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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Kuno Lischer über Goethes Iphigenie.

Orest, von Elektra gereizt, die Mutter getötet habe, läßt sie tief bedauern, daß
so viele Greuel noch zuletzt ihr Vaterhaus verwüstet haben, aber sie empfindet
es dankbar, daß die Götter die neue Schuld ihres Hauses ihr so lange verborgen
gehalten haben, wenn diese jetzt auch umso schrecklicher von ihr empfunden werde.
Nicht die geringste Aeußerung berechtigt zu Fischers Ausdeutung ihrer An¬
rede an die Götter: "Es scheint, daß sie nach dem Willen der Götter nicht
ihr Haus entsühnen i>avon ist bisher gar keine Rede gewesen), sondern nur
die Ernte der verjüngten Drachensaat erleben soll." Nur einen Augenblick
erschüttert sie die Kunde, daß der Bruder die unausbleibliche Rache an der
Gattenmörderiu, ihrer Mutter, vollzogen habe. Ja als sie erfährt, der Ge¬
fangne sei ihr Bruder Orest, dankt sie in begeisterter Freude den Göttern, daß
auf so ungeahnte Weise ihre Sehnsucht nach der Heimat erfüllt werden soll;
denn im ersten Augenblick erkennt sie, daß die Himmlischen ihren Bruder nur
deshalb nach Tauris gesandt haben, daß er sie heimführe, wie wenig sie
auch ahnt, auf welche Weise dies geschehen könne. Von ihrer religiösen Sen¬
dung, von einer Entführung ihres Vaterhauses ist noch immer keine Rede.
Freilich erregt die Mitteilung der Priesterin, sie sei Orests Schwester, in diesem
den grimmigsten Ausbruch seines verzweifelnden Schuldbewußtseins, ihre Rein¬
heit und herzliche Neigung wecken die Furien seines Gewissens noch einmal
schrecklich auf, um für immer auszutoben. Wie sehr auch Iphigenie davon er¬
schüttert wird, sie zweifelt nicht, daß der Bruder in ihren Armen wieder genesen
werde, daß die Götter in dieser Absicht ihn gesandt, daß sie seine Heilung und
ihre Rückführung auf wunderbare Weise verbunden haben. Als er ermattet
niedergesunken ist, eilt sie zu Pylades, da sie allein "dieses Glück und Elend" nicht
zu ertragen vermöge. Das Mysterium von dem stellvertretenden Leiden, die
"Christusthat," die Fischer hier aufspürt, erinnert nur zu sehr an weiland
Göschels christliche Verbalhornungen Goethes. Wie konnte Fischer übersehen,
daß Orest von allen Qualen des Gewissens, von dem argen Greuel des Mutter¬
mordes so schrecklich in Gegenwart der reinen Schwester durchschauert wird,
daß es zu seiner Erlösung (wie Fischer absichtlich statt Heilung sagt) wahr¬
haft keines "stellvertretenden Leidens" bedürfte, keiner Seele, die seine Schuld
für ihn fühlte, was Iphigenie auch wirklich nicht thut, vielmehr bedauert sie
den Unglücklichen.

Wir verzichten auf die Darlegung der meisterhaften Entwicklung der beiden
letzten Aufzüge, in denen Iphigenie den Kampf mit der Versuchung, den Betrug
als Rettungsmittel zu ergreifen, heldenhaft besteht. Fischer selbst muß es gestehen
(S. 35), daß seit ihrer Kunde von der Ermordung Agamenmons "ihre Sendung
den Geschwistern gehört." Aber dennoch ist ihm der Inhalt des Dramas ihre
religiöse Sendung. Und wie vermag er zu beweisen, daß ihre Sendung von
Anfang an eine religiöse gewesen, da die einzige Äußerung, welche sie vorher
über ihren Glauben thut, nur die Überzeugung ausspricht, die Göttin habe sie


Grenzboten IV. 1383. 6
Kuno Lischer über Goethes Iphigenie.

Orest, von Elektra gereizt, die Mutter getötet habe, läßt sie tief bedauern, daß
so viele Greuel noch zuletzt ihr Vaterhaus verwüstet haben, aber sie empfindet
es dankbar, daß die Götter die neue Schuld ihres Hauses ihr so lange verborgen
gehalten haben, wenn diese jetzt auch umso schrecklicher von ihr empfunden werde.
Nicht die geringste Aeußerung berechtigt zu Fischers Ausdeutung ihrer An¬
rede an die Götter: „Es scheint, daß sie nach dem Willen der Götter nicht
ihr Haus entsühnen i>avon ist bisher gar keine Rede gewesen), sondern nur
die Ernte der verjüngten Drachensaat erleben soll." Nur einen Augenblick
erschüttert sie die Kunde, daß der Bruder die unausbleibliche Rache an der
Gattenmörderiu, ihrer Mutter, vollzogen habe. Ja als sie erfährt, der Ge¬
fangne sei ihr Bruder Orest, dankt sie in begeisterter Freude den Göttern, daß
auf so ungeahnte Weise ihre Sehnsucht nach der Heimat erfüllt werden soll;
denn im ersten Augenblick erkennt sie, daß die Himmlischen ihren Bruder nur
deshalb nach Tauris gesandt haben, daß er sie heimführe, wie wenig sie
auch ahnt, auf welche Weise dies geschehen könne. Von ihrer religiösen Sen¬
dung, von einer Entführung ihres Vaterhauses ist noch immer keine Rede.
Freilich erregt die Mitteilung der Priesterin, sie sei Orests Schwester, in diesem
den grimmigsten Ausbruch seines verzweifelnden Schuldbewußtseins, ihre Rein¬
heit und herzliche Neigung wecken die Furien seines Gewissens noch einmal
schrecklich auf, um für immer auszutoben. Wie sehr auch Iphigenie davon er¬
schüttert wird, sie zweifelt nicht, daß der Bruder in ihren Armen wieder genesen
werde, daß die Götter in dieser Absicht ihn gesandt, daß sie seine Heilung und
ihre Rückführung auf wunderbare Weise verbunden haben. Als er ermattet
niedergesunken ist, eilt sie zu Pylades, da sie allein „dieses Glück und Elend" nicht
zu ertragen vermöge. Das Mysterium von dem stellvertretenden Leiden, die
„Christusthat," die Fischer hier aufspürt, erinnert nur zu sehr an weiland
Göschels christliche Verbalhornungen Goethes. Wie konnte Fischer übersehen,
daß Orest von allen Qualen des Gewissens, von dem argen Greuel des Mutter¬
mordes so schrecklich in Gegenwart der reinen Schwester durchschauert wird,
daß es zu seiner Erlösung (wie Fischer absichtlich statt Heilung sagt) wahr¬
haft keines „stellvertretenden Leidens" bedürfte, keiner Seele, die seine Schuld
für ihn fühlte, was Iphigenie auch wirklich nicht thut, vielmehr bedauert sie
den Unglücklichen.

Wir verzichten auf die Darlegung der meisterhaften Entwicklung der beiden
letzten Aufzüge, in denen Iphigenie den Kampf mit der Versuchung, den Betrug
als Rettungsmittel zu ergreifen, heldenhaft besteht. Fischer selbst muß es gestehen
(S. 35), daß seit ihrer Kunde von der Ermordung Agamenmons „ihre Sendung
den Geschwistern gehört." Aber dennoch ist ihm der Inhalt des Dramas ihre
religiöse Sendung. Und wie vermag er zu beweisen, daß ihre Sendung von
Anfang an eine religiöse gewesen, da die einzige Äußerung, welche sie vorher
über ihren Glauben thut, nur die Überzeugung ausspricht, die Göttin habe sie


Grenzboten IV. 1383. 6
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/49>, abgerufen am 04.07.2024.