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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Heiligen von Teano.

nahm der Wirt die Bestellung an und begab sich dann, mürrisch über die vielen
Unterbrechungen, zu seinen Bocciakugeln und Spielgefährten zurück. Die Frauen
waren längst fortgegangen, als er sich plötzlich an die Stirn schlug und sagte:
"Nun habe ich vergessen, zu fragen, wie sie^ heißen! Für wen soll der Priester
die Messe lesen? Ach was: bezahlt ist sie."

Die Hauptthaten des Heiligen, wie sie die buntbemalten hölzernen Figuren¬
gruppen darstellen, beziehen sich auf eine Thätigkeit sür Erziehung von Waisen¬
kindern, die er aber auch in wunderbarer Weise vor Gefahren schützt: z. B.
verjagt er durch das Zeichen des Kreuzes Wölfe, welche die Kinder fressen
wollen. Wer er aber eigentlich war, darüber wußte weder der seinem Heilig-
thume so nahe stehende Wirt, noch sonst jemand in der Gegend irgend etwas,
und doch war es offenbar ein seiner Zeit sehr bedeutender und interessanter Mann.

Freilich heißt er gar nicht Gerolamo Miami, was nur eine Abkürzung
ist, sondern gehört zu einer alten, wie es scheint, im Anfange des vorigen Jahr¬
hunderts ausgestorbenen, venetianischen Familie Namens Emiliani. Seine
Mutter war eine Morosini. Im Jahre 1481 geboren, wurde er, nachdem er
der Republik in verschiedenen Stellungen gedient hatte, bei der Belagerung von
Ccistelnuovo durch die Truppen Maximilians gefangen genommen, aber in
wunderbarer Weise befreit. Darauf entsagte er der Welt, und widmete sich ganz
der Waisenerziehung. Allmählich fanden sich Genossen zu ihm, bis er im Jahre
1831 in Sommasca, zwischen Mailand und Bergamo, den Orden der Llsrioi
reguläres von Sommasca stiftete, den die Päpste Paul III., Paul IV. und
Pius V. bestätigten. Gestorben ist er im Jahre 1537.

Man sieht, Gerolamo ist ein rein venetianischer Heiliger: in Venedig ge¬
boren, legt er sein Ordenshaus auf venetianischen Gebiete an. Schwerlich
dürste denn auch seine Übersiedelung auf Mailänder Gebiet früher als in un¬
serer Zeit erfolgt sein. Wer ihn aber dahin versetzt hat, wußte mir niemand
zu sagen. Kirche und Kapellen sind modern. Vielleicht ist auch er -- in seiner
Mailänder Gestalt -- nur ein Geschöpf dunkler Erinnerungen an Manzonische
Charaktere und Vorgänge; denn in einer Kapelle tröstet und begräbt er Pest¬
kranke, die durch den bekannten brianzuolischen Haarschmuck ausdrücklich als
Mailänder bezeichnet sind.

Noch sehr viel genußreicher ist der Besuch des Klosters San Ginnesio.
Die Bergkette, welche die Bricmza im Osten begrenzt, läuft von ihrer höchsten
Erhebung, dem Monte Baro, gegenüber von Lecco, nach Süden, nach der lom¬
bardischen Ebene, in immer niedriger werdenden Erhebungen aus. Die letzte
bedeutende derselben ist der Berg, auf welchem San Ginnesio liegt.

Von Airuno, einer Eisenbahnstation der Linie Lecco-Mailand aus, steigt
man durch dichte Kastanienwaldungen über Aziruno zu der kuppenförmigen
Bergspitze, die etwa 850 Meter über dem Meere liegt. Die krummen Baum¬
wurzeln, die den Erdboden zum Teil festhalten, während er durch die herab-


Die Heiligen von Teano.

nahm der Wirt die Bestellung an und begab sich dann, mürrisch über die vielen
Unterbrechungen, zu seinen Bocciakugeln und Spielgefährten zurück. Die Frauen
waren längst fortgegangen, als er sich plötzlich an die Stirn schlug und sagte:
„Nun habe ich vergessen, zu fragen, wie sie^ heißen! Für wen soll der Priester
die Messe lesen? Ach was: bezahlt ist sie."

Die Hauptthaten des Heiligen, wie sie die buntbemalten hölzernen Figuren¬
gruppen darstellen, beziehen sich auf eine Thätigkeit sür Erziehung von Waisen¬
kindern, die er aber auch in wunderbarer Weise vor Gefahren schützt: z. B.
verjagt er durch das Zeichen des Kreuzes Wölfe, welche die Kinder fressen
wollen. Wer er aber eigentlich war, darüber wußte weder der seinem Heilig-
thume so nahe stehende Wirt, noch sonst jemand in der Gegend irgend etwas,
und doch war es offenbar ein seiner Zeit sehr bedeutender und interessanter Mann.

Freilich heißt er gar nicht Gerolamo Miami, was nur eine Abkürzung
ist, sondern gehört zu einer alten, wie es scheint, im Anfange des vorigen Jahr¬
hunderts ausgestorbenen, venetianischen Familie Namens Emiliani. Seine
Mutter war eine Morosini. Im Jahre 1481 geboren, wurde er, nachdem er
der Republik in verschiedenen Stellungen gedient hatte, bei der Belagerung von
Ccistelnuovo durch die Truppen Maximilians gefangen genommen, aber in
wunderbarer Weise befreit. Darauf entsagte er der Welt, und widmete sich ganz
der Waisenerziehung. Allmählich fanden sich Genossen zu ihm, bis er im Jahre
1831 in Sommasca, zwischen Mailand und Bergamo, den Orden der Llsrioi
reguläres von Sommasca stiftete, den die Päpste Paul III., Paul IV. und
Pius V. bestätigten. Gestorben ist er im Jahre 1537.

Man sieht, Gerolamo ist ein rein venetianischer Heiliger: in Venedig ge¬
boren, legt er sein Ordenshaus auf venetianischen Gebiete an. Schwerlich
dürste denn auch seine Übersiedelung auf Mailänder Gebiet früher als in un¬
serer Zeit erfolgt sein. Wer ihn aber dahin versetzt hat, wußte mir niemand
zu sagen. Kirche und Kapellen sind modern. Vielleicht ist auch er — in seiner
Mailänder Gestalt — nur ein Geschöpf dunkler Erinnerungen an Manzonische
Charaktere und Vorgänge; denn in einer Kapelle tröstet und begräbt er Pest¬
kranke, die durch den bekannten brianzuolischen Haarschmuck ausdrücklich als
Mailänder bezeichnet sind.

Noch sehr viel genußreicher ist der Besuch des Klosters San Ginnesio.
Die Bergkette, welche die Bricmza im Osten begrenzt, läuft von ihrer höchsten
Erhebung, dem Monte Baro, gegenüber von Lecco, nach Süden, nach der lom¬
bardischen Ebene, in immer niedriger werdenden Erhebungen aus. Die letzte
bedeutende derselben ist der Berg, auf welchem San Ginnesio liegt.

Von Airuno, einer Eisenbahnstation der Linie Lecco-Mailand aus, steigt
man durch dichte Kastanienwaldungen über Aziruno zu der kuppenförmigen
Bergspitze, die etwa 850 Meter über dem Meere liegt. Die krummen Baum¬
wurzeln, die den Erdboden zum Teil festhalten, während er durch die herab-


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[0527] Die Heiligen von Teano. nahm der Wirt die Bestellung an und begab sich dann, mürrisch über die vielen Unterbrechungen, zu seinen Bocciakugeln und Spielgefährten zurück. Die Frauen waren längst fortgegangen, als er sich plötzlich an die Stirn schlug und sagte: „Nun habe ich vergessen, zu fragen, wie sie^ heißen! Für wen soll der Priester die Messe lesen? Ach was: bezahlt ist sie." Die Hauptthaten des Heiligen, wie sie die buntbemalten hölzernen Figuren¬ gruppen darstellen, beziehen sich auf eine Thätigkeit sür Erziehung von Waisen¬ kindern, die er aber auch in wunderbarer Weise vor Gefahren schützt: z. B. verjagt er durch das Zeichen des Kreuzes Wölfe, welche die Kinder fressen wollen. Wer er aber eigentlich war, darüber wußte weder der seinem Heilig- thume so nahe stehende Wirt, noch sonst jemand in der Gegend irgend etwas, und doch war es offenbar ein seiner Zeit sehr bedeutender und interessanter Mann. Freilich heißt er gar nicht Gerolamo Miami, was nur eine Abkürzung ist, sondern gehört zu einer alten, wie es scheint, im Anfange des vorigen Jahr¬ hunderts ausgestorbenen, venetianischen Familie Namens Emiliani. Seine Mutter war eine Morosini. Im Jahre 1481 geboren, wurde er, nachdem er der Republik in verschiedenen Stellungen gedient hatte, bei der Belagerung von Ccistelnuovo durch die Truppen Maximilians gefangen genommen, aber in wunderbarer Weise befreit. Darauf entsagte er der Welt, und widmete sich ganz der Waisenerziehung. Allmählich fanden sich Genossen zu ihm, bis er im Jahre 1831 in Sommasca, zwischen Mailand und Bergamo, den Orden der Llsrioi reguläres von Sommasca stiftete, den die Päpste Paul III., Paul IV. und Pius V. bestätigten. Gestorben ist er im Jahre 1537. Man sieht, Gerolamo ist ein rein venetianischer Heiliger: in Venedig ge¬ boren, legt er sein Ordenshaus auf venetianischen Gebiete an. Schwerlich dürste denn auch seine Übersiedelung auf Mailänder Gebiet früher als in un¬ serer Zeit erfolgt sein. Wer ihn aber dahin versetzt hat, wußte mir niemand zu sagen. Kirche und Kapellen sind modern. Vielleicht ist auch er — in seiner Mailänder Gestalt — nur ein Geschöpf dunkler Erinnerungen an Manzonische Charaktere und Vorgänge; denn in einer Kapelle tröstet und begräbt er Pest¬ kranke, die durch den bekannten brianzuolischen Haarschmuck ausdrücklich als Mailänder bezeichnet sind. Noch sehr viel genußreicher ist der Besuch des Klosters San Ginnesio. Die Bergkette, welche die Bricmza im Osten begrenzt, läuft von ihrer höchsten Erhebung, dem Monte Baro, gegenüber von Lecco, nach Süden, nach der lom¬ bardischen Ebene, in immer niedriger werdenden Erhebungen aus. Die letzte bedeutende derselben ist der Berg, auf welchem San Ginnesio liegt. Von Airuno, einer Eisenbahnstation der Linie Lecco-Mailand aus, steigt man durch dichte Kastanienwaldungen über Aziruno zu der kuppenförmigen Bergspitze, die etwa 850 Meter über dem Meere liegt. Die krummen Baum¬ wurzeln, die den Erdboden zum Teil festhalten, während er durch die herab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/527>, abgerufen am 22.07.2024.