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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur sind doch wichtiger. Die Leute drängen sehr, haben Bedenkzeit bis
Sonntag geboten, ich muß aber ablehnen. Ich verstehe auch das Einzelne in
Verfassungsfragen zu wenig. Ich kann aber doch wohl durch meine Feder
mehr wirken, als in einer Kammer. Auch wird es so kommen: angenommen,
unsre Regierung sei zu den nötigen Opfern bereit, so ist der Nordbund, d. h.
Preußen, nicht zu den nötigen Freiheitskonzessioneu, namentlich nicht zum
Nachgeben im ungeheuern Militärbudget, in der dreijährige" Dienstzeit bereit. Wir
müssen es versuchen, darin etwas zu erreichen, und wir werden jetzt nichts erreichen.
Aber wir müssen doch in den Nordbund, es darf absolut der Moment nicht versäumt
werden. Das ist aber nun eine Stellung für einen Abgeordneten, zu der ich uicht
recht tauge. Man kann für den Satz: "wir müssen beitreten, obwohl wir in den
innern Verfassungsfragen schwere Opfer bringen" eine durchdachte politisch¬
wohlerwogene, dialektische Rede halten -- aber solche Rede kann ich nicht halten."

Jeder Freund der Litteratur wird Vischers Entschluß preisen, der ihm die
Muße ließ, einige seiner wertvollsten Schriften noch gerade im letzten Jahrzehnt
seines Lebens zu veröffentlichen.

Im Jahre 1861, als der Briefwechsel mit Gttnthert begann, lebte Bischer
in Zürich, ohne Familie, als Junggeselle. Aus den Briefen sehen wir, daß
er sich sehr übel in Zürich befand. Fortwährend hat er mit Katarrhen, Er¬
kältungen, Rheumatismen zu kämpfen, er klagt über das schlechte Essen, das
schlechte Bier, die schlechte Wohnung. Aus Zürich muß er um jeden Preis
wegkommen, denn sonst geht er Physisch dort zu Grunde, er fürchtet am
Magenkrebs oder gar an der Wassersucht zu sterben. Endlich ergehen im
Jahre 1864 Anfragen aus Stuttgart an ihn, ob er die erledigte Professur
für Kunstgeschichte am Polytechnikum übernehmen möchte. Bischer zögert, trotz
seiner Sehnsucht, aus Zürich wegzukommen, er fühlt sich doch mehr als Philosoph
und Literarhistoriker tüchtig, die Kvllegenhefte für die Kunstgeschichte hat er
nicht ausgearbeitet -- inzwischen wird ein andrer, gleichfalls aus Zürich be¬
rufener Gelehrter L. angestellt. Bischer ist von dieser BeHandlungsweise nicht
eben erbaut. Die Professoren des Stuttgarter Polytechnikums haben korporativ
für ihn beim Minister gestimmt, ohne Erfolg. Dafür bot ihm das Ministerium
die Kanzel für Litteraturgeschichte in Tübingen an: er konnte sich nicht gleich
entschließen, denn Tübingen war ihm, gegen Zürich gehalten, ein unerträgliches
Dorf. Vischers Klagen über das Züricher Leben steigern sich immer mehr; so
oft er nur kann, eilt er nach Ulm oder München oder an die Nordsee oder
nach Italien, um sich zu erholen. Anfang Januar 1866 kaun er melden, daß
man ihm durch die Vermittlung Auerbachs die Professur für Kunstgeschichte
in Karlsruhe angeboten habe. Aber er lehnte ab. "Übersehen Sie nun meine
Lage: in Karlsruhe eine willkommene Stätte und ein Amt, das nicht für mich
Paßt; in Tübingen ein Amt, das mit meinen Studien übereinstimmt, und ein
Aufenthalt, dessen tötliches Einerlei einem Kloster gleicht; in Zürich das Amt


Litteratur sind doch wichtiger. Die Leute drängen sehr, haben Bedenkzeit bis
Sonntag geboten, ich muß aber ablehnen. Ich verstehe auch das Einzelne in
Verfassungsfragen zu wenig. Ich kann aber doch wohl durch meine Feder
mehr wirken, als in einer Kammer. Auch wird es so kommen: angenommen,
unsre Regierung sei zu den nötigen Opfern bereit, so ist der Nordbund, d. h.
Preußen, nicht zu den nötigen Freiheitskonzessioneu, namentlich nicht zum
Nachgeben im ungeheuern Militärbudget, in der dreijährige» Dienstzeit bereit. Wir
müssen es versuchen, darin etwas zu erreichen, und wir werden jetzt nichts erreichen.
Aber wir müssen doch in den Nordbund, es darf absolut der Moment nicht versäumt
werden. Das ist aber nun eine Stellung für einen Abgeordneten, zu der ich uicht
recht tauge. Man kann für den Satz: »wir müssen beitreten, obwohl wir in den
innern Verfassungsfragen schwere Opfer bringen« eine durchdachte politisch¬
wohlerwogene, dialektische Rede halten — aber solche Rede kann ich nicht halten."

Jeder Freund der Litteratur wird Vischers Entschluß preisen, der ihm die
Muße ließ, einige seiner wertvollsten Schriften noch gerade im letzten Jahrzehnt
seines Lebens zu veröffentlichen.

Im Jahre 1861, als der Briefwechsel mit Gttnthert begann, lebte Bischer
in Zürich, ohne Familie, als Junggeselle. Aus den Briefen sehen wir, daß
er sich sehr übel in Zürich befand. Fortwährend hat er mit Katarrhen, Er¬
kältungen, Rheumatismen zu kämpfen, er klagt über das schlechte Essen, das
schlechte Bier, die schlechte Wohnung. Aus Zürich muß er um jeden Preis
wegkommen, denn sonst geht er Physisch dort zu Grunde, er fürchtet am
Magenkrebs oder gar an der Wassersucht zu sterben. Endlich ergehen im
Jahre 1864 Anfragen aus Stuttgart an ihn, ob er die erledigte Professur
für Kunstgeschichte am Polytechnikum übernehmen möchte. Bischer zögert, trotz
seiner Sehnsucht, aus Zürich wegzukommen, er fühlt sich doch mehr als Philosoph
und Literarhistoriker tüchtig, die Kvllegenhefte für die Kunstgeschichte hat er
nicht ausgearbeitet — inzwischen wird ein andrer, gleichfalls aus Zürich be¬
rufener Gelehrter L. angestellt. Bischer ist von dieser BeHandlungsweise nicht
eben erbaut. Die Professoren des Stuttgarter Polytechnikums haben korporativ
für ihn beim Minister gestimmt, ohne Erfolg. Dafür bot ihm das Ministerium
die Kanzel für Litteraturgeschichte in Tübingen an: er konnte sich nicht gleich
entschließen, denn Tübingen war ihm, gegen Zürich gehalten, ein unerträgliches
Dorf. Vischers Klagen über das Züricher Leben steigern sich immer mehr; so
oft er nur kann, eilt er nach Ulm oder München oder an die Nordsee oder
nach Italien, um sich zu erholen. Anfang Januar 1866 kaun er melden, daß
man ihm durch die Vermittlung Auerbachs die Professur für Kunstgeschichte
in Karlsruhe angeboten habe. Aber er lehnte ab. „Übersehen Sie nun meine
Lage: in Karlsruhe eine willkommene Stätte und ein Amt, das nicht für mich
Paßt; in Tübingen ein Amt, das mit meinen Studien übereinstimmt, und ein
Aufenthalt, dessen tötliches Einerlei einem Kloster gleicht; in Zürich das Amt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/423>, abgerufen am 04.07.2024.