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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Von der Romfahrt bis zu den preußischen Landtagswahlen.

Reiches verzeichnet worden ist. Heute vor zehn Jahren gewann das So¬
zialistengesetz Kraft. Seitdem hat es mit unbelehrbarer Gewalt an den Grund-
vesten unsers nationalen Gemeinwesens gerüttelt und dieselben in einem Maaße
erschüttert, welches niemals mehr gut gemacht werden kann. Niemals mehr.
Denn die deutschen Arbeiter müßten Fischblut in den Adern und leeres Stroh in
den Köpfen haben, wenn sie jemals vergeben und vergessen könnten, was ihnen
durch das Sozialistengesetz zugefügt worden ist. Heute ist es überflüssig zu sagen,
wie hohl die Vorwände waren, unter denen das Sozialistengesetz erlassen wurde."
Das schreibt eine Partei, die einst aus Angst, das Gesetz könnte nicht verlängert
werden, so viel Leute im Reichstage abkommandirte, als zur Durchdringung
des Gesetzes notwendig waren, und die damit bewies, daß sie recht gut begriff,
daß diejenigen, die eine Ausnahmestellung in der bürgerlichen Gesellschaft da¬
durch einnehmen, daß sie deren Bestand selbst als unberechtigt bekämpfen, es
nur sich selbst zuzuschreiben haben, wenn sie unter Ausnahmegesetze gestellt
werden. Welches Maaß von Freiheit unser Staat gewährt, kann jedermann
aus solchen Artikeln, wie den angeführten, am besten ersehen.

Eine womöglich noch unpatriotischere Gesinnung der Freisinnigen spricht
aber aus ihrem Kokettiren mit den Ultramontanen. Waren diese von ver¬
haltener Wut über die Blamage erfüllt, die der Papst durch sein Verhalten
gegenüber dem Kaiser sich zugezogen hatte, und konnten sich alle national-
gesinnten Deutschen nur freuen über die würdevolle Vertretung des Reiches
durch den Kaiser und Herbert Bismarck, so sahen die freisinnigen Nörgler in
solcher stolzen Freude nur das Entzücken der "richtigen Falstaffs. Duckmäuserig
und feige.... großmäulig und protzenhaft, wo sie (die Nationalgesinnten) . ..
nur die blasse Möglichkeit wittern, daß sich "die Reichsherrlichkeit" in persön¬
lichen Kränkungen eines alten und wehrlosen Mannes geäußert hat." So die
Volkszeitung. Diesen Leuten ist also der Papst ein "alter und wehrloser
Mann." Was den "alten Mann" betrifft (auf das "wehrlos" kommen wir
noch), so hindert ihn sein Alter nicht, "die Entschlossenheit der Kirche zum
moralischen Kampfe" zu verkünden, eine Entschlossenheit, von der die Bischöfe
von Köln und Münster in ihren Hirtenbriefen über die Landtagswahlen sofort
ein Beispiel gaben. Auch diese Hirtenbriefe waren aber dem Freisinn nur das
Gegenstück geistlicher Wahlbeeinflussung zur obrigkeitlich weltlichen. Wenn die
Freisinnigen selbst die Brodverteurung, an der sie am meisten durch Begün¬
stigung der Getreidespekulation und durch indirekte Aufforderung zur Preis¬
steigerung an die Bäcker schuld sind, auf die Zölle zurückschieben und so das
arbeitende Volk gegen die Negierung Hetzen, so ist das keine Wahlbeeinflussung.
Diese giebt es überhaupt nur bei der Regierung, die das unsittliche Kartell
gemacht hat, womit sie die Nationalliberalen einfing, welche nun sogar "den
letzten liberalen Schimmer, der ihnen noch aus bessern Tagen vielleicht an¬
haftete, bewußt und gründlich abgestreift haben." Denn "wer sich zum Kartell-


Von der Romfahrt bis zu den preußischen Landtagswahlen.

Reiches verzeichnet worden ist. Heute vor zehn Jahren gewann das So¬
zialistengesetz Kraft. Seitdem hat es mit unbelehrbarer Gewalt an den Grund-
vesten unsers nationalen Gemeinwesens gerüttelt und dieselben in einem Maaße
erschüttert, welches niemals mehr gut gemacht werden kann. Niemals mehr.
Denn die deutschen Arbeiter müßten Fischblut in den Adern und leeres Stroh in
den Köpfen haben, wenn sie jemals vergeben und vergessen könnten, was ihnen
durch das Sozialistengesetz zugefügt worden ist. Heute ist es überflüssig zu sagen,
wie hohl die Vorwände waren, unter denen das Sozialistengesetz erlassen wurde."
Das schreibt eine Partei, die einst aus Angst, das Gesetz könnte nicht verlängert
werden, so viel Leute im Reichstage abkommandirte, als zur Durchdringung
des Gesetzes notwendig waren, und die damit bewies, daß sie recht gut begriff,
daß diejenigen, die eine Ausnahmestellung in der bürgerlichen Gesellschaft da¬
durch einnehmen, daß sie deren Bestand selbst als unberechtigt bekämpfen, es
nur sich selbst zuzuschreiben haben, wenn sie unter Ausnahmegesetze gestellt
werden. Welches Maaß von Freiheit unser Staat gewährt, kann jedermann
aus solchen Artikeln, wie den angeführten, am besten ersehen.

Eine womöglich noch unpatriotischere Gesinnung der Freisinnigen spricht
aber aus ihrem Kokettiren mit den Ultramontanen. Waren diese von ver¬
haltener Wut über die Blamage erfüllt, die der Papst durch sein Verhalten
gegenüber dem Kaiser sich zugezogen hatte, und konnten sich alle national-
gesinnten Deutschen nur freuen über die würdevolle Vertretung des Reiches
durch den Kaiser und Herbert Bismarck, so sahen die freisinnigen Nörgler in
solcher stolzen Freude nur das Entzücken der „richtigen Falstaffs. Duckmäuserig
und feige.... großmäulig und protzenhaft, wo sie (die Nationalgesinnten) . ..
nur die blasse Möglichkeit wittern, daß sich »die Reichsherrlichkeit« in persön¬
lichen Kränkungen eines alten und wehrlosen Mannes geäußert hat." So die
Volkszeitung. Diesen Leuten ist also der Papst ein „alter und wehrloser
Mann." Was den „alten Mann" betrifft (auf das „wehrlos" kommen wir
noch), so hindert ihn sein Alter nicht, „die Entschlossenheit der Kirche zum
moralischen Kampfe" zu verkünden, eine Entschlossenheit, von der die Bischöfe
von Köln und Münster in ihren Hirtenbriefen über die Landtagswahlen sofort
ein Beispiel gaben. Auch diese Hirtenbriefe waren aber dem Freisinn nur das
Gegenstück geistlicher Wahlbeeinflussung zur obrigkeitlich weltlichen. Wenn die
Freisinnigen selbst die Brodverteurung, an der sie am meisten durch Begün¬
stigung der Getreidespekulation und durch indirekte Aufforderung zur Preis¬
steigerung an die Bäcker schuld sind, auf die Zölle zurückschieben und so das
arbeitende Volk gegen die Negierung Hetzen, so ist das keine Wahlbeeinflussung.
Diese giebt es überhaupt nur bei der Regierung, die das unsittliche Kartell
gemacht hat, womit sie die Nationalliberalen einfing, welche nun sogar „den
letzten liberalen Schimmer, der ihnen noch aus bessern Tagen vielleicht an¬
haftete, bewußt und gründlich abgestreift haben." Denn „wer sich zum Kartell-


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[0446] Von der Romfahrt bis zu den preußischen Landtagswahlen. Reiches verzeichnet worden ist. Heute vor zehn Jahren gewann das So¬ zialistengesetz Kraft. Seitdem hat es mit unbelehrbarer Gewalt an den Grund- vesten unsers nationalen Gemeinwesens gerüttelt und dieselben in einem Maaße erschüttert, welches niemals mehr gut gemacht werden kann. Niemals mehr. Denn die deutschen Arbeiter müßten Fischblut in den Adern und leeres Stroh in den Köpfen haben, wenn sie jemals vergeben und vergessen könnten, was ihnen durch das Sozialistengesetz zugefügt worden ist. Heute ist es überflüssig zu sagen, wie hohl die Vorwände waren, unter denen das Sozialistengesetz erlassen wurde." Das schreibt eine Partei, die einst aus Angst, das Gesetz könnte nicht verlängert werden, so viel Leute im Reichstage abkommandirte, als zur Durchdringung des Gesetzes notwendig waren, und die damit bewies, daß sie recht gut begriff, daß diejenigen, die eine Ausnahmestellung in der bürgerlichen Gesellschaft da¬ durch einnehmen, daß sie deren Bestand selbst als unberechtigt bekämpfen, es nur sich selbst zuzuschreiben haben, wenn sie unter Ausnahmegesetze gestellt werden. Welches Maaß von Freiheit unser Staat gewährt, kann jedermann aus solchen Artikeln, wie den angeführten, am besten ersehen. Eine womöglich noch unpatriotischere Gesinnung der Freisinnigen spricht aber aus ihrem Kokettiren mit den Ultramontanen. Waren diese von ver¬ haltener Wut über die Blamage erfüllt, die der Papst durch sein Verhalten gegenüber dem Kaiser sich zugezogen hatte, und konnten sich alle national- gesinnten Deutschen nur freuen über die würdevolle Vertretung des Reiches durch den Kaiser und Herbert Bismarck, so sahen die freisinnigen Nörgler in solcher stolzen Freude nur das Entzücken der „richtigen Falstaffs. Duckmäuserig und feige.... großmäulig und protzenhaft, wo sie (die Nationalgesinnten) . .. nur die blasse Möglichkeit wittern, daß sich »die Reichsherrlichkeit« in persön¬ lichen Kränkungen eines alten und wehrlosen Mannes geäußert hat." So die Volkszeitung. Diesen Leuten ist also der Papst ein „alter und wehrloser Mann." Was den „alten Mann" betrifft (auf das „wehrlos" kommen wir noch), so hindert ihn sein Alter nicht, „die Entschlossenheit der Kirche zum moralischen Kampfe" zu verkünden, eine Entschlossenheit, von der die Bischöfe von Köln und Münster in ihren Hirtenbriefen über die Landtagswahlen sofort ein Beispiel gaben. Auch diese Hirtenbriefe waren aber dem Freisinn nur das Gegenstück geistlicher Wahlbeeinflussung zur obrigkeitlich weltlichen. Wenn die Freisinnigen selbst die Brodverteurung, an der sie am meisten durch Begün¬ stigung der Getreidespekulation und durch indirekte Aufforderung zur Preis¬ steigerung an die Bäcker schuld sind, auf die Zölle zurückschieben und so das arbeitende Volk gegen die Negierung Hetzen, so ist das keine Wahlbeeinflussung. Diese giebt es überhaupt nur bei der Regierung, die das unsittliche Kartell gemacht hat, womit sie die Nationalliberalen einfing, welche nun sogar „den letzten liberalen Schimmer, der ihnen noch aus bessern Tagen vielleicht an¬ haftete, bewußt und gründlich abgestreift haben." Denn „wer sich zum Kartell-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/446>, abgerufen am 04.07.2024.