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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur.

Beigaben können höchstens von dem Standpunkte aus belobt werden, daß sie
die Atmosphäre wiedergeben helfen, innerhalb deren die Handlung vor sich geht
und möglich ist. Aber die Atmosphäre ist ein vieldeutiges und namentlich
vom Naturalismus mißbrauchtes Wort, und jeder gestaltungskräftige Dichter
von künstlerischem Sinn und Gepräge, wie Fontane unzweifelhaft einer ist, sollte
sich wohl hüten, der "Luft" allzugroße Wichtigkeit beizulegen und jede Beob¬
achtung, jedes Stück Schilderung, das sich zufällig mit seiner Geschichte ver¬
binden läßt, für Luft zu halten, die zur vollen Realität gehöre. Wohin sollen
wir kommen, wenn das schlechthin Nichtige, platt Äußerliche, gemein Alltägliche
immer breiteren Raum in der Darstellung erlangt, wenn sich die Trivialität
der Schnellphotographie auf Schriftsteller von Fontanes Geist und Meister¬
schaft berufen kann? Gewiß wird alles, was von dieser Art in "Irrungen-^
Wirrungen" enthalten ist, durch die gehaltvollen und künstlerisch berechtigten
Teile des kleinen Romans aufgewogen, gewiß versteht Fontane selbst die häßlichen,
staubigen Episoden durch seine Kunst des Vortrags und namentlich durch die
Kunst der Wiedereinfugung in das Ganze annehmbar zu machen. Doch wird
uns jeder Leser beistimmen, daß von diesen Episoden bis zur wahlloser Wirklichkeits¬
schilderung nur noch ein Schritt, nicht einmal ein besonders großer Schritt sei.
Daß es sür Fontane ein Kinderspiel ist, Paul Lindau nach der einen und Max
Kretzer nach der andern Seite hin zu übertrumpfen, glaubt ihm ohnehin jeder¬
mann. Daß er hierin eine poetische Aufgabe und ein künstlerisches Ziel
finden könnte, wird er selbst nicht glauben, und so hoffen wir, daß uns
der Wunsch erfüllt werde, ihm bald in einer Schöpfung wieder zu begegnen, die
alle Vorzüge von "Irrungen -- Wirrungen" ohne die häßlichen und unerquick¬
lichen Beifügungen dieses Romans aufweisen möge.




Litteratur.

Geschichte der französischen Kolonie von Magdeburg. JubWumSschrift von Henri
Tollin. Zwei Baude. Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1886 und 1337.

Zur Jubelfeier des Potsdamer Edikts war dem durch seine umfangreichen
Server-Studien bekannten Verfasser, der früher bereits die Geschichte der Kolonien
von Frankfurt a. d. O., Rheinsberg und andern Städten geschrieben hatte, von
seiner eignen Gemeinde der Auftrag geworden, die zweihundertjährige Geschichte
der Magdeburgischen Kolonie zu beschreiben. Die Arbeit war als Festschrift von
geringem Umfange gedacht worden, aber die überreich fließenden Quellen zwangen
zu einer Erweiterung des ursprünglichen Planes und verlockten zu einer Breite
und Ausführlichkeit, die weit über den durch den Titel bezeichneten Nahmen hin-


Litteratur.

Beigaben können höchstens von dem Standpunkte aus belobt werden, daß sie
die Atmosphäre wiedergeben helfen, innerhalb deren die Handlung vor sich geht
und möglich ist. Aber die Atmosphäre ist ein vieldeutiges und namentlich
vom Naturalismus mißbrauchtes Wort, und jeder gestaltungskräftige Dichter
von künstlerischem Sinn und Gepräge, wie Fontane unzweifelhaft einer ist, sollte
sich wohl hüten, der „Luft" allzugroße Wichtigkeit beizulegen und jede Beob¬
achtung, jedes Stück Schilderung, das sich zufällig mit seiner Geschichte ver¬
binden läßt, für Luft zu halten, die zur vollen Realität gehöre. Wohin sollen
wir kommen, wenn das schlechthin Nichtige, platt Äußerliche, gemein Alltägliche
immer breiteren Raum in der Darstellung erlangt, wenn sich die Trivialität
der Schnellphotographie auf Schriftsteller von Fontanes Geist und Meister¬
schaft berufen kann? Gewiß wird alles, was von dieser Art in „Irrungen-^
Wirrungen" enthalten ist, durch die gehaltvollen und künstlerisch berechtigten
Teile des kleinen Romans aufgewogen, gewiß versteht Fontane selbst die häßlichen,
staubigen Episoden durch seine Kunst des Vortrags und namentlich durch die
Kunst der Wiedereinfugung in das Ganze annehmbar zu machen. Doch wird
uns jeder Leser beistimmen, daß von diesen Episoden bis zur wahlloser Wirklichkeits¬
schilderung nur noch ein Schritt, nicht einmal ein besonders großer Schritt sei.
Daß es sür Fontane ein Kinderspiel ist, Paul Lindau nach der einen und Max
Kretzer nach der andern Seite hin zu übertrumpfen, glaubt ihm ohnehin jeder¬
mann. Daß er hierin eine poetische Aufgabe und ein künstlerisches Ziel
finden könnte, wird er selbst nicht glauben, und so hoffen wir, daß uns
der Wunsch erfüllt werde, ihm bald in einer Schöpfung wieder zu begegnen, die
alle Vorzüge von „Irrungen — Wirrungen" ohne die häßlichen und unerquick¬
lichen Beifügungen dieses Romans aufweisen möge.




Litteratur.

Geschichte der französischen Kolonie von Magdeburg. JubWumSschrift von Henri
Tollin. Zwei Baude. Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1886 und 1337.

Zur Jubelfeier des Potsdamer Edikts war dem durch seine umfangreichen
Server-Studien bekannten Verfasser, der früher bereits die Geschichte der Kolonien
von Frankfurt a. d. O., Rheinsberg und andern Städten geschrieben hatte, von
seiner eignen Gemeinde der Auftrag geworden, die zweihundertjährige Geschichte
der Magdeburgischen Kolonie zu beschreiben. Die Arbeit war als Festschrift von
geringem Umfange gedacht worden, aber die überreich fließenden Quellen zwangen
zu einer Erweiterung des ursprünglichen Planes und verlockten zu einer Breite
und Ausführlichkeit, die weit über den durch den Titel bezeichneten Nahmen hin-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/55>, abgerufen am 02.07.2024.