Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Berechtigungen.

Städte mit guten Bürgerschulen begnügen. Aber das gestatten die Bestimm¬
ungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger nicht. Die Familien der
kleineren Städte können nicht füglich ihre Söhne, damit sie demnächst als Ein¬
jährig-Freiwillige dienen, mit dem neunten Jahre aufs Gymnasium in einer
größern Stadt schicken. Was bleibt also der kleineren Stadt übrig, als sich
selbst ein Gymnasium zu schaffen, daß dann natürlich für das vorhandene Be¬
dürfnis viel zu groß ausfällt und ganz unverhältnismäßige Kosten veranlaßt.
Herr v. Goßler selbst hat ausgesprochen, daß eine Menge seit 1870 in Preußen
errichteter Gymnasien nicht lebensfähig sei. Aber nicht das allein: auf der
andern Seite verkümmern die Bürgerschulen, denen jetzt gerade die besten
Schüler künstlich entzogen werden. So leiden alle Teile. Etwas besser steht
es in Sachsen. Dank den (relativ) guten Schuleinrichtungen haben
sich hier die Bürgerschulen im Kampfe ums Dasein mit den Gymnasien noch
einigermaßen behauptet; es liegt aber auf der Hand, daß sie es auf die Dauer
anch nicht können werden. Die Bürgerschulen wieder in ihr Recht einzusetzen
erscheint dringend erforderlich. Das werden vor allem auch die Lehrer der
Gymnasien und der Bürgerschulen wünschen.

Wie aber wird eine solche Wandlung herbeizuführen sein? Nur durch eine
zweckentsprechende Regelung der Verhältnisse der Einjahrig-Freiwilligen. Aber
wie? Soll an dem Grundsatz der Wehrordnung etwas geändert werden, daß
nur eine "höhere Bildung" zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger berechtige?
Durchaus nicht! Schon deshalb nicht, damit nicht auch hier, wie leider auf
so vielen andern Gebieten, die rohe Macht des Geldes allein einen Vorzug des
eiuen Staatsangehörigen vor dem andern begründe. Wohl aber könnte dem
Grundsatze eine etwas veränderte, den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechendere
Anwendung gegeben werden. Die Frage wird in kurzen Worten so lauten:
Soll auch denjenigen, welche die Bürgerschule durchlaufen haben, der Dienst als
Einjährig-Freiwilliger gestattet werden, und unter welchen Bedingungen? Prüfen
wir einmal, was die Bürgerschule leistet.

Vergleicht man die Bestimmungen der deutschen Wehrordnung (Art. 2.
I. § 2) über die von den Einjährig-Freiwilligen nachzuweisenden Kenntnisse mit
den königlich sächsischen Vorschriften über die Lehrgegenstände in der obersten
Klasse der Bürgerschule, so ergiebt sich folgendes. Die Wehrordnung fordert
Lateinisch und Griechisch in ziemlich bedeutendem Umfange, auch etwas Englisch,
die Bürgerschule kennt diese Disziplinen überhaupt nicht. Im Deutschen, in
der Geschichte und in der Geometrie stimmen beide etwa überein; nur eine
größere Kenntnis der deutschen Litteratur verlangt die Wehrordnung. Im
Französischen, in der Geographie und in der Arithmetik fordert die Wehrord¬
nung etwas mehr, in der Physik etwas weniger.

Hiernach wird man den Bildungsgrad eines aus der obersten Klasse der
Bürgerschule abgegangenen für etwas geringer erklären müssen, als den des-


Die Berechtigungen.

Städte mit guten Bürgerschulen begnügen. Aber das gestatten die Bestimm¬
ungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger nicht. Die Familien der
kleineren Städte können nicht füglich ihre Söhne, damit sie demnächst als Ein¬
jährig-Freiwillige dienen, mit dem neunten Jahre aufs Gymnasium in einer
größern Stadt schicken. Was bleibt also der kleineren Stadt übrig, als sich
selbst ein Gymnasium zu schaffen, daß dann natürlich für das vorhandene Be¬
dürfnis viel zu groß ausfällt und ganz unverhältnismäßige Kosten veranlaßt.
Herr v. Goßler selbst hat ausgesprochen, daß eine Menge seit 1870 in Preußen
errichteter Gymnasien nicht lebensfähig sei. Aber nicht das allein: auf der
andern Seite verkümmern die Bürgerschulen, denen jetzt gerade die besten
Schüler künstlich entzogen werden. So leiden alle Teile. Etwas besser steht
es in Sachsen. Dank den (relativ) guten Schuleinrichtungen haben
sich hier die Bürgerschulen im Kampfe ums Dasein mit den Gymnasien noch
einigermaßen behauptet; es liegt aber auf der Hand, daß sie es auf die Dauer
anch nicht können werden. Die Bürgerschulen wieder in ihr Recht einzusetzen
erscheint dringend erforderlich. Das werden vor allem auch die Lehrer der
Gymnasien und der Bürgerschulen wünschen.

Wie aber wird eine solche Wandlung herbeizuführen sein? Nur durch eine
zweckentsprechende Regelung der Verhältnisse der Einjahrig-Freiwilligen. Aber
wie? Soll an dem Grundsatz der Wehrordnung etwas geändert werden, daß
nur eine „höhere Bildung" zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger berechtige?
Durchaus nicht! Schon deshalb nicht, damit nicht auch hier, wie leider auf
so vielen andern Gebieten, die rohe Macht des Geldes allein einen Vorzug des
eiuen Staatsangehörigen vor dem andern begründe. Wohl aber könnte dem
Grundsatze eine etwas veränderte, den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechendere
Anwendung gegeben werden. Die Frage wird in kurzen Worten so lauten:
Soll auch denjenigen, welche die Bürgerschule durchlaufen haben, der Dienst als
Einjährig-Freiwilliger gestattet werden, und unter welchen Bedingungen? Prüfen
wir einmal, was die Bürgerschule leistet.

Vergleicht man die Bestimmungen der deutschen Wehrordnung (Art. 2.
I. § 2) über die von den Einjährig-Freiwilligen nachzuweisenden Kenntnisse mit
den königlich sächsischen Vorschriften über die Lehrgegenstände in der obersten
Klasse der Bürgerschule, so ergiebt sich folgendes. Die Wehrordnung fordert
Lateinisch und Griechisch in ziemlich bedeutendem Umfange, auch etwas Englisch,
die Bürgerschule kennt diese Disziplinen überhaupt nicht. Im Deutschen, in
der Geschichte und in der Geometrie stimmen beide etwa überein; nur eine
größere Kenntnis der deutschen Litteratur verlangt die Wehrordnung. Im
Französischen, in der Geographie und in der Arithmetik fordert die Wehrord¬
nung etwas mehr, in der Physik etwas weniger.

Hiernach wird man den Bildungsgrad eines aus der obersten Klasse der
Bürgerschule abgegangenen für etwas geringer erklären müssen, als den des-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0462" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203897"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Berechtigungen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1179" prev="#ID_1178"> Städte mit guten Bürgerschulen begnügen. Aber das gestatten die Bestimm¬<lb/>
ungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger nicht. Die Familien der<lb/>
kleineren Städte können nicht füglich ihre Söhne, damit sie demnächst als Ein¬<lb/>
jährig-Freiwillige dienen, mit dem neunten Jahre aufs Gymnasium in einer<lb/>
größern Stadt schicken. Was bleibt also der kleineren Stadt übrig, als sich<lb/>
selbst ein Gymnasium zu schaffen, daß dann natürlich für das vorhandene Be¬<lb/>
dürfnis viel zu groß ausfällt und ganz unverhältnismäßige Kosten veranlaßt.<lb/>
Herr v. Goßler selbst hat ausgesprochen, daß eine Menge seit 1870 in Preußen<lb/>
errichteter Gymnasien nicht lebensfähig sei. Aber nicht das allein: auf der<lb/>
andern Seite verkümmern die Bürgerschulen, denen jetzt gerade die besten<lb/>
Schüler künstlich entzogen werden. So leiden alle Teile. Etwas besser steht<lb/>
es in Sachsen. Dank den (relativ) guten Schuleinrichtungen haben<lb/>
sich hier die Bürgerschulen im Kampfe ums Dasein mit den Gymnasien noch<lb/>
einigermaßen behauptet; es liegt aber auf der Hand, daß sie es auf die Dauer<lb/>
anch nicht können werden. Die Bürgerschulen wieder in ihr Recht einzusetzen<lb/>
erscheint dringend erforderlich. Das werden vor allem auch die Lehrer der<lb/>
Gymnasien und der Bürgerschulen wünschen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1180"> Wie aber wird eine solche Wandlung herbeizuführen sein? Nur durch eine<lb/>
zweckentsprechende Regelung der Verhältnisse der Einjahrig-Freiwilligen. Aber<lb/>
wie? Soll an dem Grundsatz der Wehrordnung etwas geändert werden, daß<lb/>
nur eine &#x201E;höhere Bildung" zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger berechtige?<lb/>
Durchaus nicht! Schon deshalb nicht, damit nicht auch hier, wie leider auf<lb/>
so vielen andern Gebieten, die rohe Macht des Geldes allein einen Vorzug des<lb/>
eiuen Staatsangehörigen vor dem andern begründe. Wohl aber könnte dem<lb/>
Grundsatze eine etwas veränderte, den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechendere<lb/>
Anwendung gegeben werden. Die Frage wird in kurzen Worten so lauten:<lb/>
Soll auch denjenigen, welche die Bürgerschule durchlaufen haben, der Dienst als<lb/>
Einjährig-Freiwilliger gestattet werden, und unter welchen Bedingungen? Prüfen<lb/>
wir einmal, was die Bürgerschule leistet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1181"> Vergleicht man die Bestimmungen der deutschen Wehrordnung (Art. 2.<lb/>
I. § 2) über die von den Einjährig-Freiwilligen nachzuweisenden Kenntnisse mit<lb/>
den königlich sächsischen Vorschriften über die Lehrgegenstände in der obersten<lb/>
Klasse der Bürgerschule, so ergiebt sich folgendes. Die Wehrordnung fordert<lb/>
Lateinisch und Griechisch in ziemlich bedeutendem Umfange, auch etwas Englisch,<lb/>
die Bürgerschule kennt diese Disziplinen überhaupt nicht. Im Deutschen, in<lb/>
der Geschichte und in der Geometrie stimmen beide etwa überein; nur eine<lb/>
größere Kenntnis der deutschen Litteratur verlangt die Wehrordnung. Im<lb/>
Französischen, in der Geographie und in der Arithmetik fordert die Wehrord¬<lb/>
nung etwas mehr, in der Physik etwas weniger.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1182" next="#ID_1183"> Hiernach wird man den Bildungsgrad eines aus der obersten Klasse der<lb/>
Bürgerschule abgegangenen für etwas geringer erklären müssen, als den des-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0462] Die Berechtigungen. Städte mit guten Bürgerschulen begnügen. Aber das gestatten die Bestimm¬ ungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger nicht. Die Familien der kleineren Städte können nicht füglich ihre Söhne, damit sie demnächst als Ein¬ jährig-Freiwillige dienen, mit dem neunten Jahre aufs Gymnasium in einer größern Stadt schicken. Was bleibt also der kleineren Stadt übrig, als sich selbst ein Gymnasium zu schaffen, daß dann natürlich für das vorhandene Be¬ dürfnis viel zu groß ausfällt und ganz unverhältnismäßige Kosten veranlaßt. Herr v. Goßler selbst hat ausgesprochen, daß eine Menge seit 1870 in Preußen errichteter Gymnasien nicht lebensfähig sei. Aber nicht das allein: auf der andern Seite verkümmern die Bürgerschulen, denen jetzt gerade die besten Schüler künstlich entzogen werden. So leiden alle Teile. Etwas besser steht es in Sachsen. Dank den (relativ) guten Schuleinrichtungen haben sich hier die Bürgerschulen im Kampfe ums Dasein mit den Gymnasien noch einigermaßen behauptet; es liegt aber auf der Hand, daß sie es auf die Dauer anch nicht können werden. Die Bürgerschulen wieder in ihr Recht einzusetzen erscheint dringend erforderlich. Das werden vor allem auch die Lehrer der Gymnasien und der Bürgerschulen wünschen. Wie aber wird eine solche Wandlung herbeizuführen sein? Nur durch eine zweckentsprechende Regelung der Verhältnisse der Einjahrig-Freiwilligen. Aber wie? Soll an dem Grundsatz der Wehrordnung etwas geändert werden, daß nur eine „höhere Bildung" zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger berechtige? Durchaus nicht! Schon deshalb nicht, damit nicht auch hier, wie leider auf so vielen andern Gebieten, die rohe Macht des Geldes allein einen Vorzug des eiuen Staatsangehörigen vor dem andern begründe. Wohl aber könnte dem Grundsatze eine etwas veränderte, den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechendere Anwendung gegeben werden. Die Frage wird in kurzen Worten so lauten: Soll auch denjenigen, welche die Bürgerschule durchlaufen haben, der Dienst als Einjährig-Freiwilliger gestattet werden, und unter welchen Bedingungen? Prüfen wir einmal, was die Bürgerschule leistet. Vergleicht man die Bestimmungen der deutschen Wehrordnung (Art. 2. I. § 2) über die von den Einjährig-Freiwilligen nachzuweisenden Kenntnisse mit den königlich sächsischen Vorschriften über die Lehrgegenstände in der obersten Klasse der Bürgerschule, so ergiebt sich folgendes. Die Wehrordnung fordert Lateinisch und Griechisch in ziemlich bedeutendem Umfange, auch etwas Englisch, die Bürgerschule kennt diese Disziplinen überhaupt nicht. Im Deutschen, in der Geschichte und in der Geometrie stimmen beide etwa überein; nur eine größere Kenntnis der deutschen Litteratur verlangt die Wehrordnung. Im Französischen, in der Geographie und in der Arithmetik fordert die Wehrord¬ nung etwas mehr, in der Physik etwas weniger. Hiernach wird man den Bildungsgrad eines aus der obersten Klasse der Bürgerschule abgegangenen für etwas geringer erklären müssen, als den des-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/462
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/462>, abgerufen am 22.07.2024.