Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rmio Fischer über Goethes Iphigenie.

Zum Beweise, daß Iphigenie von der Sendung, die Retterin ihres Hauses
zu werden, erfüllt sei, führt Fischer den Schluß ihres ersten Selbstgespräches
an, wo sie ihre Göttin bittet, sie endlich den Ihrigen wiederzugeben. Von der
Rettung ihres Hauses ist dort so wenig die Rede, daß sie hofft, bei ihrer Rück¬
kehr Vater, Mutter und Geschwister unversehrt wiederzufinden, was sie auch
Thoas gegenüber äußert. Fischer schließt unmittelbar daran ihre Bitte im
fünften Aufzug, der König möge sie mit reiner Hand und reinem Herzen zurück¬
kehren lassen, damit sie ihr Haus entführe. Von einer Entführung ihres
Hanfes kann sie freilich jetzt sprechen, nachdem sie Agamenmons und Klytäm-
nestrens Ermordung durch die nächsten Verwandten vernommen hat, aber nicht
am Anfang, wo sie davon noch nichts ahnt. Schon im vierten Aufzuge
gedenkt sie ihrer Hoffnung, "dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen die
schwerbefleckte Wohnung zu entsühnen." Freilich ist es ein kleiner Widerspruch,
wenn sie hier bemerkt, sie habe diese Hoffnung schon diese Jahre über gehegt.
Dieser Widerspruch ist aber erst durch die letzte Bearbeitung hineingekommen,
man kann wohl sage", dem Dichter entschlüpft.

Verfolgen wir die weitere Entwicklung nach Jvhigeniens erstem Selbstge¬
spräche, das nur von ihrer Hoffnung spricht, dem Vater wiedergegeben zu werden;
denn mir so gewinnen wir das geistige Band, das bei der Weise, wie Fischer
die abgerissenen und dann wieder zerstückelten Stücke, den Charakter der Iphi¬
genie, die Schuld des Tantalus und die Erlösung des Orestes, auf seinem
philosophischen Sezirtisch einzeln behandelt, ganz verloren geht. Das erste,
was Jphigcniens Seele lebhaft aufregt, ist des Königs Bewerbung, die ihr
Herz ablehnen müßte, wenn sie auch nicht sich auf ihr Vertrauen, die Göttin
wolle sie ihrem Vater und den Ihrigen wiedergeben, als entscheidenden Grund
berufen könnte. Und leider sieht sie sich genötigt, wie tief sie auch davon
ergriffen wird, ihm die Greuel ihres Hauses zu offenbaren. Freilich hat er
ihr schon vorher die Rückkehr zur Heimat, wenn sie solche hoffen könnte, aus¬
drücklich zugesichert, aber ihr Vertrauen mißbraucht der aufgebrachte König auf
die verletzendste Weise, und er schließt mit dem Befehle, das bisher durch sie
abgestellte Blutopfer an zwei eben gefangenen Fremden vollziehen zu lassen.
In der gräßlichen Not, daß ihre Hemd sich mit Blut beflecken solle, fleht sie
ihre Göttin an, dies von ihr abzuwenden; fühlt sie doch in ihrem reinen Herzen,
daß die Götter Menschenopfer verabscheuen. Unmittelbar nach dieser Aufregung
wird ihre selige Hoffnung, dem Vater und den Ihrigen wiedergegeben zu werden,
grausam zerstört durch den Bericht des einen Gefangnen, Agamemnon sei durch
die Hand seiner Gattin mit Hilfe ihres Buhlen gefallen. Sehr weise läßt der
Dichter sie den Schmerz über diese neue Unthat ihres Hauses, die ihre schönste
Hoffnung vernichtet, nur durch ihre sichtbare Erregung. Verhüllung ihres Ge¬
sichtes und rasche Entfernung verraten. Mit seliger Freude erfährt sie sodann
von dem zweiten Gefangnen, daß ihre Geschwister leben. Die Kunde, daß


Rmio Fischer über Goethes Iphigenie.

Zum Beweise, daß Iphigenie von der Sendung, die Retterin ihres Hauses
zu werden, erfüllt sei, führt Fischer den Schluß ihres ersten Selbstgespräches
an, wo sie ihre Göttin bittet, sie endlich den Ihrigen wiederzugeben. Von der
Rettung ihres Hauses ist dort so wenig die Rede, daß sie hofft, bei ihrer Rück¬
kehr Vater, Mutter und Geschwister unversehrt wiederzufinden, was sie auch
Thoas gegenüber äußert. Fischer schließt unmittelbar daran ihre Bitte im
fünften Aufzug, der König möge sie mit reiner Hand und reinem Herzen zurück¬
kehren lassen, damit sie ihr Haus entführe. Von einer Entführung ihres
Hanfes kann sie freilich jetzt sprechen, nachdem sie Agamenmons und Klytäm-
nestrens Ermordung durch die nächsten Verwandten vernommen hat, aber nicht
am Anfang, wo sie davon noch nichts ahnt. Schon im vierten Aufzuge
gedenkt sie ihrer Hoffnung, „dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen die
schwerbefleckte Wohnung zu entsühnen." Freilich ist es ein kleiner Widerspruch,
wenn sie hier bemerkt, sie habe diese Hoffnung schon diese Jahre über gehegt.
Dieser Widerspruch ist aber erst durch die letzte Bearbeitung hineingekommen,
man kann wohl sage», dem Dichter entschlüpft.

Verfolgen wir die weitere Entwicklung nach Jvhigeniens erstem Selbstge¬
spräche, das nur von ihrer Hoffnung spricht, dem Vater wiedergegeben zu werden;
denn mir so gewinnen wir das geistige Band, das bei der Weise, wie Fischer
die abgerissenen und dann wieder zerstückelten Stücke, den Charakter der Iphi¬
genie, die Schuld des Tantalus und die Erlösung des Orestes, auf seinem
philosophischen Sezirtisch einzeln behandelt, ganz verloren geht. Das erste,
was Jphigcniens Seele lebhaft aufregt, ist des Königs Bewerbung, die ihr
Herz ablehnen müßte, wenn sie auch nicht sich auf ihr Vertrauen, die Göttin
wolle sie ihrem Vater und den Ihrigen wiedergeben, als entscheidenden Grund
berufen könnte. Und leider sieht sie sich genötigt, wie tief sie auch davon
ergriffen wird, ihm die Greuel ihres Hauses zu offenbaren. Freilich hat er
ihr schon vorher die Rückkehr zur Heimat, wenn sie solche hoffen könnte, aus¬
drücklich zugesichert, aber ihr Vertrauen mißbraucht der aufgebrachte König auf
die verletzendste Weise, und er schließt mit dem Befehle, das bisher durch sie
abgestellte Blutopfer an zwei eben gefangenen Fremden vollziehen zu lassen.
In der gräßlichen Not, daß ihre Hemd sich mit Blut beflecken solle, fleht sie
ihre Göttin an, dies von ihr abzuwenden; fühlt sie doch in ihrem reinen Herzen,
daß die Götter Menschenopfer verabscheuen. Unmittelbar nach dieser Aufregung
wird ihre selige Hoffnung, dem Vater und den Ihrigen wiedergegeben zu werden,
grausam zerstört durch den Bericht des einen Gefangnen, Agamemnon sei durch
die Hand seiner Gattin mit Hilfe ihres Buhlen gefallen. Sehr weise läßt der
Dichter sie den Schmerz über diese neue Unthat ihres Hauses, die ihre schönste
Hoffnung vernichtet, nur durch ihre sichtbare Erregung. Verhüllung ihres Ge¬
sichtes und rasche Entfernung verraten. Mit seliger Freude erfährt sie sodann
von dem zweiten Gefangnen, daß ihre Geschwister leben. Die Kunde, daß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0048" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203483"/>
          <fw type="header" place="top"> Rmio Fischer über Goethes Iphigenie.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_97"> Zum Beweise, daß Iphigenie von der Sendung, die Retterin ihres Hauses<lb/>
zu werden, erfüllt sei, führt Fischer den Schluß ihres ersten Selbstgespräches<lb/>
an, wo sie ihre Göttin bittet, sie endlich den Ihrigen wiederzugeben. Von der<lb/>
Rettung ihres Hauses ist dort so wenig die Rede, daß sie hofft, bei ihrer Rück¬<lb/>
kehr Vater, Mutter und Geschwister unversehrt wiederzufinden, was sie auch<lb/>
Thoas gegenüber äußert. Fischer schließt unmittelbar daran ihre Bitte im<lb/>
fünften Aufzug, der König möge sie mit reiner Hand und reinem Herzen zurück¬<lb/>
kehren lassen, damit sie ihr Haus entführe. Von einer Entführung ihres<lb/>
Hanfes kann sie freilich jetzt sprechen, nachdem sie Agamenmons und Klytäm-<lb/>
nestrens Ermordung durch die nächsten Verwandten vernommen hat, aber nicht<lb/>
am Anfang, wo sie davon noch nichts ahnt. Schon im vierten Aufzuge<lb/>
gedenkt sie ihrer Hoffnung, &#x201E;dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen die<lb/>
schwerbefleckte Wohnung zu entsühnen." Freilich ist es ein kleiner Widerspruch,<lb/>
wenn sie hier bemerkt, sie habe diese Hoffnung schon diese Jahre über gehegt.<lb/>
Dieser Widerspruch ist aber erst durch die letzte Bearbeitung hineingekommen,<lb/>
man kann wohl sage», dem Dichter entschlüpft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_98" next="#ID_99"> Verfolgen wir die weitere Entwicklung nach Jvhigeniens erstem Selbstge¬<lb/>
spräche, das nur von ihrer Hoffnung spricht, dem Vater wiedergegeben zu werden;<lb/>
denn mir so gewinnen wir das geistige Band, das bei der Weise, wie Fischer<lb/>
die abgerissenen und dann wieder zerstückelten Stücke, den Charakter der Iphi¬<lb/>
genie, die Schuld des Tantalus und die Erlösung des Orestes, auf seinem<lb/>
philosophischen Sezirtisch einzeln behandelt, ganz verloren geht. Das erste,<lb/>
was Jphigcniens Seele lebhaft aufregt, ist des Königs Bewerbung, die ihr<lb/>
Herz ablehnen müßte, wenn sie auch nicht sich auf ihr Vertrauen, die Göttin<lb/>
wolle sie ihrem Vater und den Ihrigen wiedergeben, als entscheidenden Grund<lb/>
berufen könnte. Und leider sieht sie sich genötigt, wie tief sie auch davon<lb/>
ergriffen wird, ihm die Greuel ihres Hauses zu offenbaren. Freilich hat er<lb/>
ihr schon vorher die Rückkehr zur Heimat, wenn sie solche hoffen könnte, aus¬<lb/>
drücklich zugesichert, aber ihr Vertrauen mißbraucht der aufgebrachte König auf<lb/>
die verletzendste Weise, und er schließt mit dem Befehle, das bisher durch sie<lb/>
abgestellte Blutopfer an zwei eben gefangenen Fremden vollziehen zu lassen.<lb/>
In der gräßlichen Not, daß ihre Hemd sich mit Blut beflecken solle, fleht sie<lb/>
ihre Göttin an, dies von ihr abzuwenden; fühlt sie doch in ihrem reinen Herzen,<lb/>
daß die Götter Menschenopfer verabscheuen. Unmittelbar nach dieser Aufregung<lb/>
wird ihre selige Hoffnung, dem Vater und den Ihrigen wiedergegeben zu werden,<lb/>
grausam zerstört durch den Bericht des einen Gefangnen, Agamemnon sei durch<lb/>
die Hand seiner Gattin mit Hilfe ihres Buhlen gefallen. Sehr weise läßt der<lb/>
Dichter sie den Schmerz über diese neue Unthat ihres Hauses, die ihre schönste<lb/>
Hoffnung vernichtet, nur durch ihre sichtbare Erregung. Verhüllung ihres Ge¬<lb/>
sichtes und rasche Entfernung verraten. Mit seliger Freude erfährt sie sodann<lb/>
von dem zweiten Gefangnen, daß ihre Geschwister leben. Die Kunde, daß</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0048] Rmio Fischer über Goethes Iphigenie. Zum Beweise, daß Iphigenie von der Sendung, die Retterin ihres Hauses zu werden, erfüllt sei, führt Fischer den Schluß ihres ersten Selbstgespräches an, wo sie ihre Göttin bittet, sie endlich den Ihrigen wiederzugeben. Von der Rettung ihres Hauses ist dort so wenig die Rede, daß sie hofft, bei ihrer Rück¬ kehr Vater, Mutter und Geschwister unversehrt wiederzufinden, was sie auch Thoas gegenüber äußert. Fischer schließt unmittelbar daran ihre Bitte im fünften Aufzug, der König möge sie mit reiner Hand und reinem Herzen zurück¬ kehren lassen, damit sie ihr Haus entführe. Von einer Entführung ihres Hanfes kann sie freilich jetzt sprechen, nachdem sie Agamenmons und Klytäm- nestrens Ermordung durch die nächsten Verwandten vernommen hat, aber nicht am Anfang, wo sie davon noch nichts ahnt. Schon im vierten Aufzuge gedenkt sie ihrer Hoffnung, „dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen die schwerbefleckte Wohnung zu entsühnen." Freilich ist es ein kleiner Widerspruch, wenn sie hier bemerkt, sie habe diese Hoffnung schon diese Jahre über gehegt. Dieser Widerspruch ist aber erst durch die letzte Bearbeitung hineingekommen, man kann wohl sage», dem Dichter entschlüpft. Verfolgen wir die weitere Entwicklung nach Jvhigeniens erstem Selbstge¬ spräche, das nur von ihrer Hoffnung spricht, dem Vater wiedergegeben zu werden; denn mir so gewinnen wir das geistige Band, das bei der Weise, wie Fischer die abgerissenen und dann wieder zerstückelten Stücke, den Charakter der Iphi¬ genie, die Schuld des Tantalus und die Erlösung des Orestes, auf seinem philosophischen Sezirtisch einzeln behandelt, ganz verloren geht. Das erste, was Jphigcniens Seele lebhaft aufregt, ist des Königs Bewerbung, die ihr Herz ablehnen müßte, wenn sie auch nicht sich auf ihr Vertrauen, die Göttin wolle sie ihrem Vater und den Ihrigen wiedergeben, als entscheidenden Grund berufen könnte. Und leider sieht sie sich genötigt, wie tief sie auch davon ergriffen wird, ihm die Greuel ihres Hauses zu offenbaren. Freilich hat er ihr schon vorher die Rückkehr zur Heimat, wenn sie solche hoffen könnte, aus¬ drücklich zugesichert, aber ihr Vertrauen mißbraucht der aufgebrachte König auf die verletzendste Weise, und er schließt mit dem Befehle, das bisher durch sie abgestellte Blutopfer an zwei eben gefangenen Fremden vollziehen zu lassen. In der gräßlichen Not, daß ihre Hemd sich mit Blut beflecken solle, fleht sie ihre Göttin an, dies von ihr abzuwenden; fühlt sie doch in ihrem reinen Herzen, daß die Götter Menschenopfer verabscheuen. Unmittelbar nach dieser Aufregung wird ihre selige Hoffnung, dem Vater und den Ihrigen wiedergegeben zu werden, grausam zerstört durch den Bericht des einen Gefangnen, Agamemnon sei durch die Hand seiner Gattin mit Hilfe ihres Buhlen gefallen. Sehr weise läßt der Dichter sie den Schmerz über diese neue Unthat ihres Hauses, die ihre schönste Hoffnung vernichtet, nur durch ihre sichtbare Erregung. Verhüllung ihres Ge¬ sichtes und rasche Entfernung verraten. Mit seliger Freude erfährt sie sodann von dem zweiten Gefangnen, daß ihre Geschwister leben. Die Kunde, daß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/48
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/48>, abgerufen am 02.07.2024.