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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Line Gehet'lebte der Parteien in Rußland.

denen die russische Gesellschaft litt. Ein politischer Oppositionsgeist war in
diesen Gegenströmungen anfangs nicht zu bemerken. Die Regierung war liberal,
weil sie aufgeklärt war. Erst die französische Revolution öffnete ihr die Augen
über die politische Bedeutung der Aufklärung, und jetzt erfolgte ein Umschwung,
der unter andern die bis dahin in Rußland geduldeten Freimaurer traf. Unter
Kaiser Paul, dem despotischen Gegner aller Ideen, die der Revolution zu Grunde
lagen, war von freierer Regung des Liberalismus nicht die Rede. Dagegen
wurde er unter dessen Nachfolger Alexander, dem Enkel Katharinas, dem Zögling
des Jakobiners Laharpe, für einige Zeit so vollständig entfesselt, daß ihm die
Zukunft des Landes zu gehören schien. Der Kultus des nationalen Wesens
und die Feindschaft gegen Frankreich, die sich während des Kampfes mit Napoleon
entwickelten, verdrängten ihn nur vorübergehend aus den Gemütern. Die Ein¬
wanderung Tausender von Franzosen, die nach der Restauration stattfand, ver¬
stärkte ihn, das Beispiel der deutschen Nachbarn, die sich ihm nach ihrem
Befreiungskriege zugewandt hatten, reizte zur Nachahmung, und so verbreitete
sich der junge Liberalismus binnen kurzem über alle Kreise der Gebildeten. Bei
der Mehrzahl hatte er allerdings nur die Bedeutung einer oberflächlichen Mode,
bei dem jüngern Geschlecht aber, namentlich unter dem Offiziersstande, schlug
er als schwärmerische Überzeugung tiefere Wurzeln. Junge Gardeoffiziere, die
zwischen 1815 und 1820 aus ihren Garnisonen in Frankreich mit Abscheu vor
den staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen der Heimat und mit dem Ent¬
schlüsse, sie gründlich zu ändern, zurückgekehrt waren, wurden zu Führern der
Bewegung, die, als Alexander in der zweiten Hälfte seiner Negierung unter
dem Einflüsse Metternichs sich von den liberalen Ideen abwandte, einen oppo¬
sitionellen Charakter annahm und sich in geheimen Gesellschaften verkörperte.
Es entstand ein "Nordbund" und ein "Südbund" mit dem Zwecke, den seiner
hohen Stellung unwürdig gewordenen Zaren zu ermorden und dann, wie die
einen wollten, das Reich in eine verfassungsmäßig beschränkte Monarchie oder,
wie die andern beabsichtigten, in eine Anzahl verbündeter Republiken zu ver¬
wandeln. Man bereitete für den Mai 1826 einen Militäranfstand vor, der
infolge des Todes Alexanders in Petersburg schon im Dezember 1825 aus¬
brach, hier aber mißlang und im Süden infolge von Verrat unterblieb. Zar
Nikolaus, der Sieger über die Verschwornen, strafte zunächst mit Hinrichtungen
und Verbannungen und führte dann ein Regierungssystem ein, das von dem
seines Bruders und Vorgängers völlig verschieden war, und das zum leitenden
Grundsätze die Verwerflichkeit der westlichen Zivilisation in Sachen von Staat
und Kirche und die Notwendigkeit für Rußland, eigne Wege zu gehen, haben
sollte. Dieser Gedanke wurde während einer dreißigjährigen Negierung mit
größter Rücksichtslosigkeit durchgeführt. Eine strenge Zensur der Presse und
eine grobe Neglementirung und mißtrauische Überwachung der höhern Unter¬
richtsanstalten wurden durch eine mit fast schrankenloser Machtfülle ausgestattete


Line Gehet'lebte der Parteien in Rußland.

denen die russische Gesellschaft litt. Ein politischer Oppositionsgeist war in
diesen Gegenströmungen anfangs nicht zu bemerken. Die Regierung war liberal,
weil sie aufgeklärt war. Erst die französische Revolution öffnete ihr die Augen
über die politische Bedeutung der Aufklärung, und jetzt erfolgte ein Umschwung,
der unter andern die bis dahin in Rußland geduldeten Freimaurer traf. Unter
Kaiser Paul, dem despotischen Gegner aller Ideen, die der Revolution zu Grunde
lagen, war von freierer Regung des Liberalismus nicht die Rede. Dagegen
wurde er unter dessen Nachfolger Alexander, dem Enkel Katharinas, dem Zögling
des Jakobiners Laharpe, für einige Zeit so vollständig entfesselt, daß ihm die
Zukunft des Landes zu gehören schien. Der Kultus des nationalen Wesens
und die Feindschaft gegen Frankreich, die sich während des Kampfes mit Napoleon
entwickelten, verdrängten ihn nur vorübergehend aus den Gemütern. Die Ein¬
wanderung Tausender von Franzosen, die nach der Restauration stattfand, ver¬
stärkte ihn, das Beispiel der deutschen Nachbarn, die sich ihm nach ihrem
Befreiungskriege zugewandt hatten, reizte zur Nachahmung, und so verbreitete
sich der junge Liberalismus binnen kurzem über alle Kreise der Gebildeten. Bei
der Mehrzahl hatte er allerdings nur die Bedeutung einer oberflächlichen Mode,
bei dem jüngern Geschlecht aber, namentlich unter dem Offiziersstande, schlug
er als schwärmerische Überzeugung tiefere Wurzeln. Junge Gardeoffiziere, die
zwischen 1815 und 1820 aus ihren Garnisonen in Frankreich mit Abscheu vor
den staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen der Heimat und mit dem Ent¬
schlüsse, sie gründlich zu ändern, zurückgekehrt waren, wurden zu Führern der
Bewegung, die, als Alexander in der zweiten Hälfte seiner Negierung unter
dem Einflüsse Metternichs sich von den liberalen Ideen abwandte, einen oppo¬
sitionellen Charakter annahm und sich in geheimen Gesellschaften verkörperte.
Es entstand ein „Nordbund" und ein „Südbund" mit dem Zwecke, den seiner
hohen Stellung unwürdig gewordenen Zaren zu ermorden und dann, wie die
einen wollten, das Reich in eine verfassungsmäßig beschränkte Monarchie oder,
wie die andern beabsichtigten, in eine Anzahl verbündeter Republiken zu ver¬
wandeln. Man bereitete für den Mai 1826 einen Militäranfstand vor, der
infolge des Todes Alexanders in Petersburg schon im Dezember 1825 aus¬
brach, hier aber mißlang und im Süden infolge von Verrat unterblieb. Zar
Nikolaus, der Sieger über die Verschwornen, strafte zunächst mit Hinrichtungen
und Verbannungen und führte dann ein Regierungssystem ein, das von dem
seines Bruders und Vorgängers völlig verschieden war, und das zum leitenden
Grundsätze die Verwerflichkeit der westlichen Zivilisation in Sachen von Staat
und Kirche und die Notwendigkeit für Rußland, eigne Wege zu gehen, haben
sollte. Dieser Gedanke wurde während einer dreißigjährigen Negierung mit
größter Rücksichtslosigkeit durchgeführt. Eine strenge Zensur der Presse und
eine grobe Neglementirung und mißtrauische Überwachung der höhern Unter¬
richtsanstalten wurden durch eine mit fast schrankenloser Machtfülle ausgestattete


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/451>, abgerufen am 22.07.2024.