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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Parteien in Rußland.

hörten, und denen sich ein dritter anreihte, der sich an der Moskaner Universität
gebildet hatte. Moskau galt schon seit den Tagen Peters des Großen als
Mittelpunkt der altrussischen Opposition, seine Hochschule wurde daher besonders
streng überwacht. Den Studirenden waren nicht nur Fleiß und loyale Ge¬
sinnung "vorgeschrieben," sondern ihre ganze Lebensweise, die Einteilung ihrer
Zeit, die Kleidung u. s. w. waren mit militärischer Peinlichkeit an Reglements
gebunden, die Thätigkeit der Professoren war so eingezwängt, daß sie nicht viel
mehr als mechanische Vorleser waren. Kurator der Anstalt war ein alter
General, der mit seiner Befugnis, Zucht zu üben, tölpelhaft zugriff. Dienst¬
fertige Angeber belauschten das tägliche Leben der Lehrenden wie der Lernenden.
Dennoch gelang es, in heimlichen Vereinigungen die Wissenschaft zu Pflegen,
namentlich die Früchte der streng verpöntem deutschen Philosophie zu pflücken
und den befreienden Gedanken in der Verborgenheit einen Altar zu errichten.
Gemeinsam wurden die Geheimnisse der Schule Schellings und Hegels zu ent¬
rätseln versucht, die Genossen stärkten sich gegenseitig im Hasse der Bedrückung,
die sie erdulden mußten, in der Verachtung der geistigen Armseligkeit und sitt¬
lichen Verkommenheit, die sich in der vornehmen Welt breit machten, und in
der Sehnsucht nach einer bessern Zukunft, welcher Bahn zu brechen sie sich vor
allem berufen fühlten. Die Gedanken der Berliner Philosophen verwandelten
sich in ihrer Mitte in revolutionäre Pläne, die Hegelsche Lehre von der geschicht¬
lichen Entwicklung wurde Anlaß zu der später bedeutungsvoll werdenden Theorie
von einer gewaltigen Zukunft des befreiten Rnssenvolkes, von dem Berufe der
Slawen, einst in Europa die erste Rolle zu spielen.

Über die Gestaltung dieser Zukunft war man verschiedener Meinung. Die
eine Gruppe, die w!r, wegen der Einwirkung, welche Schlegelsche Theorien auf
sie geübt hatte, die romantische nennen wollen, suchte mit Anlehnung an das
schroffe Moskaner Altrussentnm alles Heil in einer Renaissance der Kultur ent¬
legener byzantinischer Jahrhunderte Rußlands. Von dem Standpunkte der offi¬
ziellen Verherrlichung des nationalen Wesens und Besitzes trennten sie ihr
weiterstrebender Radikalismus, ihre Verurteilung der Reformen Peters des
Großen und ihr Haß gegen das am Hofe wohlgelittene deutsche Element, vor¬
züglich aber ihre bis zu demokratischer Übertreibung gesteigerte Vorliebe für das
Volkstümliche. Von diesem Lager gingen die Anregungen ans, welche die
Erforschung des russischen Altertums hervorriefen. "Allein gänzlich auf Grübelei
über die hierdurch gewonnenen Ergebnisse angewiesen, dem praktischen Leben
entrückt, verirrten sich die Heißsporne dieser slawophilen Richtung in tiefsinnige
Deutung des Formalismus der rechtgläubigen Kirche und in ausschweifende
Bethätigung ihres unverfälschten Russeutums, die Ähnlichkeit mit der Deusch--
tunckel der zwanziger Jahre hatte, nur daß sie sich vielfach verrückter und
abgeschmackter geberdete."

Neben dieser Richtung entwickelte sich unter den Moskaner Studenten eine


Line Geschichte der Parteien in Rußland.

hörten, und denen sich ein dritter anreihte, der sich an der Moskaner Universität
gebildet hatte. Moskau galt schon seit den Tagen Peters des Großen als
Mittelpunkt der altrussischen Opposition, seine Hochschule wurde daher besonders
streng überwacht. Den Studirenden waren nicht nur Fleiß und loyale Ge¬
sinnung „vorgeschrieben," sondern ihre ganze Lebensweise, die Einteilung ihrer
Zeit, die Kleidung u. s. w. waren mit militärischer Peinlichkeit an Reglements
gebunden, die Thätigkeit der Professoren war so eingezwängt, daß sie nicht viel
mehr als mechanische Vorleser waren. Kurator der Anstalt war ein alter
General, der mit seiner Befugnis, Zucht zu üben, tölpelhaft zugriff. Dienst¬
fertige Angeber belauschten das tägliche Leben der Lehrenden wie der Lernenden.
Dennoch gelang es, in heimlichen Vereinigungen die Wissenschaft zu Pflegen,
namentlich die Früchte der streng verpöntem deutschen Philosophie zu pflücken
und den befreienden Gedanken in der Verborgenheit einen Altar zu errichten.
Gemeinsam wurden die Geheimnisse der Schule Schellings und Hegels zu ent¬
rätseln versucht, die Genossen stärkten sich gegenseitig im Hasse der Bedrückung,
die sie erdulden mußten, in der Verachtung der geistigen Armseligkeit und sitt¬
lichen Verkommenheit, die sich in der vornehmen Welt breit machten, und in
der Sehnsucht nach einer bessern Zukunft, welcher Bahn zu brechen sie sich vor
allem berufen fühlten. Die Gedanken der Berliner Philosophen verwandelten
sich in ihrer Mitte in revolutionäre Pläne, die Hegelsche Lehre von der geschicht¬
lichen Entwicklung wurde Anlaß zu der später bedeutungsvoll werdenden Theorie
von einer gewaltigen Zukunft des befreiten Rnssenvolkes, von dem Berufe der
Slawen, einst in Europa die erste Rolle zu spielen.

Über die Gestaltung dieser Zukunft war man verschiedener Meinung. Die
eine Gruppe, die w!r, wegen der Einwirkung, welche Schlegelsche Theorien auf
sie geübt hatte, die romantische nennen wollen, suchte mit Anlehnung an das
schroffe Moskaner Altrussentnm alles Heil in einer Renaissance der Kultur ent¬
legener byzantinischer Jahrhunderte Rußlands. Von dem Standpunkte der offi¬
ziellen Verherrlichung des nationalen Wesens und Besitzes trennten sie ihr
weiterstrebender Radikalismus, ihre Verurteilung der Reformen Peters des
Großen und ihr Haß gegen das am Hofe wohlgelittene deutsche Element, vor¬
züglich aber ihre bis zu demokratischer Übertreibung gesteigerte Vorliebe für das
Volkstümliche. Von diesem Lager gingen die Anregungen ans, welche die
Erforschung des russischen Altertums hervorriefen. „Allein gänzlich auf Grübelei
über die hierdurch gewonnenen Ergebnisse angewiesen, dem praktischen Leben
entrückt, verirrten sich die Heißsporne dieser slawophilen Richtung in tiefsinnige
Deutung des Formalismus der rechtgläubigen Kirche und in ausschweifende
Bethätigung ihres unverfälschten Russeutums, die Ähnlichkeit mit der Deusch--
tunckel der zwanziger Jahre hatte, nur daß sie sich vielfach verrückter und
abgeschmackter geberdete."

Neben dieser Richtung entwickelte sich unter den Moskaner Studenten eine


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[0453] Line Geschichte der Parteien in Rußland. hörten, und denen sich ein dritter anreihte, der sich an der Moskaner Universität gebildet hatte. Moskau galt schon seit den Tagen Peters des Großen als Mittelpunkt der altrussischen Opposition, seine Hochschule wurde daher besonders streng überwacht. Den Studirenden waren nicht nur Fleiß und loyale Ge¬ sinnung „vorgeschrieben," sondern ihre ganze Lebensweise, die Einteilung ihrer Zeit, die Kleidung u. s. w. waren mit militärischer Peinlichkeit an Reglements gebunden, die Thätigkeit der Professoren war so eingezwängt, daß sie nicht viel mehr als mechanische Vorleser waren. Kurator der Anstalt war ein alter General, der mit seiner Befugnis, Zucht zu üben, tölpelhaft zugriff. Dienst¬ fertige Angeber belauschten das tägliche Leben der Lehrenden wie der Lernenden. Dennoch gelang es, in heimlichen Vereinigungen die Wissenschaft zu Pflegen, namentlich die Früchte der streng verpöntem deutschen Philosophie zu pflücken und den befreienden Gedanken in der Verborgenheit einen Altar zu errichten. Gemeinsam wurden die Geheimnisse der Schule Schellings und Hegels zu ent¬ rätseln versucht, die Genossen stärkten sich gegenseitig im Hasse der Bedrückung, die sie erdulden mußten, in der Verachtung der geistigen Armseligkeit und sitt¬ lichen Verkommenheit, die sich in der vornehmen Welt breit machten, und in der Sehnsucht nach einer bessern Zukunft, welcher Bahn zu brechen sie sich vor allem berufen fühlten. Die Gedanken der Berliner Philosophen verwandelten sich in ihrer Mitte in revolutionäre Pläne, die Hegelsche Lehre von der geschicht¬ lichen Entwicklung wurde Anlaß zu der später bedeutungsvoll werdenden Theorie von einer gewaltigen Zukunft des befreiten Rnssenvolkes, von dem Berufe der Slawen, einst in Europa die erste Rolle zu spielen. Über die Gestaltung dieser Zukunft war man verschiedener Meinung. Die eine Gruppe, die w!r, wegen der Einwirkung, welche Schlegelsche Theorien auf sie geübt hatte, die romantische nennen wollen, suchte mit Anlehnung an das schroffe Moskaner Altrussentnm alles Heil in einer Renaissance der Kultur ent¬ legener byzantinischer Jahrhunderte Rußlands. Von dem Standpunkte der offi¬ ziellen Verherrlichung des nationalen Wesens und Besitzes trennten sie ihr weiterstrebender Radikalismus, ihre Verurteilung der Reformen Peters des Großen und ihr Haß gegen das am Hofe wohlgelittene deutsche Element, vor¬ züglich aber ihre bis zu demokratischer Übertreibung gesteigerte Vorliebe für das Volkstümliche. Von diesem Lager gingen die Anregungen ans, welche die Erforschung des russischen Altertums hervorriefen. „Allein gänzlich auf Grübelei über die hierdurch gewonnenen Ergebnisse angewiesen, dem praktischen Leben entrückt, verirrten sich die Heißsporne dieser slawophilen Richtung in tiefsinnige Deutung des Formalismus der rechtgläubigen Kirche und in ausschweifende Bethätigung ihres unverfälschten Russeutums, die Ähnlichkeit mit der Deusch-- tunckel der zwanziger Jahre hatte, nur daß sie sich vielfach verrückter und abgeschmackter geberdete." Neben dieser Richtung entwickelte sich unter den Moskaner Studenten eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/453>, abgerufen am 28.09.2024.