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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die heiligen von Lecco,

stürzenden Regengüsse 2c. ausgespült ist, wo ihm diese Verästelung keinen Schutz
gewährt, geben auch der Bodenfläche einen eigentümlichen Charakter, der durch
das Licht- und Schattenspiel der dichten Belaubung einen hohen Reiz erhält.
Wie glücklich ist der Wanderer über den einzigen Baum, dem die italienische
Waldfreveln gestattet, sich ungestört in Wäldern auszubreiten, weil sein uner¬
schöpflicher Reichtum an Früchten nicht zu entbehren ist!

Es war die Zeit der Kastanienernte, und die Wälder waren belebter, als man
wünschen mochte. Denn nicht nur zogen überall Schaaren stangenbewaffneter
Männer und Weiber einher, die eifrig auf die Bäume losschlugen, ohne sich
darum zu kümmern, ob mit den Früchten auch starke Äste herunterfielen --
sondern zahlreiche Jäger knallten auf jeden Vogel los, der sich blicken ließ,
wenn auch herzlich wenige zu sehen waren, da die Volkssitte keine Schonung
kennt, und jedes gefiederte Wesen vogelfrei ist. Oben wurde es stiller, bis
endlich das in tiefster Einsamkeit liegende umfangreiche Kloster erreicht war.

Die Aussicht wird von wenigen Punkten in den Voralpen erreicht. Auf
der einen Seite die unendliche lombardische Ebene mit Mailand und seinem
Dome, auf der andern die Hügel- und Bergketten der Alpen, und endlich in
der Ferne die Schneeberge, welche den Horizont abschließen -- kurz ein An¬
blick, der über so manche Unbequemlichkeiten hinweghebt, die das Reisen in
den italienischen Alpen mit sich bringt.

Nicht nur weiß niemand, ob z. B. eine sogenannte Diligence wirklich
noch vorhanden ist, und wann sie abgeht oder ankommt -- das sind alte
Leiden, die jeder kennt, der Italien besucht hat; nein, auch die Eisenbahnen
fangen an saumselig und faul zu werden. So wurde am 8. September d. I.
die Bahnstrecke Gravellona-Dono d'Ossola eröffnet, aber noch 14 Tage später
gab es keinen öffentlich bekannt gemachten Fahrplan, und wer die Bahn benutzen
wollte, war auf Hörensagen angewiesen. Zum Ersatz und wie zur Verspottung
wurde auf allen norditalienischen Stationen eine aus Florenz vom 15. Scptbr.
datirte Bekanntmachung angeschlagen, worin ein bis ins Einzelste genauer
Tarif über die Lieferung von Gepäckstücken ins Haus von der Verwaltung der
erwähnten neuen Bahn festgesetzt war.

Von allen solchen Sorgen wissen die acht "reformirten Benediktiner," die
das Kloster bewohnen, nichts. Die Welt unten interessirt sie nicht; nur ein
Ereignis regte sie auf und gab ihnen eine Reihe nicht abreißender Fragen ein:
Ist es wahr, daß der deutsche Kaiser nach Rom kommt? Welchen Weg wird
er nehmen? Geht er über Lecco, und sehen wir unten im Thale seinen Zug
vorbeifahren? Groß war die Enttäuschung, als sie hören mußten, daß dazu
keine Aussicht vorhanden sei.

Italien ist das Land der Überraschungen und des Ungewissen. Ueberall
im Addathale giebt es den schauderhaften Wein, den die Sorglosigkeit der
Weinbauern aus den köstlichen Trauben zu keltern versteht, mit welchem die


Die heiligen von Lecco,

stürzenden Regengüsse 2c. ausgespült ist, wo ihm diese Verästelung keinen Schutz
gewährt, geben auch der Bodenfläche einen eigentümlichen Charakter, der durch
das Licht- und Schattenspiel der dichten Belaubung einen hohen Reiz erhält.
Wie glücklich ist der Wanderer über den einzigen Baum, dem die italienische
Waldfreveln gestattet, sich ungestört in Wäldern auszubreiten, weil sein uner¬
schöpflicher Reichtum an Früchten nicht zu entbehren ist!

Es war die Zeit der Kastanienernte, und die Wälder waren belebter, als man
wünschen mochte. Denn nicht nur zogen überall Schaaren stangenbewaffneter
Männer und Weiber einher, die eifrig auf die Bäume losschlugen, ohne sich
darum zu kümmern, ob mit den Früchten auch starke Äste herunterfielen —
sondern zahlreiche Jäger knallten auf jeden Vogel los, der sich blicken ließ,
wenn auch herzlich wenige zu sehen waren, da die Volkssitte keine Schonung
kennt, und jedes gefiederte Wesen vogelfrei ist. Oben wurde es stiller, bis
endlich das in tiefster Einsamkeit liegende umfangreiche Kloster erreicht war.

Die Aussicht wird von wenigen Punkten in den Voralpen erreicht. Auf
der einen Seite die unendliche lombardische Ebene mit Mailand und seinem
Dome, auf der andern die Hügel- und Bergketten der Alpen, und endlich in
der Ferne die Schneeberge, welche den Horizont abschließen — kurz ein An¬
blick, der über so manche Unbequemlichkeiten hinweghebt, die das Reisen in
den italienischen Alpen mit sich bringt.

Nicht nur weiß niemand, ob z. B. eine sogenannte Diligence wirklich
noch vorhanden ist, und wann sie abgeht oder ankommt — das sind alte
Leiden, die jeder kennt, der Italien besucht hat; nein, auch die Eisenbahnen
fangen an saumselig und faul zu werden. So wurde am 8. September d. I.
die Bahnstrecke Gravellona-Dono d'Ossola eröffnet, aber noch 14 Tage später
gab es keinen öffentlich bekannt gemachten Fahrplan, und wer die Bahn benutzen
wollte, war auf Hörensagen angewiesen. Zum Ersatz und wie zur Verspottung
wurde auf allen norditalienischen Stationen eine aus Florenz vom 15. Scptbr.
datirte Bekanntmachung angeschlagen, worin ein bis ins Einzelste genauer
Tarif über die Lieferung von Gepäckstücken ins Haus von der Verwaltung der
erwähnten neuen Bahn festgesetzt war.

Von allen solchen Sorgen wissen die acht „reformirten Benediktiner," die
das Kloster bewohnen, nichts. Die Welt unten interessirt sie nicht; nur ein
Ereignis regte sie auf und gab ihnen eine Reihe nicht abreißender Fragen ein:
Ist es wahr, daß der deutsche Kaiser nach Rom kommt? Welchen Weg wird
er nehmen? Geht er über Lecco, und sehen wir unten im Thale seinen Zug
vorbeifahren? Groß war die Enttäuschung, als sie hören mußten, daß dazu
keine Aussicht vorhanden sei.

Italien ist das Land der Überraschungen und des Ungewissen. Ueberall
im Addathale giebt es den schauderhaften Wein, den die Sorglosigkeit der
Weinbauern aus den köstlichen Trauben zu keltern versteht, mit welchem die


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[0528] Die heiligen von Lecco, stürzenden Regengüsse 2c. ausgespült ist, wo ihm diese Verästelung keinen Schutz gewährt, geben auch der Bodenfläche einen eigentümlichen Charakter, der durch das Licht- und Schattenspiel der dichten Belaubung einen hohen Reiz erhält. Wie glücklich ist der Wanderer über den einzigen Baum, dem die italienische Waldfreveln gestattet, sich ungestört in Wäldern auszubreiten, weil sein uner¬ schöpflicher Reichtum an Früchten nicht zu entbehren ist! Es war die Zeit der Kastanienernte, und die Wälder waren belebter, als man wünschen mochte. Denn nicht nur zogen überall Schaaren stangenbewaffneter Männer und Weiber einher, die eifrig auf die Bäume losschlugen, ohne sich darum zu kümmern, ob mit den Früchten auch starke Äste herunterfielen — sondern zahlreiche Jäger knallten auf jeden Vogel los, der sich blicken ließ, wenn auch herzlich wenige zu sehen waren, da die Volkssitte keine Schonung kennt, und jedes gefiederte Wesen vogelfrei ist. Oben wurde es stiller, bis endlich das in tiefster Einsamkeit liegende umfangreiche Kloster erreicht war. Die Aussicht wird von wenigen Punkten in den Voralpen erreicht. Auf der einen Seite die unendliche lombardische Ebene mit Mailand und seinem Dome, auf der andern die Hügel- und Bergketten der Alpen, und endlich in der Ferne die Schneeberge, welche den Horizont abschließen — kurz ein An¬ blick, der über so manche Unbequemlichkeiten hinweghebt, die das Reisen in den italienischen Alpen mit sich bringt. Nicht nur weiß niemand, ob z. B. eine sogenannte Diligence wirklich noch vorhanden ist, und wann sie abgeht oder ankommt — das sind alte Leiden, die jeder kennt, der Italien besucht hat; nein, auch die Eisenbahnen fangen an saumselig und faul zu werden. So wurde am 8. September d. I. die Bahnstrecke Gravellona-Dono d'Ossola eröffnet, aber noch 14 Tage später gab es keinen öffentlich bekannt gemachten Fahrplan, und wer die Bahn benutzen wollte, war auf Hörensagen angewiesen. Zum Ersatz und wie zur Verspottung wurde auf allen norditalienischen Stationen eine aus Florenz vom 15. Scptbr. datirte Bekanntmachung angeschlagen, worin ein bis ins Einzelste genauer Tarif über die Lieferung von Gepäckstücken ins Haus von der Verwaltung der erwähnten neuen Bahn festgesetzt war. Von allen solchen Sorgen wissen die acht „reformirten Benediktiner," die das Kloster bewohnen, nichts. Die Welt unten interessirt sie nicht; nur ein Ereignis regte sie auf und gab ihnen eine Reihe nicht abreißender Fragen ein: Ist es wahr, daß der deutsche Kaiser nach Rom kommt? Welchen Weg wird er nehmen? Geht er über Lecco, und sehen wir unten im Thale seinen Zug vorbeifahren? Groß war die Enttäuschung, als sie hören mußten, daß dazu keine Aussicht vorhanden sei. Italien ist das Land der Überraschungen und des Ungewissen. Ueberall im Addathale giebt es den schauderhaften Wein, den die Sorglosigkeit der Weinbauern aus den köstlichen Trauben zu keltern versteht, mit welchem die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/528>, abgerufen am 22.07.2024.