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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Anno Fischer über Goethes Iphigenie.

der Göttin Artemis und seiner Rettung nach Athen oder vielmehr Brcmron
zu vergeistigen. Demnach sollte diese Festdichtung die reine, milde Weiblichkeit
Jphigeniens im Gegensatz zu der leidenschaftlichen Gier der kein Mittel zu ihrem
Zwecke scheuenden Männer anschaulich entwickeln. Freilich sind alle Personen
des Dramas in ihrer Art edle Menschen, die deshalb auch sämtlich unsern
Anteil erregen (die wilde Gier wird nur als vergangen geschildert), aber alle
überstrahlt Jphigeniens heilige Reinheit, vor der die übrigen sich verehrungs-
vvll beugen. Fischer dagegen betrachtet als Grundzug das Religiöse (warum
nicht lieber, zur Ausschließung der Beziehung auf eine bestimmte Religion, das
Fromme?), ja er bezeichnet als Ziel seiner Rede die Beleuchtung dieses religiösen
Charakters. Die Erfüllung der religiösen Sendung, von der sich Iphigenie
getragen fühle, bilde den Inhalt des Stückes. Die von der Göttin wunderbar
gerettete Tochter Agamenmons fühle sich berufen, die Retterin ihres Hauses zu
werden, was nur dann möglich sei, wenn sie rein und schuldlos bleibe. Aber
Goethes Heldin ist keineswegs so beschränkt, daß sie mit Beziehung auf ihre
geheimnisvolle Sendung sich von aller Schuld frei hielte, die Reinheit ist die
Luft, in welcher ihre Seele sich allein leicht und wohl fühlt.

Mit Fischers Annahme einer religiösen Sendung stimmt es wenig, wenn
es gleich darauf heißt, "das ganze Thema der Dichtung und auch deren Glie¬
derung" lasse sich in die Antwort auf die Frage fassen, ob Jphigeniens Ver¬
trauen zu den Göttern, das sich in dem Gebete an ihre Göttin I, 4 (doch nicht
dort allein) ausspricht, oder das grause Parzenlied am Ende des vierten Aus¬
zugs Recht behalte. Davon kann gar keine Rede sein, da Iphigenie selbst die
Götter anruft: "Rettet euer Bild in meiner Seele!" Die Handlung ist durchaus
menschlich; sie spielt in Jphigeniens von arger Not bedrängten Gemüte. Weiter
wird als Grundthema des Stückes die Entführung eines fluchbeladenen Ge¬
schlechts angegeben. Doch der Gedanke an Entführung, nicht des Geschlechts,
sondern des Hauses, tritt erst im vierten Aufzug hervor, beseelt Iphigenien
keineswegs von Anfang an. Auch ist es nicht wahr, wenn behauptet wird, sie
allein fühle sich zur Entführung ihres Hauses berufen, welche Fischer hier mit
der Heilung des Orest von seinem Schuldbewußtsein verwechselt.

Diese sich widersprechenden Auffassungen waren nicht möglich gewesen, wenn
Fischer die dramatische Entwicklung der Handlung verfolgt hätte, statt sie sich
stückweise zurechtzuschueiden und von dem Vorurteile einer religiösen Sendung
sich den Blick trüben zu lassen. Da hat er denn einzelne Stellen des Stückes zum
Beweise seiner Ansicht angeführt, ohne deren Veranlassung und eigentliche Be¬
ziehung zu berücksichtigen. Was wir Iphigenie im vierten und fünften Aufzuge,
nachdem so manches ihre Seele erschüttert hat, äußern hören, kann nichts für
ihre Anschauung im ersten beweisen. Von der leider sehr verbreiteten Unart,
herausgerissene Stellen ohne weiteres als Beweismittel zu verwenden, sollte ein
Mann von Fischers klarer Anschauung und scharfer Unterscheidung sich frei halten.


Anno Fischer über Goethes Iphigenie.

der Göttin Artemis und seiner Rettung nach Athen oder vielmehr Brcmron
zu vergeistigen. Demnach sollte diese Festdichtung die reine, milde Weiblichkeit
Jphigeniens im Gegensatz zu der leidenschaftlichen Gier der kein Mittel zu ihrem
Zwecke scheuenden Männer anschaulich entwickeln. Freilich sind alle Personen
des Dramas in ihrer Art edle Menschen, die deshalb auch sämtlich unsern
Anteil erregen (die wilde Gier wird nur als vergangen geschildert), aber alle
überstrahlt Jphigeniens heilige Reinheit, vor der die übrigen sich verehrungs-
vvll beugen. Fischer dagegen betrachtet als Grundzug das Religiöse (warum
nicht lieber, zur Ausschließung der Beziehung auf eine bestimmte Religion, das
Fromme?), ja er bezeichnet als Ziel seiner Rede die Beleuchtung dieses religiösen
Charakters. Die Erfüllung der religiösen Sendung, von der sich Iphigenie
getragen fühle, bilde den Inhalt des Stückes. Die von der Göttin wunderbar
gerettete Tochter Agamenmons fühle sich berufen, die Retterin ihres Hauses zu
werden, was nur dann möglich sei, wenn sie rein und schuldlos bleibe. Aber
Goethes Heldin ist keineswegs so beschränkt, daß sie mit Beziehung auf ihre
geheimnisvolle Sendung sich von aller Schuld frei hielte, die Reinheit ist die
Luft, in welcher ihre Seele sich allein leicht und wohl fühlt.

Mit Fischers Annahme einer religiösen Sendung stimmt es wenig, wenn
es gleich darauf heißt, „das ganze Thema der Dichtung und auch deren Glie¬
derung" lasse sich in die Antwort auf die Frage fassen, ob Jphigeniens Ver¬
trauen zu den Göttern, das sich in dem Gebete an ihre Göttin I, 4 (doch nicht
dort allein) ausspricht, oder das grause Parzenlied am Ende des vierten Aus¬
zugs Recht behalte. Davon kann gar keine Rede sein, da Iphigenie selbst die
Götter anruft: „Rettet euer Bild in meiner Seele!" Die Handlung ist durchaus
menschlich; sie spielt in Jphigeniens von arger Not bedrängten Gemüte. Weiter
wird als Grundthema des Stückes die Entführung eines fluchbeladenen Ge¬
schlechts angegeben. Doch der Gedanke an Entführung, nicht des Geschlechts,
sondern des Hauses, tritt erst im vierten Aufzug hervor, beseelt Iphigenien
keineswegs von Anfang an. Auch ist es nicht wahr, wenn behauptet wird, sie
allein fühle sich zur Entführung ihres Hauses berufen, welche Fischer hier mit
der Heilung des Orest von seinem Schuldbewußtsein verwechselt.

Diese sich widersprechenden Auffassungen waren nicht möglich gewesen, wenn
Fischer die dramatische Entwicklung der Handlung verfolgt hätte, statt sie sich
stückweise zurechtzuschueiden und von dem Vorurteile einer religiösen Sendung
sich den Blick trüben zu lassen. Da hat er denn einzelne Stellen des Stückes zum
Beweise seiner Ansicht angeführt, ohne deren Veranlassung und eigentliche Be¬
ziehung zu berücksichtigen. Was wir Iphigenie im vierten und fünften Aufzuge,
nachdem so manches ihre Seele erschüttert hat, äußern hören, kann nichts für
ihre Anschauung im ersten beweisen. Von der leider sehr verbreiteten Unart,
herausgerissene Stellen ohne weiteres als Beweismittel zu verwenden, sollte ein
Mann von Fischers klarer Anschauung und scharfer Unterscheidung sich frei halten.


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[0047] Anno Fischer über Goethes Iphigenie. der Göttin Artemis und seiner Rettung nach Athen oder vielmehr Brcmron zu vergeistigen. Demnach sollte diese Festdichtung die reine, milde Weiblichkeit Jphigeniens im Gegensatz zu der leidenschaftlichen Gier der kein Mittel zu ihrem Zwecke scheuenden Männer anschaulich entwickeln. Freilich sind alle Personen des Dramas in ihrer Art edle Menschen, die deshalb auch sämtlich unsern Anteil erregen (die wilde Gier wird nur als vergangen geschildert), aber alle überstrahlt Jphigeniens heilige Reinheit, vor der die übrigen sich verehrungs- vvll beugen. Fischer dagegen betrachtet als Grundzug das Religiöse (warum nicht lieber, zur Ausschließung der Beziehung auf eine bestimmte Religion, das Fromme?), ja er bezeichnet als Ziel seiner Rede die Beleuchtung dieses religiösen Charakters. Die Erfüllung der religiösen Sendung, von der sich Iphigenie getragen fühle, bilde den Inhalt des Stückes. Die von der Göttin wunderbar gerettete Tochter Agamenmons fühle sich berufen, die Retterin ihres Hauses zu werden, was nur dann möglich sei, wenn sie rein und schuldlos bleibe. Aber Goethes Heldin ist keineswegs so beschränkt, daß sie mit Beziehung auf ihre geheimnisvolle Sendung sich von aller Schuld frei hielte, die Reinheit ist die Luft, in welcher ihre Seele sich allein leicht und wohl fühlt. Mit Fischers Annahme einer religiösen Sendung stimmt es wenig, wenn es gleich darauf heißt, „das ganze Thema der Dichtung und auch deren Glie¬ derung" lasse sich in die Antwort auf die Frage fassen, ob Jphigeniens Ver¬ trauen zu den Göttern, das sich in dem Gebete an ihre Göttin I, 4 (doch nicht dort allein) ausspricht, oder das grause Parzenlied am Ende des vierten Aus¬ zugs Recht behalte. Davon kann gar keine Rede sein, da Iphigenie selbst die Götter anruft: „Rettet euer Bild in meiner Seele!" Die Handlung ist durchaus menschlich; sie spielt in Jphigeniens von arger Not bedrängten Gemüte. Weiter wird als Grundthema des Stückes die Entführung eines fluchbeladenen Ge¬ schlechts angegeben. Doch der Gedanke an Entführung, nicht des Geschlechts, sondern des Hauses, tritt erst im vierten Aufzug hervor, beseelt Iphigenien keineswegs von Anfang an. Auch ist es nicht wahr, wenn behauptet wird, sie allein fühle sich zur Entführung ihres Hauses berufen, welche Fischer hier mit der Heilung des Orest von seinem Schuldbewußtsein verwechselt. Diese sich widersprechenden Auffassungen waren nicht möglich gewesen, wenn Fischer die dramatische Entwicklung der Handlung verfolgt hätte, statt sie sich stückweise zurechtzuschueiden und von dem Vorurteile einer religiösen Sendung sich den Blick trüben zu lassen. Da hat er denn einzelne Stellen des Stückes zum Beweise seiner Ansicht angeführt, ohne deren Veranlassung und eigentliche Be¬ ziehung zu berücksichtigen. Was wir Iphigenie im vierten und fünften Aufzuge, nachdem so manches ihre Seele erschüttert hat, äußern hören, kann nichts für ihre Anschauung im ersten beweisen. Von der leider sehr verbreiteten Unart, herausgerissene Stellen ohne weiteres als Beweismittel zu verwenden, sollte ein Mann von Fischers klarer Anschauung und scharfer Unterscheidung sich frei halten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/47>, abgerufen am 30.06.2024.