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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Berechtigungen.

bringen. Dies Verlassen des durch die Geburt und die Verhältnisse ange¬
wiesenen Berufs führt in außerordentlich vielen Fällen erst recht zum "Ver¬
fehlen des Berufs." Es schafft vor allem das gebildete Proletariat, dessen große
Gefährlichkeit in der Eingabe an den Reichskanzler mit vollem Rechte hervorgehoben,
und das vom Kultusminister in seiner Unterredung mit dem Ausschusse unum¬
wunden als ein Hauptschaden unsrer Schulverhältnisse anerkannt worden ist.

Aber auch die Lehranstalten selbst leiden schwer unter der jetzigen Sach¬
lage. Das königlich sächsische Schulgesetz vom 22. August 1876 sagt 2)
ausdrücklich: "Aufgabe der Gymnasien ist, zum selbständigen Studium der
Wissenschcifteu durch allseitige humanistische, insbesondere altklassische Bildung
in formeller und materieller Hinsicht vorzubereiten." Es sind aber wesentlich
die Bestimmungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger, welche die Gym¬
nasien dieser schönen Aufgabe entfremdet und sie, wenigstens in den Klassen
bis Obersekunda, zu Ersitzuugsaustalten jener Berechtigung herabgedrückt haben.
Es steht fest, daß nur etwa ein Drittel der ins Gymnasium eintretenden
es bis zur Reifeprüfung durchlaufen. Was ist also die größere Hälfte
der Schüler? Ballast! Welche Verschwendung an Zeit, Geld und Lehr¬
kräften! Wie ganz anders könnten die Gymnasien ihrem Ziele zustreben, wenn
nicht das Zentuergewicht derjenigen an ihnen hinge, die es nur bis zur Unter¬
sekunda bringen wollen!

Und ferner: im Sinne des Gesetzes sollen die Gymnasien gewissermaßen
aristokratische Anstalten sein, bestimmt, die Söhne der höhern Volksklassen auf¬
zunehmen und sie den höchsten Berufsarten zuzuführen, namentlich dem Staats¬
dienst. Jetzt findet auf ihnen ein höchst bedauerliches Durcheincmdcrwerfen der
Stände statt. Das entspricht freilich den liberalen Theorieen, in deren Fahr¬
wasser wir es auch bis zum allgemeinen Wahlrecht (ein geistreicher Franzose
nannte es neulich mit Anwendung auf sein Vaterland ein Rasirmesser in der
Hand eines Affen) gebracht haben. Aber dem wahren Wohle des Staates
wie des Einzelnen entspricht es nicht; dein dient weit besser das Erhalten,
und wo es erforderlich ist, das Wiederaufrichten verständiger und wohlthätiger
Schranken, die einem jeden genügenden und gebührenden Raum zur Entfaltung
seiner Kräfte anweisen, nicht aber ihm ungemessene Bahnen eröffnen, in denen
er leichter das Falsche als das Richtige erreicht, selbst kein Glück findet und
das Glück anderer gefährdet.

Die jetzt in Betreff der Gymnasien obwaltenden Verhältnisse hat Herr von
Goßler selbst als durchaus ungesund bezeichnet. Nicht nur daß die Gymnasien
infolge des Mangels der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligendienst in den
Klassen bis Obersekuuda an einer sehr bedauerlichen Überfüllung leiden, auch
ihre Anzahl ist viel zu groß geworden. Naturgemäß sollte, dem Verhältnis
der Bewohnerzahl des Landes entsprechend, nächst der Volksschule die Bürger¬
schule den breitesten Raum einnehmen. Namentlich sollten sich die kleineren


Die Berechtigungen.

bringen. Dies Verlassen des durch die Geburt und die Verhältnisse ange¬
wiesenen Berufs führt in außerordentlich vielen Fällen erst recht zum „Ver¬
fehlen des Berufs." Es schafft vor allem das gebildete Proletariat, dessen große
Gefährlichkeit in der Eingabe an den Reichskanzler mit vollem Rechte hervorgehoben,
und das vom Kultusminister in seiner Unterredung mit dem Ausschusse unum¬
wunden als ein Hauptschaden unsrer Schulverhältnisse anerkannt worden ist.

Aber auch die Lehranstalten selbst leiden schwer unter der jetzigen Sach¬
lage. Das königlich sächsische Schulgesetz vom 22. August 1876 sagt 2)
ausdrücklich: „Aufgabe der Gymnasien ist, zum selbständigen Studium der
Wissenschcifteu durch allseitige humanistische, insbesondere altklassische Bildung
in formeller und materieller Hinsicht vorzubereiten." Es sind aber wesentlich
die Bestimmungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger, welche die Gym¬
nasien dieser schönen Aufgabe entfremdet und sie, wenigstens in den Klassen
bis Obersekunda, zu Ersitzuugsaustalten jener Berechtigung herabgedrückt haben.
Es steht fest, daß nur etwa ein Drittel der ins Gymnasium eintretenden
es bis zur Reifeprüfung durchlaufen. Was ist also die größere Hälfte
der Schüler? Ballast! Welche Verschwendung an Zeit, Geld und Lehr¬
kräften! Wie ganz anders könnten die Gymnasien ihrem Ziele zustreben, wenn
nicht das Zentuergewicht derjenigen an ihnen hinge, die es nur bis zur Unter¬
sekunda bringen wollen!

Und ferner: im Sinne des Gesetzes sollen die Gymnasien gewissermaßen
aristokratische Anstalten sein, bestimmt, die Söhne der höhern Volksklassen auf¬
zunehmen und sie den höchsten Berufsarten zuzuführen, namentlich dem Staats¬
dienst. Jetzt findet auf ihnen ein höchst bedauerliches Durcheincmdcrwerfen der
Stände statt. Das entspricht freilich den liberalen Theorieen, in deren Fahr¬
wasser wir es auch bis zum allgemeinen Wahlrecht (ein geistreicher Franzose
nannte es neulich mit Anwendung auf sein Vaterland ein Rasirmesser in der
Hand eines Affen) gebracht haben. Aber dem wahren Wohle des Staates
wie des Einzelnen entspricht es nicht; dein dient weit besser das Erhalten,
und wo es erforderlich ist, das Wiederaufrichten verständiger und wohlthätiger
Schranken, die einem jeden genügenden und gebührenden Raum zur Entfaltung
seiner Kräfte anweisen, nicht aber ihm ungemessene Bahnen eröffnen, in denen
er leichter das Falsche als das Richtige erreicht, selbst kein Glück findet und
das Glück anderer gefährdet.

Die jetzt in Betreff der Gymnasien obwaltenden Verhältnisse hat Herr von
Goßler selbst als durchaus ungesund bezeichnet. Nicht nur daß die Gymnasien
infolge des Mangels der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligendienst in den
Klassen bis Obersekuuda an einer sehr bedauerlichen Überfüllung leiden, auch
ihre Anzahl ist viel zu groß geworden. Naturgemäß sollte, dem Verhältnis
der Bewohnerzahl des Landes entsprechend, nächst der Volksschule die Bürger¬
schule den breitesten Raum einnehmen. Namentlich sollten sich die kleineren


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[0461] Die Berechtigungen. bringen. Dies Verlassen des durch die Geburt und die Verhältnisse ange¬ wiesenen Berufs führt in außerordentlich vielen Fällen erst recht zum „Ver¬ fehlen des Berufs." Es schafft vor allem das gebildete Proletariat, dessen große Gefährlichkeit in der Eingabe an den Reichskanzler mit vollem Rechte hervorgehoben, und das vom Kultusminister in seiner Unterredung mit dem Ausschusse unum¬ wunden als ein Hauptschaden unsrer Schulverhältnisse anerkannt worden ist. Aber auch die Lehranstalten selbst leiden schwer unter der jetzigen Sach¬ lage. Das königlich sächsische Schulgesetz vom 22. August 1876 sagt 2) ausdrücklich: „Aufgabe der Gymnasien ist, zum selbständigen Studium der Wissenschcifteu durch allseitige humanistische, insbesondere altklassische Bildung in formeller und materieller Hinsicht vorzubereiten." Es sind aber wesentlich die Bestimmungen über den Dienst als Einjährig-Freiwilliger, welche die Gym¬ nasien dieser schönen Aufgabe entfremdet und sie, wenigstens in den Klassen bis Obersekunda, zu Ersitzuugsaustalten jener Berechtigung herabgedrückt haben. Es steht fest, daß nur etwa ein Drittel der ins Gymnasium eintretenden es bis zur Reifeprüfung durchlaufen. Was ist also die größere Hälfte der Schüler? Ballast! Welche Verschwendung an Zeit, Geld und Lehr¬ kräften! Wie ganz anders könnten die Gymnasien ihrem Ziele zustreben, wenn nicht das Zentuergewicht derjenigen an ihnen hinge, die es nur bis zur Unter¬ sekunda bringen wollen! Und ferner: im Sinne des Gesetzes sollen die Gymnasien gewissermaßen aristokratische Anstalten sein, bestimmt, die Söhne der höhern Volksklassen auf¬ zunehmen und sie den höchsten Berufsarten zuzuführen, namentlich dem Staats¬ dienst. Jetzt findet auf ihnen ein höchst bedauerliches Durcheincmdcrwerfen der Stände statt. Das entspricht freilich den liberalen Theorieen, in deren Fahr¬ wasser wir es auch bis zum allgemeinen Wahlrecht (ein geistreicher Franzose nannte es neulich mit Anwendung auf sein Vaterland ein Rasirmesser in der Hand eines Affen) gebracht haben. Aber dem wahren Wohle des Staates wie des Einzelnen entspricht es nicht; dein dient weit besser das Erhalten, und wo es erforderlich ist, das Wiederaufrichten verständiger und wohlthätiger Schranken, die einem jeden genügenden und gebührenden Raum zur Entfaltung seiner Kräfte anweisen, nicht aber ihm ungemessene Bahnen eröffnen, in denen er leichter das Falsche als das Richtige erreicht, selbst kein Glück findet und das Glück anderer gefährdet. Die jetzt in Betreff der Gymnasien obwaltenden Verhältnisse hat Herr von Goßler selbst als durchaus ungesund bezeichnet. Nicht nur daß die Gymnasien infolge des Mangels der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligendienst in den Klassen bis Obersekuuda an einer sehr bedauerlichen Überfüllung leiden, auch ihre Anzahl ist viel zu groß geworden. Naturgemäß sollte, dem Verhältnis der Bewohnerzahl des Landes entsprechend, nächst der Volksschule die Bürger¬ schule den breitesten Raum einnehmen. Namentlich sollten sich die kleineren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/461>, abgerufen am 03.07.2024.