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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Fontanes Roman Irrungen-Wirrungen.

dem Volke, das seiner eignen schlichten, ernsten Nawr so viel näher gestanden hat;
mit immer wachsender Wehmut vergleicht er in den stillsten Stunden Vergangen¬
heit und Gegenwart. Als echter Dichter hat Fontane der warmherzigen Ber¬
liner Arbeiterin nicht etwa eine widerwärtige Natur gegenübergestellt; Bothos
junge aristokratische Frau ist eine reizende, neckische, koboldartige Erscheinung,
gutherzig-oberflächlich, von der Familie und im Schoße des Reichtums ver¬
wöhnt, voll naiven Selbstbewußtseins, nicht ungebildet, aber ohne besondre
Lust an der Bildung, eine Frau, welche die Mehrzahl von Bothos Kameraden
beglücken würde, deren Vorzügen er alle Gerechtigkeit widerfahren läßt, deren
beste Eigenschaften aber einen Mißklang mit seinem ernsten und schlichten Wesen
geben. Sie "dalbert ein bischen zu viel," sagt einer der in Bothos Hause
verkehrenden Offiziere und trifft damit den wunden Punkt in der Seele des
Freundes, wenn er auch nicht ahnen kaun, daß es die Gestalt des ehedem
geliebten und verlassenen Kindes aus dem Volke ist. die in Bothos Träume tritt.

Indes sich Botho solchergestalt mit Gespenstern der Vergangenheit herum¬
schlägt, hat auch Lene bitteres zu durchleben. Sie hat alles vorher gewußt,
aber doch ihre Stärke, es zu tragen, überschätzt, für sie ist es ein Glück, daß
sie von früh bis spät arbeiten muß. Schließlich nähert sich ihr ein wackerer
Mann, ein tüchtiger Maschinenbauer, der nebenbei ein wenig Sektirer, einer
von den vielen Aposteln im Werkkittel ist, welche neben und trotz den sozia¬
listischen Agitatoren auf Berliner Arbeiterkreise wirken. Gideon Franke weiß
wohl und erfährt es zum Überfluß von Lene selbst, in welchem Verhältnis sie
zu dem jungen Gardeoffizier gestanden hat, die ehrliche Wahrheit und trotz
allem die Bravheit in dieser Natur überwindet seine Gewissensbedenken und rührt
ihn. Er will Lene heiraten, aber sich zuvor mit dem Baron auseinandersetzen,
von ihm vernehmen, was dieser über die ehemalige Geliebte zu sagen hat.
Ein wackerer Mensch, wie anch er ist, wartet er geduldig, bis ihm eine Bade¬
reise der jungen Freifrau Käthe die erwünschte Unterredung mit deren Gemahl
gestattet. Denn der fromme Maschinenbauer beabsichtigt nichts Unliebsames
und vergewissert sich in der einen Unterredung, welche er mit Botho hat,
daß auch der ehemalige Geliebte über Lene nur Gutes, nur das Verheißungs¬
vollste zu sagen hat. Gideon Franke entscheidet sich rasch und heiratet die Ver¬
lassene. Der junge Offizier aber, welcher fühlt, daß er dem neuen Paare, seinem
eignen Weibe und sich selbst etwas schuldig sei, verbrennt das letzte äußere An¬
denken an sein ehemaliges Verhältnis, die wenigen Briefe der armen Lene,
die er bisher noch im geheimsten Fach seines Schreibtisches heilig aufbewahrt
hatte, und nimmt sich vor, zu vergessen. Allein wie ein Klang, der noch lange
nachzittern wird, berührt uns die Schlußszene des Romans. Botho und seine
anmutige junge Frau sitzen mit den Morgenzeitungen beim Frühstück, Käthe
findet in den Zeitungen eine Heiratsanzeige, die ihr auf die Namen hin höchst
komisch erscheint: "Gideon Franke, Magdalene Franke." "Gideon -- welch tacher-


Fontanes Roman Irrungen-Wirrungen.

dem Volke, das seiner eignen schlichten, ernsten Nawr so viel näher gestanden hat;
mit immer wachsender Wehmut vergleicht er in den stillsten Stunden Vergangen¬
heit und Gegenwart. Als echter Dichter hat Fontane der warmherzigen Ber¬
liner Arbeiterin nicht etwa eine widerwärtige Natur gegenübergestellt; Bothos
junge aristokratische Frau ist eine reizende, neckische, koboldartige Erscheinung,
gutherzig-oberflächlich, von der Familie und im Schoße des Reichtums ver¬
wöhnt, voll naiven Selbstbewußtseins, nicht ungebildet, aber ohne besondre
Lust an der Bildung, eine Frau, welche die Mehrzahl von Bothos Kameraden
beglücken würde, deren Vorzügen er alle Gerechtigkeit widerfahren läßt, deren
beste Eigenschaften aber einen Mißklang mit seinem ernsten und schlichten Wesen
geben. Sie „dalbert ein bischen zu viel," sagt einer der in Bothos Hause
verkehrenden Offiziere und trifft damit den wunden Punkt in der Seele des
Freundes, wenn er auch nicht ahnen kaun, daß es die Gestalt des ehedem
geliebten und verlassenen Kindes aus dem Volke ist. die in Bothos Träume tritt.

Indes sich Botho solchergestalt mit Gespenstern der Vergangenheit herum¬
schlägt, hat auch Lene bitteres zu durchleben. Sie hat alles vorher gewußt,
aber doch ihre Stärke, es zu tragen, überschätzt, für sie ist es ein Glück, daß
sie von früh bis spät arbeiten muß. Schließlich nähert sich ihr ein wackerer
Mann, ein tüchtiger Maschinenbauer, der nebenbei ein wenig Sektirer, einer
von den vielen Aposteln im Werkkittel ist, welche neben und trotz den sozia¬
listischen Agitatoren auf Berliner Arbeiterkreise wirken. Gideon Franke weiß
wohl und erfährt es zum Überfluß von Lene selbst, in welchem Verhältnis sie
zu dem jungen Gardeoffizier gestanden hat, die ehrliche Wahrheit und trotz
allem die Bravheit in dieser Natur überwindet seine Gewissensbedenken und rührt
ihn. Er will Lene heiraten, aber sich zuvor mit dem Baron auseinandersetzen,
von ihm vernehmen, was dieser über die ehemalige Geliebte zu sagen hat.
Ein wackerer Mensch, wie anch er ist, wartet er geduldig, bis ihm eine Bade¬
reise der jungen Freifrau Käthe die erwünschte Unterredung mit deren Gemahl
gestattet. Denn der fromme Maschinenbauer beabsichtigt nichts Unliebsames
und vergewissert sich in der einen Unterredung, welche er mit Botho hat,
daß auch der ehemalige Geliebte über Lene nur Gutes, nur das Verheißungs¬
vollste zu sagen hat. Gideon Franke entscheidet sich rasch und heiratet die Ver¬
lassene. Der junge Offizier aber, welcher fühlt, daß er dem neuen Paare, seinem
eignen Weibe und sich selbst etwas schuldig sei, verbrennt das letzte äußere An¬
denken an sein ehemaliges Verhältnis, die wenigen Briefe der armen Lene,
die er bisher noch im geheimsten Fach seines Schreibtisches heilig aufbewahrt
hatte, und nimmt sich vor, zu vergessen. Allein wie ein Klang, der noch lange
nachzittern wird, berührt uns die Schlußszene des Romans. Botho und seine
anmutige junge Frau sitzen mit den Morgenzeitungen beim Frühstück, Käthe
findet in den Zeitungen eine Heiratsanzeige, die ihr auf die Namen hin höchst
komisch erscheint: „Gideon Franke, Magdalene Franke." „Gideon — welch tacher-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/53>, abgerufen am 25.07.2024.