Pietisten die Kluft zu überbrücken, durch welche die Wissenschaft vom Leben getrennt war. Und stritt Thomasius keck und energisch für das Prinzip der freien, allen Über¬ lieferungen prüfend gegenübertretenden Subjektivität, so leistete der das wissen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/558>, abgerufen am 23.07.2024.