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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Parteien in Rußland.

Geheimpolizei ergänzt. Die Aussicht auf Prügelstrafe, vor der weder Rang
noch Geschlecht schützte, warnte vor unvorsichtiger Äußerung liberaler Meinungen
und Wünsche. Dieses Abschreckungs- und Verhütungssystem that denn auch
seine Wirkung, und dazu kamen noch die imponirende Persönlichkeit des Selbst¬
herrschers, der es handhabte, die Gewalt seines überlegenen Willens und der
Stolz auf die Machtstellung, die Rußland uuter ihm in Europa einnahm, so
daß es kein Wunder war, wenn die russische Gesellschaft bald huldigend vor
dem Throne auf den Knieen lag, und wenn selbst die bescheidenste Ausstellung
an einer kaiserlichen Entschließung hinreichte, den, der sie wagte, in allen Salons
unmöglich zu machen. Mau war hier zufrieden, ja man fühlte sich wie in der
besten der Welten, und es erscheint nicht als Verrücktheit, es ist nur der
klassische Ausdruck dieser Stimmung, wenn ein damaliger Staatsmann sagte:
I/ö xg.8s6 as 1a Russis sse aZiniralvIs, 1<z xressirt, sse xlus aus maZ'iiiticiv.s,
et l'avLnir surxgLLörs. tont es quo I'imagination Iiunrg.inL xsut oonosvoir. Das
war aber zu unnatürlich, um Dauer zu haben. Der trotz Zensur und Polizei
fortwirkende Einfluß der liberalen Ideen des Westens, der täglich sich aufdrängende
Vergleich des prahlerischer Selbstlobes, in dem man sich von obenher erging,
mit den thatsächlichen Zuständen, mit der Hohlheit des gesellschaftlichen Lebens,
mit der Herrschaft von Brutalität und Unbildung, mit der Unredlichkeit des
Beamtenstandes und mit dem Elende des Landvolkes untergruben langsam den
Bestand des Einklanges zwischen Hof und Gesellschaft, und es kam, etwa von
1836 an, statt der Mode, die der Zar als unfehlbar betrachtete, eine andre
auf, die gewohnheitsmäßiges Absprechen über alle Rcgierungsmaßregeln als
wesentliches Erfordernis bei Leuten von Bildung und als unentbehrliche Würze
jeder Unterhaltung, die geistreich sein wollte, ansah. Anfangs nur ein all¬
gemeines Räsonniren, nahm die neue Mode bei ihren fortgeschrittenen Anhängern
bald eine demokratisch-sozialistischen Färbung an, die sie wesentlich von dem
konstitutionellen Liberalismus der ersten zwanziger Jahre unterschied, mit dem
sie aber das gemein hatte, daß sie teilweise von Frankreich stammte, wo damals
die Schüler Se. Simons von sich reden machten. Den Ernst und den Mut
zu offnem Auftreten besaß diese neue Opposition, die sich namentlich gegen die
Leibeigenschaft kehrte, nicht, und als einziges Zeichen der geheimen Gcihrung
erschien an der Oberflüche eine veränderte belletristische Litteratur. Der durch
Gogol beliebt gewordene ironisch-satirische Realismus, der sich getreue Wieder¬
gabe der Wirklichkeit zur einzigen Aufgabe machte, war ganz dazu angethan, diesen
heimlichen Interessen Nahrung zu bieten. Den Argwohn des vorwiegend gegen
den ältern Liberalismus abgerichteten Zensors geschickt vermeidend, bildete diese
litterarische Gattung die Kunst, zwischen den Zeilen zu schreiben und zu lesen,
zu einer nirgends sonst erreichten Vollkommenheit aus. Wie früher, strömte
die oppositionelle Bewegung am radikalsten in einigen Kreisen junger Leute, zu
denen das erste Petersburger Kadettenkorps und die dortige Artillerieschule ge-


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Geheimpolizei ergänzt. Die Aussicht auf Prügelstrafe, vor der weder Rang
noch Geschlecht schützte, warnte vor unvorsichtiger Äußerung liberaler Meinungen
und Wünsche. Dieses Abschreckungs- und Verhütungssystem that denn auch
seine Wirkung, und dazu kamen noch die imponirende Persönlichkeit des Selbst¬
herrschers, der es handhabte, die Gewalt seines überlegenen Willens und der
Stolz auf die Machtstellung, die Rußland uuter ihm in Europa einnahm, so
daß es kein Wunder war, wenn die russische Gesellschaft bald huldigend vor
dem Throne auf den Knieen lag, und wenn selbst die bescheidenste Ausstellung
an einer kaiserlichen Entschließung hinreichte, den, der sie wagte, in allen Salons
unmöglich zu machen. Mau war hier zufrieden, ja man fühlte sich wie in der
besten der Welten, und es erscheint nicht als Verrücktheit, es ist nur der
klassische Ausdruck dieser Stimmung, wenn ein damaliger Staatsmann sagte:
I/ö xg.8s6 as 1a Russis sse aZiniralvIs, 1<z xressirt, sse xlus aus maZ'iiiticiv.s,
et l'avLnir surxgLLörs. tont es quo I'imagination Iiunrg.inL xsut oonosvoir. Das
war aber zu unnatürlich, um Dauer zu haben. Der trotz Zensur und Polizei
fortwirkende Einfluß der liberalen Ideen des Westens, der täglich sich aufdrängende
Vergleich des prahlerischer Selbstlobes, in dem man sich von obenher erging,
mit den thatsächlichen Zuständen, mit der Hohlheit des gesellschaftlichen Lebens,
mit der Herrschaft von Brutalität und Unbildung, mit der Unredlichkeit des
Beamtenstandes und mit dem Elende des Landvolkes untergruben langsam den
Bestand des Einklanges zwischen Hof und Gesellschaft, und es kam, etwa von
1836 an, statt der Mode, die der Zar als unfehlbar betrachtete, eine andre
auf, die gewohnheitsmäßiges Absprechen über alle Rcgierungsmaßregeln als
wesentliches Erfordernis bei Leuten von Bildung und als unentbehrliche Würze
jeder Unterhaltung, die geistreich sein wollte, ansah. Anfangs nur ein all¬
gemeines Räsonniren, nahm die neue Mode bei ihren fortgeschrittenen Anhängern
bald eine demokratisch-sozialistischen Färbung an, die sie wesentlich von dem
konstitutionellen Liberalismus der ersten zwanziger Jahre unterschied, mit dem
sie aber das gemein hatte, daß sie teilweise von Frankreich stammte, wo damals
die Schüler Se. Simons von sich reden machten. Den Ernst und den Mut
zu offnem Auftreten besaß diese neue Opposition, die sich namentlich gegen die
Leibeigenschaft kehrte, nicht, und als einziges Zeichen der geheimen Gcihrung
erschien an der Oberflüche eine veränderte belletristische Litteratur. Der durch
Gogol beliebt gewordene ironisch-satirische Realismus, der sich getreue Wieder¬
gabe der Wirklichkeit zur einzigen Aufgabe machte, war ganz dazu angethan, diesen
heimlichen Interessen Nahrung zu bieten. Den Argwohn des vorwiegend gegen
den ältern Liberalismus abgerichteten Zensors geschickt vermeidend, bildete diese
litterarische Gattung die Kunst, zwischen den Zeilen zu schreiben und zu lesen,
zu einer nirgends sonst erreichten Vollkommenheit aus. Wie früher, strömte
die oppositionelle Bewegung am radikalsten in einigen Kreisen junger Leute, zu
denen das erste Petersburger Kadettenkorps und die dortige Artillerieschule ge-


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[0452] Line Geschichte der Parteien in Rußland. Geheimpolizei ergänzt. Die Aussicht auf Prügelstrafe, vor der weder Rang noch Geschlecht schützte, warnte vor unvorsichtiger Äußerung liberaler Meinungen und Wünsche. Dieses Abschreckungs- und Verhütungssystem that denn auch seine Wirkung, und dazu kamen noch die imponirende Persönlichkeit des Selbst¬ herrschers, der es handhabte, die Gewalt seines überlegenen Willens und der Stolz auf die Machtstellung, die Rußland uuter ihm in Europa einnahm, so daß es kein Wunder war, wenn die russische Gesellschaft bald huldigend vor dem Throne auf den Knieen lag, und wenn selbst die bescheidenste Ausstellung an einer kaiserlichen Entschließung hinreichte, den, der sie wagte, in allen Salons unmöglich zu machen. Mau war hier zufrieden, ja man fühlte sich wie in der besten der Welten, und es erscheint nicht als Verrücktheit, es ist nur der klassische Ausdruck dieser Stimmung, wenn ein damaliger Staatsmann sagte: I/ö xg.8s6 as 1a Russis sse aZiniralvIs, 1<z xressirt, sse xlus aus maZ'iiiticiv.s, et l'avLnir surxgLLörs. tont es quo I'imagination Iiunrg.inL xsut oonosvoir. Das war aber zu unnatürlich, um Dauer zu haben. Der trotz Zensur und Polizei fortwirkende Einfluß der liberalen Ideen des Westens, der täglich sich aufdrängende Vergleich des prahlerischer Selbstlobes, in dem man sich von obenher erging, mit den thatsächlichen Zuständen, mit der Hohlheit des gesellschaftlichen Lebens, mit der Herrschaft von Brutalität und Unbildung, mit der Unredlichkeit des Beamtenstandes und mit dem Elende des Landvolkes untergruben langsam den Bestand des Einklanges zwischen Hof und Gesellschaft, und es kam, etwa von 1836 an, statt der Mode, die der Zar als unfehlbar betrachtete, eine andre auf, die gewohnheitsmäßiges Absprechen über alle Rcgierungsmaßregeln als wesentliches Erfordernis bei Leuten von Bildung und als unentbehrliche Würze jeder Unterhaltung, die geistreich sein wollte, ansah. Anfangs nur ein all¬ gemeines Räsonniren, nahm die neue Mode bei ihren fortgeschrittenen Anhängern bald eine demokratisch-sozialistischen Färbung an, die sie wesentlich von dem konstitutionellen Liberalismus der ersten zwanziger Jahre unterschied, mit dem sie aber das gemein hatte, daß sie teilweise von Frankreich stammte, wo damals die Schüler Se. Simons von sich reden machten. Den Ernst und den Mut zu offnem Auftreten besaß diese neue Opposition, die sich namentlich gegen die Leibeigenschaft kehrte, nicht, und als einziges Zeichen der geheimen Gcihrung erschien an der Oberflüche eine veränderte belletristische Litteratur. Der durch Gogol beliebt gewordene ironisch-satirische Realismus, der sich getreue Wieder¬ gabe der Wirklichkeit zur einzigen Aufgabe machte, war ganz dazu angethan, diesen heimlichen Interessen Nahrung zu bieten. Den Argwohn des vorwiegend gegen den ältern Liberalismus abgerichteten Zensors geschickt vermeidend, bildete diese litterarische Gattung die Kunst, zwischen den Zeilen zu schreiben und zu lesen, zu einer nirgends sonst erreichten Vollkommenheit aus. Wie früher, strömte die oppositionelle Bewegung am radikalsten in einigen Kreisen junger Leute, zu denen das erste Petersburger Kadettenkorps und die dortige Artillerieschule ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/452>, abgerufen am 22.07.2024.