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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur.

ausgehen. Bei Abschluß des ersten. 47 Bogen starken Bandes hoffte der Ver¬
fasser noch, in einem zweiten den Stoff bewältigen und damit die Arbeit voll¬
enden zu können; aber selbst dieser zweite Band führt erst bis an die Schwelle
der eigentlichen Aufgabe, die Geschichte der Magdeburgischen Kolonie, deren
eingehende Darstellung erst einem dritten und letzten Buche vorbehalten ist. Vor¬
teile und Nachteile eines solchen Werdeprozesses liegen auf der Hand: so sehr wir
auf der einen Seite an Fülle des Stoffes und interessanten Einzelheiten gewonnen
haben, so sehr mußte auf der andern Seite bei diesen über der Arbeit anschwellen¬
den und die Grenzen des Planes fortwährend verschiebenden Stoffmassen die Klar¬
heit und Anschaulichkeit der Darstellung leiden. Der Verfasser selbst ist sich dieses
letzteren Uebelstandes wohl bewußt; wenn er aber etwaige Einwände dagegen damit
abzuweisen sucht, daß er bemerkt, er habe nicht gelernt, für das große Publikum
zu schreiben, und auch bei dieser Arbeit hätten ihm, außer den Mitgliedern seiner
Gemeinde, vornehmlich die Männer der Wissenschaft vorgeschwebt, so ist diese
Rechtfertigung doch einigermaßen bedenklich. Denn die Zeiten, wo verworrene Form
und Mangel an klarer Gestaltung als vvllgiltige Zeichen der Wissenschaftlichkeit
galten, sind doch glücklicherweise vorüber, und gerade bei jeder geschichtlichen Arbeit
gilt als Grundbedingung die richtige Wertmessung, der sichere Blick für die Höhen
und Tiefen, das Gefühl für Abstufung. Die scharf betonte Anschauung des Ver¬
fassers, daß es ihm als "gewissenlos" erschienen wäre, wenn er von dein Detail,
das er sich durch drei Jahre Quellenstudium errungen, etwas hätte abbröckeln sollen,
hat ihn zu einer verhängnisvollen Ueberschätzung der Einzelheiten verleitet und ihn
veranlaßt, jeden Fund mit gleich liebevoller Ausführlichkeit vor dem Leser auszu¬
breiten; dadurch ist das Buch natürlich mit einem gewaltigen Ballast überladen
und im wesentlichen nur eine reichhaltige Stoffsammlung geworden, die erst durch
das mit dem dritten Bande zu erwartende Register nutzbar gemacht werden wird.
Anderseits ist das Buch freilich gerade durch diese Fülle neu erschlossener Quellen
für die Geschichte des Rcfuge von grundlegender Bedeutung. Nun erst kann die
Einzelforschung, der dieses Buch die Wege gewiesen hat, kräftig einsetzen. Auch
manche bisher dunkle oder nündestens unklare Abschnitte der Kolonistengeschichte
fällt, dank der gründlichen Forschungen Tollins, ein völlig neues Licht. Mit einer
erfreulichen Unbefangenheit lehnt er sich gegen die gedankenlose Abhängigkeit von
der hugenottischen Ueberlieferung und das vielfach beliebte System der Vertuschung
und Mythenbildung auf und zeigt überall das Bestreben nach einer echt wissen¬
schaftlichen Geschichtschreibung. Daß dieses Ideal nicht erreicht worden ist, liegt
im wesentlichen an dem Mangel einer festen künstlerischen Richtschnur, deren auch
der nur für Männer der Wissenschaft schreibende Historiker nicht entraten kann.






Für die Redaktwu verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Will). Grunvw in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig.
Litteratur.

ausgehen. Bei Abschluß des ersten. 47 Bogen starken Bandes hoffte der Ver¬
fasser noch, in einem zweiten den Stoff bewältigen und damit die Arbeit voll¬
enden zu können; aber selbst dieser zweite Band führt erst bis an die Schwelle
der eigentlichen Aufgabe, die Geschichte der Magdeburgischen Kolonie, deren
eingehende Darstellung erst einem dritten und letzten Buche vorbehalten ist. Vor¬
teile und Nachteile eines solchen Werdeprozesses liegen auf der Hand: so sehr wir
auf der einen Seite an Fülle des Stoffes und interessanten Einzelheiten gewonnen
haben, so sehr mußte auf der andern Seite bei diesen über der Arbeit anschwellen¬
den und die Grenzen des Planes fortwährend verschiebenden Stoffmassen die Klar¬
heit und Anschaulichkeit der Darstellung leiden. Der Verfasser selbst ist sich dieses
letzteren Uebelstandes wohl bewußt; wenn er aber etwaige Einwände dagegen damit
abzuweisen sucht, daß er bemerkt, er habe nicht gelernt, für das große Publikum
zu schreiben, und auch bei dieser Arbeit hätten ihm, außer den Mitgliedern seiner
Gemeinde, vornehmlich die Männer der Wissenschaft vorgeschwebt, so ist diese
Rechtfertigung doch einigermaßen bedenklich. Denn die Zeiten, wo verworrene Form
und Mangel an klarer Gestaltung als vvllgiltige Zeichen der Wissenschaftlichkeit
galten, sind doch glücklicherweise vorüber, und gerade bei jeder geschichtlichen Arbeit
gilt als Grundbedingung die richtige Wertmessung, der sichere Blick für die Höhen
und Tiefen, das Gefühl für Abstufung. Die scharf betonte Anschauung des Ver¬
fassers, daß es ihm als „gewissenlos" erschienen wäre, wenn er von dein Detail,
das er sich durch drei Jahre Quellenstudium errungen, etwas hätte abbröckeln sollen,
hat ihn zu einer verhängnisvollen Ueberschätzung der Einzelheiten verleitet und ihn
veranlaßt, jeden Fund mit gleich liebevoller Ausführlichkeit vor dem Leser auszu¬
breiten; dadurch ist das Buch natürlich mit einem gewaltigen Ballast überladen
und im wesentlichen nur eine reichhaltige Stoffsammlung geworden, die erst durch
das mit dem dritten Bande zu erwartende Register nutzbar gemacht werden wird.
Anderseits ist das Buch freilich gerade durch diese Fülle neu erschlossener Quellen
für die Geschichte des Rcfuge von grundlegender Bedeutung. Nun erst kann die
Einzelforschung, der dieses Buch die Wege gewiesen hat, kräftig einsetzen. Auch
manche bisher dunkle oder nündestens unklare Abschnitte der Kolonistengeschichte
fällt, dank der gründlichen Forschungen Tollins, ein völlig neues Licht. Mit einer
erfreulichen Unbefangenheit lehnt er sich gegen die gedankenlose Abhängigkeit von
der hugenottischen Ueberlieferung und das vielfach beliebte System der Vertuschung
und Mythenbildung auf und zeigt überall das Bestreben nach einer echt wissen¬
schaftlichen Geschichtschreibung. Daß dieses Ideal nicht erreicht worden ist, liegt
im wesentlichen an dem Mangel einer festen künstlerischen Richtschnur, deren auch
der nur für Männer der Wissenschaft schreibende Historiker nicht entraten kann.






Für die Redaktwu verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Will). Grunvw in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.
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[0056] Litteratur. ausgehen. Bei Abschluß des ersten. 47 Bogen starken Bandes hoffte der Ver¬ fasser noch, in einem zweiten den Stoff bewältigen und damit die Arbeit voll¬ enden zu können; aber selbst dieser zweite Band führt erst bis an die Schwelle der eigentlichen Aufgabe, die Geschichte der Magdeburgischen Kolonie, deren eingehende Darstellung erst einem dritten und letzten Buche vorbehalten ist. Vor¬ teile und Nachteile eines solchen Werdeprozesses liegen auf der Hand: so sehr wir auf der einen Seite an Fülle des Stoffes und interessanten Einzelheiten gewonnen haben, so sehr mußte auf der andern Seite bei diesen über der Arbeit anschwellen¬ den und die Grenzen des Planes fortwährend verschiebenden Stoffmassen die Klar¬ heit und Anschaulichkeit der Darstellung leiden. Der Verfasser selbst ist sich dieses letzteren Uebelstandes wohl bewußt; wenn er aber etwaige Einwände dagegen damit abzuweisen sucht, daß er bemerkt, er habe nicht gelernt, für das große Publikum zu schreiben, und auch bei dieser Arbeit hätten ihm, außer den Mitgliedern seiner Gemeinde, vornehmlich die Männer der Wissenschaft vorgeschwebt, so ist diese Rechtfertigung doch einigermaßen bedenklich. Denn die Zeiten, wo verworrene Form und Mangel an klarer Gestaltung als vvllgiltige Zeichen der Wissenschaftlichkeit galten, sind doch glücklicherweise vorüber, und gerade bei jeder geschichtlichen Arbeit gilt als Grundbedingung die richtige Wertmessung, der sichere Blick für die Höhen und Tiefen, das Gefühl für Abstufung. Die scharf betonte Anschauung des Ver¬ fassers, daß es ihm als „gewissenlos" erschienen wäre, wenn er von dein Detail, das er sich durch drei Jahre Quellenstudium errungen, etwas hätte abbröckeln sollen, hat ihn zu einer verhängnisvollen Ueberschätzung der Einzelheiten verleitet und ihn veranlaßt, jeden Fund mit gleich liebevoller Ausführlichkeit vor dem Leser auszu¬ breiten; dadurch ist das Buch natürlich mit einem gewaltigen Ballast überladen und im wesentlichen nur eine reichhaltige Stoffsammlung geworden, die erst durch das mit dem dritten Bande zu erwartende Register nutzbar gemacht werden wird. Anderseits ist das Buch freilich gerade durch diese Fülle neu erschlossener Quellen für die Geschichte des Rcfuge von grundlegender Bedeutung. Nun erst kann die Einzelforschung, der dieses Buch die Wege gewiesen hat, kräftig einsetzen. Auch manche bisher dunkle oder nündestens unklare Abschnitte der Kolonistengeschichte fällt, dank der gründlichen Forschungen Tollins, ein völlig neues Licht. Mit einer erfreulichen Unbefangenheit lehnt er sich gegen die gedankenlose Abhängigkeit von der hugenottischen Ueberlieferung und das vielfach beliebte System der Vertuschung und Mythenbildung auf und zeigt überall das Bestreben nach einer echt wissen¬ schaftlichen Geschichtschreibung. Daß dieses Ideal nicht erreicht worden ist, liegt im wesentlichen an dem Mangel einer festen künstlerischen Richtschnur, deren auch der nur für Männer der Wissenschaft schreibende Historiker nicht entraten kann. Für die Redaktwu verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von Fr. Will). Grunvw in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/56>, abgerufen am 30.06.2024.