Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.Fontanes Roman Irrungen--Wirrungen. Dichter, daß es darüber hinaus Eindrücke des Schönen, weihevoll Erhebenden, des Die kurze Geschichte spielt im heutigen Berlin, und zwar auf dem Hinter¬ Fontanes Roman Irrungen—Wirrungen. Dichter, daß es darüber hinaus Eindrücke des Schönen, weihevoll Erhebenden, des Die kurze Geschichte spielt im heutigen Berlin, und zwar auf dem Hinter¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0051" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203486"/> <fw type="header" place="top"> Fontanes Roman Irrungen—Wirrungen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_104" prev="#ID_103"> Dichter, daß es darüber hinaus Eindrücke des Schönen, weihevoll Erhebenden, des<lb/> tragisch Erschütternden und stimmungsvoll Anmutigen giebt, aber er scheint sie<lb/> nicht mehr zu erstreben. Hat es ihm der Zauber der äußern Mannigfaltigkeit der<lb/> großen Reichshauptstadt angethan, die er besser kennt, als die Mehrzahl derer,<lb/> welche sie zum Vorder-, Mittel- oder Hintergrunde ihrer Darstellungen nehmen ?<lb/> Reizt es ihn nur noch die kleinen Welten innerhalb dieser Welt zu schildern?<lb/> Oder ist er gegen die Phrase, die sich für Poesie geben mochte, in dem Grade<lb/> mißtrauisch geworden, daß er auch der wirklichen Poesie, die erhöhten Ausdrucks<lb/> bedarf, aus dem Wege geht? Oder will er gar, wie gewisse Kritiker behaupten<lb/> (die dabei Wohl mehr die Erzählung „Unter dem Birnbaum" als den neuesten<lb/> Roman im Auge hatten), mit den Naturalisten des jüngsten Schlages und<lb/> Stiles um die Wette laufen? Im Ernst dürfte ihm dabei der Atem rasch aus¬<lb/> gehen, denn was hätte ein Schriftsteller von Fontanes Art, eine dichterische<lb/> Natur, die nach innern: Zwang das Reizvolle und Liebenswürdige, das Edle<lb/> und Feine.selbst in den unscheinbarsten Gestalten sehen muß, was hätte ein irener<lb/> Beobachter der ganzen Natur, für den das Wirkliche nicht erst mit dem Schmutz<lb/> oder der Krankheit anhebt, mit den Wahrheitsschilderern gemein, die wie die<lb/> apokalyptischen Reiter den Hunger, den Krieg, die Pest und den Tod in die<lb/> Litteratur tragen möchten, in Wahrheit aber ganz andre Dinge hereintragen?<lb/> Sicher nichts, und doch macht sich in Fontanes neuesten Werken, wie in denen<lb/> manches andern Schriftstellers, eine gewisse Einwirkung, nicht der naturalistischen<lb/> Schule, aber der Zeitstimmung geltend. Ein beinahe unwiderstehlicher Zug<lb/> führt die Poeten von den Hauptwegen der Dichtung hinweg auf Nebenpfade,<lb/> bei denen das Ziel in Dunkel oder Dämmerung liegt. In dem Drange nach neuen<lb/> Motiven, nach Offenbarung seither nicht beachteter Vorgänge und Stimmungen/<lb/> in der Sehnsucht nach frischen Wirkungen, in einem stillen Verlangen nach<lb/> Gerechtigkeit für Tausende von unpoetischen Lebenserscheinungen sind die<lb/> Schlüssel sür gewisse Erzählungen und Schauspiele vorhanden, denen wir mit<lb/> sehr geteilter Empfindung gegenüberstehen. Gewiß müssen Neuheit, Frische und<lb/> das poetische Licht über den Dingen zuerst und zuletzt immer aus der Seele des<lb/> Dichters kommen aber schlechthin verwerfen läßt sich der erhöhte Trieb des<lb/> Beobachters und Vergleichens eben auch nicht, welcher durch unsre realistische<lb/> Erzählungskunst geht und ein Werk wie Irrungen^— Wirrungen von<lb/> Theodor Fontane (Leipzig, F. W. Steffens Verlag 1838) allzustark erfüllt.</p><lb/> <p xml:id="ID_105" next="#ID_106"> Die kurze Geschichte spielt im heutigen Berlin, und zwar auf dem Hinter¬<lb/> grunde gesellschaftlicher Zustände, die allbekannt sind, an die sich aber noch wenige<lb/> Darsteller, am allerwenigsten poetisch befähigte, menschlich billige und mit den<lb/> Erscheinungen wirklich vertraute, gewagt haben. In zahlreichen Kolportage-'<lb/> und gelegentlich auch in Gartenlaubenromanen spielt der Gardeoffizier, der als<lb/> Zerstörer bürgerlichen Glückes, als Verführer vertrauender UüschUld vorgeführt<lb/> Wird, eine Rolle. Die Abgeschmacktheit der Erfindung hält in der Regel mit-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0051]
Fontanes Roman Irrungen—Wirrungen.
Dichter, daß es darüber hinaus Eindrücke des Schönen, weihevoll Erhebenden, des
tragisch Erschütternden und stimmungsvoll Anmutigen giebt, aber er scheint sie
nicht mehr zu erstreben. Hat es ihm der Zauber der äußern Mannigfaltigkeit der
großen Reichshauptstadt angethan, die er besser kennt, als die Mehrzahl derer,
welche sie zum Vorder-, Mittel- oder Hintergrunde ihrer Darstellungen nehmen ?
Reizt es ihn nur noch die kleinen Welten innerhalb dieser Welt zu schildern?
Oder ist er gegen die Phrase, die sich für Poesie geben mochte, in dem Grade
mißtrauisch geworden, daß er auch der wirklichen Poesie, die erhöhten Ausdrucks
bedarf, aus dem Wege geht? Oder will er gar, wie gewisse Kritiker behaupten
(die dabei Wohl mehr die Erzählung „Unter dem Birnbaum" als den neuesten
Roman im Auge hatten), mit den Naturalisten des jüngsten Schlages und
Stiles um die Wette laufen? Im Ernst dürfte ihm dabei der Atem rasch aus¬
gehen, denn was hätte ein Schriftsteller von Fontanes Art, eine dichterische
Natur, die nach innern: Zwang das Reizvolle und Liebenswürdige, das Edle
und Feine.selbst in den unscheinbarsten Gestalten sehen muß, was hätte ein irener
Beobachter der ganzen Natur, für den das Wirkliche nicht erst mit dem Schmutz
oder der Krankheit anhebt, mit den Wahrheitsschilderern gemein, die wie die
apokalyptischen Reiter den Hunger, den Krieg, die Pest und den Tod in die
Litteratur tragen möchten, in Wahrheit aber ganz andre Dinge hereintragen?
Sicher nichts, und doch macht sich in Fontanes neuesten Werken, wie in denen
manches andern Schriftstellers, eine gewisse Einwirkung, nicht der naturalistischen
Schule, aber der Zeitstimmung geltend. Ein beinahe unwiderstehlicher Zug
führt die Poeten von den Hauptwegen der Dichtung hinweg auf Nebenpfade,
bei denen das Ziel in Dunkel oder Dämmerung liegt. In dem Drange nach neuen
Motiven, nach Offenbarung seither nicht beachteter Vorgänge und Stimmungen/
in der Sehnsucht nach frischen Wirkungen, in einem stillen Verlangen nach
Gerechtigkeit für Tausende von unpoetischen Lebenserscheinungen sind die
Schlüssel sür gewisse Erzählungen und Schauspiele vorhanden, denen wir mit
sehr geteilter Empfindung gegenüberstehen. Gewiß müssen Neuheit, Frische und
das poetische Licht über den Dingen zuerst und zuletzt immer aus der Seele des
Dichters kommen aber schlechthin verwerfen läßt sich der erhöhte Trieb des
Beobachters und Vergleichens eben auch nicht, welcher durch unsre realistische
Erzählungskunst geht und ein Werk wie Irrungen^— Wirrungen von
Theodor Fontane (Leipzig, F. W. Steffens Verlag 1838) allzustark erfüllt.
Die kurze Geschichte spielt im heutigen Berlin, und zwar auf dem Hinter¬
grunde gesellschaftlicher Zustände, die allbekannt sind, an die sich aber noch wenige
Darsteller, am allerwenigsten poetisch befähigte, menschlich billige und mit den
Erscheinungen wirklich vertraute, gewagt haben. In zahlreichen Kolportage-'
und gelegentlich auch in Gartenlaubenromanen spielt der Gardeoffizier, der als
Zerstörer bürgerlichen Glückes, als Verführer vertrauender UüschUld vorgeführt
Wird, eine Rolle. Die Abgeschmacktheit der Erfindung hält in der Regel mit-
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