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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Friedrich vischer.

ebenfalls entsprechend, aber keine menschliche Existenz und heilloses Kreuz um
eine Wohnung." Denn gerade in dieser Zeit, als er nicht wußte, wie lange
er noch in Zürich werde bleiben können, hat im der böse Dämon in Gestalt seines
Hausherrn den Streich gespielt, ihm die Wohnung zu kündigen; wie konnte er sich
bei der Unsicherheit seiner Stellung auf die kostspielige Miete einer neuen, bequemen
Wohnung in Zürich einlassen? Gegen Tübingen wehrte er sich auch später noch,
nachdem er die Professur dort, von der Not gedrängt, unter der Bedingung an¬
genommen hatte, abwechselnd in Stuttgart am Polytechnikum und in Tübingen
an der Universität zu lesen. Das Hin- und Herreisen wurde aber eine Qual,
raubte sehr viel Zeit und hinderte am Schaffen. Vischer setzte alle Hebel in
Bewegung, die Verlegung der Tübinger Universität in die königliche Hauptstadt
durchzusetzen; dem Kriegsminister machte er den Vorschlag, eine Kaserne aus
dem Gebäude der Tübinger Hochschule zu machen, dem Kultusminister setzte er
die wissenschastlichen Vorteile der Übersiedelung der Kliniken auseinander --
alles vergeblich. "Eine merkwürdige, irrationale Rechnung ist mein Leben: der
Wirkungskreis sehr schön, namentlich auch der in Stuttgart, -- und daneben nicht
etwa ein untergeordnetes Übel, eine zu verschmerzende Unbequemlichkeit, sondern
eine Unmöglichkeit. Ich kann mich nicht resigniren, Tübingen zu ertragen, kann es
nicht wollen. Um keinen Preis hier absterben!" Vischer erreichte schließlich die Er¬
laubnis, ein Semester (im Sommer) in Tübingen, das andre, das Wintersemester, in
Stuttgart zu lese". Aber lange Zeit dauerte diese Ruhe auch nicht; kurz darauf,
im Juni 1868, wurde er der gewissenhafte, lange überlegende, schwer entschlossene,
einer neuen Versuchung, sichs noch bequemer einzurichten, durch einen Ruf nach
München ausgesetzt. Dieser Ruf verursachte ihm vieles Kopfzerbrechen. Am
22. Juni 1868 schreibt er: "Ich bin in einer unendlich schweren Kollision --:

1. München -- pro.

Kunstschätze, Atelier, Künstlerumgang, großes, tragendes, den Geist i"
seiner Richtung nährendes Element.

Wirken auf zwei Anstalten. Denn obwohl nur ans Polytechnikum be¬
rufen, doch das Hören der Studenten uneingeschränkt. --

Mit prächtigen Pensionsverhältnissen.

Physisches Leben (die schärfere Luft, gesundes Getränke ;e.) mir
zuträglicher.

2. Oontrg, oder pro bleiben jm Tübingen nämlich^ --:
Pietät gegen das engere Vaterland, die liebevolle Aufnahme.
Schön begonnener Wirkungskreis.

Gebildete Menschen, bildsame Jugend.

Wiegt Ur. 2 durch sein moralisches Gewicht alle Punkte unter

Ur. 1 auf? Ja?"*)



Man hat oft auf die (trotz Hegel) überraschende Verwandtschaft der Naturen "Auch
Einer"-Wischers und Schopenhauers hingewiesen. Als Schopenham'r einen ständigen Wohn
Friedrich vischer.

ebenfalls entsprechend, aber keine menschliche Existenz und heilloses Kreuz um
eine Wohnung." Denn gerade in dieser Zeit, als er nicht wußte, wie lange
er noch in Zürich werde bleiben können, hat im der böse Dämon in Gestalt seines
Hausherrn den Streich gespielt, ihm die Wohnung zu kündigen; wie konnte er sich
bei der Unsicherheit seiner Stellung auf die kostspielige Miete einer neuen, bequemen
Wohnung in Zürich einlassen? Gegen Tübingen wehrte er sich auch später noch,
nachdem er die Professur dort, von der Not gedrängt, unter der Bedingung an¬
genommen hatte, abwechselnd in Stuttgart am Polytechnikum und in Tübingen
an der Universität zu lesen. Das Hin- und Herreisen wurde aber eine Qual,
raubte sehr viel Zeit und hinderte am Schaffen. Vischer setzte alle Hebel in
Bewegung, die Verlegung der Tübinger Universität in die königliche Hauptstadt
durchzusetzen; dem Kriegsminister machte er den Vorschlag, eine Kaserne aus
dem Gebäude der Tübinger Hochschule zu machen, dem Kultusminister setzte er
die wissenschastlichen Vorteile der Übersiedelung der Kliniken auseinander —
alles vergeblich. „Eine merkwürdige, irrationale Rechnung ist mein Leben: der
Wirkungskreis sehr schön, namentlich auch der in Stuttgart, — und daneben nicht
etwa ein untergeordnetes Übel, eine zu verschmerzende Unbequemlichkeit, sondern
eine Unmöglichkeit. Ich kann mich nicht resigniren, Tübingen zu ertragen, kann es
nicht wollen. Um keinen Preis hier absterben!" Vischer erreichte schließlich die Er¬
laubnis, ein Semester (im Sommer) in Tübingen, das andre, das Wintersemester, in
Stuttgart zu lese». Aber lange Zeit dauerte diese Ruhe auch nicht; kurz darauf,
im Juni 1868, wurde er der gewissenhafte, lange überlegende, schwer entschlossene,
einer neuen Versuchung, sichs noch bequemer einzurichten, durch einen Ruf nach
München ausgesetzt. Dieser Ruf verursachte ihm vieles Kopfzerbrechen. Am
22. Juni 1868 schreibt er: „Ich bin in einer unendlich schweren Kollision —:

1. München — pro.

Kunstschätze, Atelier, Künstlerumgang, großes, tragendes, den Geist i»
seiner Richtung nährendes Element.

Wirken auf zwei Anstalten. Denn obwohl nur ans Polytechnikum be¬
rufen, doch das Hören der Studenten uneingeschränkt. —

Mit prächtigen Pensionsverhältnissen.

Physisches Leben (die schärfere Luft, gesundes Getränke ;e.) mir
zuträglicher.

2. Oontrg, oder pro bleiben jm Tübingen nämlich^ —:
Pietät gegen das engere Vaterland, die liebevolle Aufnahme.
Schön begonnener Wirkungskreis.

Gebildete Menschen, bildsame Jugend.

Wiegt Ur. 2 durch sein moralisches Gewicht alle Punkte unter

Ur. 1 auf? Ja?"*)



Man hat oft auf die (trotz Hegel) überraschende Verwandtschaft der Naturen „Auch
Einer"-Wischers und Schopenhauers hingewiesen. Als Schopenham'r einen ständigen Wohn
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[0424] Friedrich vischer. ebenfalls entsprechend, aber keine menschliche Existenz und heilloses Kreuz um eine Wohnung." Denn gerade in dieser Zeit, als er nicht wußte, wie lange er noch in Zürich werde bleiben können, hat im der böse Dämon in Gestalt seines Hausherrn den Streich gespielt, ihm die Wohnung zu kündigen; wie konnte er sich bei der Unsicherheit seiner Stellung auf die kostspielige Miete einer neuen, bequemen Wohnung in Zürich einlassen? Gegen Tübingen wehrte er sich auch später noch, nachdem er die Professur dort, von der Not gedrängt, unter der Bedingung an¬ genommen hatte, abwechselnd in Stuttgart am Polytechnikum und in Tübingen an der Universität zu lesen. Das Hin- und Herreisen wurde aber eine Qual, raubte sehr viel Zeit und hinderte am Schaffen. Vischer setzte alle Hebel in Bewegung, die Verlegung der Tübinger Universität in die königliche Hauptstadt durchzusetzen; dem Kriegsminister machte er den Vorschlag, eine Kaserne aus dem Gebäude der Tübinger Hochschule zu machen, dem Kultusminister setzte er die wissenschastlichen Vorteile der Übersiedelung der Kliniken auseinander — alles vergeblich. „Eine merkwürdige, irrationale Rechnung ist mein Leben: der Wirkungskreis sehr schön, namentlich auch der in Stuttgart, — und daneben nicht etwa ein untergeordnetes Übel, eine zu verschmerzende Unbequemlichkeit, sondern eine Unmöglichkeit. Ich kann mich nicht resigniren, Tübingen zu ertragen, kann es nicht wollen. Um keinen Preis hier absterben!" Vischer erreichte schließlich die Er¬ laubnis, ein Semester (im Sommer) in Tübingen, das andre, das Wintersemester, in Stuttgart zu lese». Aber lange Zeit dauerte diese Ruhe auch nicht; kurz darauf, im Juni 1868, wurde er der gewissenhafte, lange überlegende, schwer entschlossene, einer neuen Versuchung, sichs noch bequemer einzurichten, durch einen Ruf nach München ausgesetzt. Dieser Ruf verursachte ihm vieles Kopfzerbrechen. Am 22. Juni 1868 schreibt er: „Ich bin in einer unendlich schweren Kollision —: 1. München — pro. Kunstschätze, Atelier, Künstlerumgang, großes, tragendes, den Geist i» seiner Richtung nährendes Element. Wirken auf zwei Anstalten. Denn obwohl nur ans Polytechnikum be¬ rufen, doch das Hören der Studenten uneingeschränkt. — Mit prächtigen Pensionsverhältnissen. Physisches Leben (die schärfere Luft, gesundes Getränke ;e.) mir zuträglicher. 2. Oontrg, oder pro bleiben jm Tübingen nämlich^ —: Pietät gegen das engere Vaterland, die liebevolle Aufnahme. Schön begonnener Wirkungskreis. Gebildete Menschen, bildsame Jugend. Wiegt Ur. 2 durch sein moralisches Gewicht alle Punkte unter Ur. 1 auf? Ja?"*) Man hat oft auf die (trotz Hegel) überraschende Verwandtschaft der Naturen „Auch Einer"-Wischers und Schopenhauers hingewiesen. Als Schopenham'r einen ständigen Wohn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/424>, abgerufen am 04.07.2024.