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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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der Freizügigkeit auf diesem Gebiete gemacht hat, soviel sich übersehen läßt,
nicht entmutigend, und so ließe sich wohl hoffen, daß hierin auch weiterhin
mit den wachsenden Schwierigkeiten sich die Mittel zu ihrer Bewältigung werden
finden lassen. In Bezug auf die zu befürchtende Untergrabung des Heimats¬
und Familiensinnes werden nicht so leicht Gegenmaßregeln zu finden sein. Gute
Lehren Pflegen wenig zu helfen. Aber glücklicherweise würde eben die Tarif¬
reform selbst auch wieder in mancher Hinsicht günstig wirken. Gegenwärtig
bringt der ländliche Arbeiter wohl einmal das Geld zusammen, um uuter Zu¬
rücklassung seiner Familie in eine entfernte Stadt zu ziehen. Sieht er aber
dort seine Hoffnungen getäuscht, so veranlaßt ihn die Kostspieligkeit der Rück¬
kehr gleichwohl zu bleiben. Er schlägt sich durch, wie es geht, sinkt von Stufe
zu Stufe und geht im Proletariat unter. Die Tarifreform würde dem Ge¬
täuschten jeden Tag die Rückkehr ermöglichen, indem ihn diese in der Regel
nur einen Betrag kosten würde, den ihm der erste beste, der ihm auf der Straße
begegnete, schenken würde. Nicht minder würde es die Tarifreform demjenigen,
der außerhalb seiner Heimat den gesuchten Verdienst gefunden hätte, ermöglichen,
seine Familie häufiger zu besuchen, sie nachkommen zu lassen oder wohl gar
selbst seinen frühern Wohnsitz beizubehalten.

Mit dieser Berührung der Arbeiterverhältnisse streifen wir das wirtschaft¬
liche Gebiet. Während vom sozialpolitischen Standpunkte nach allem Gesagten
eine bedeutende Verbilligung der Personentarife doch manchem eher wie ein
notwendiges Übel als wie ein Gewinn erscheinen möchte, zeigt sich auf der
wirtschaftlichen Seite die Sache in weit günstigerem Lichte.

Und zwar wird sowohl der Arbeitsmarkt als der Warenmarkt davon be¬
rührt; der erstere natürlich vorwiegend.

Die Wurzel alles Elends in den Arbeiterverhältnissen liegt recht eigentlich
in der Schwierigkeit, Angebot und Nachfrage räumlich zusammen zu bringen
Was hilft es den Arbeitern an dem einen Ende Deutschlands, wenn am ander"
Ende des Reiches vorübergehend so viel Nachfrage nach Arbeitskräften ist,
daß sie auf keine Weise gedeckt werden kann! Nichts, gar nichts. Wären aber
die Beförderungssützc so billig, daß ein Mann einer Beschäftigung vou etlichen
Wochen zu liebe es schon wagen dürfte, eine Reise von etlichen hundert Kilo¬
metern hin und zurück zu unternehmen, so könnte allezeit ein für Arbeitgeber
und Arbeiter gleich heilsamer Ausgleich bewerkstelligt werden, und es wäre
so einem großen Teile des wirtschaftlichen Elends in wirksanier Weise abge¬
holfen. Natürlich müßte eine gewisse Organisation des Arbeiterstandes ge¬
schaffen werden, namentlich müßte ein rasch und sicher wirkender Nachrichten¬
dienst über Angebot und Nachfrage eingeführt werden. Ansätze dazu sind ja
hier und da Vorhäute", und es würde sich nur um eine zweckentsprechende
Weiterentwicklung handeln.

Wie die arbeitsuchenden eigentlichen Lohnarbeiter, würden auch Stellen-


der Freizügigkeit auf diesem Gebiete gemacht hat, soviel sich übersehen läßt,
nicht entmutigend, und so ließe sich wohl hoffen, daß hierin auch weiterhin
mit den wachsenden Schwierigkeiten sich die Mittel zu ihrer Bewältigung werden
finden lassen. In Bezug auf die zu befürchtende Untergrabung des Heimats¬
und Familiensinnes werden nicht so leicht Gegenmaßregeln zu finden sein. Gute
Lehren Pflegen wenig zu helfen. Aber glücklicherweise würde eben die Tarif¬
reform selbst auch wieder in mancher Hinsicht günstig wirken. Gegenwärtig
bringt der ländliche Arbeiter wohl einmal das Geld zusammen, um uuter Zu¬
rücklassung seiner Familie in eine entfernte Stadt zu ziehen. Sieht er aber
dort seine Hoffnungen getäuscht, so veranlaßt ihn die Kostspieligkeit der Rück¬
kehr gleichwohl zu bleiben. Er schlägt sich durch, wie es geht, sinkt von Stufe
zu Stufe und geht im Proletariat unter. Die Tarifreform würde dem Ge¬
täuschten jeden Tag die Rückkehr ermöglichen, indem ihn diese in der Regel
nur einen Betrag kosten würde, den ihm der erste beste, der ihm auf der Straße
begegnete, schenken würde. Nicht minder würde es die Tarifreform demjenigen,
der außerhalb seiner Heimat den gesuchten Verdienst gefunden hätte, ermöglichen,
seine Familie häufiger zu besuchen, sie nachkommen zu lassen oder wohl gar
selbst seinen frühern Wohnsitz beizubehalten.

Mit dieser Berührung der Arbeiterverhältnisse streifen wir das wirtschaft¬
liche Gebiet. Während vom sozialpolitischen Standpunkte nach allem Gesagten
eine bedeutende Verbilligung der Personentarife doch manchem eher wie ein
notwendiges Übel als wie ein Gewinn erscheinen möchte, zeigt sich auf der
wirtschaftlichen Seite die Sache in weit günstigerem Lichte.

Und zwar wird sowohl der Arbeitsmarkt als der Warenmarkt davon be¬
rührt; der erstere natürlich vorwiegend.

Die Wurzel alles Elends in den Arbeiterverhältnissen liegt recht eigentlich
in der Schwierigkeit, Angebot und Nachfrage räumlich zusammen zu bringen
Was hilft es den Arbeitern an dem einen Ende Deutschlands, wenn am ander»
Ende des Reiches vorübergehend so viel Nachfrage nach Arbeitskräften ist,
daß sie auf keine Weise gedeckt werden kann! Nichts, gar nichts. Wären aber
die Beförderungssützc so billig, daß ein Mann einer Beschäftigung vou etlichen
Wochen zu liebe es schon wagen dürfte, eine Reise von etlichen hundert Kilo¬
metern hin und zurück zu unternehmen, so könnte allezeit ein für Arbeitgeber
und Arbeiter gleich heilsamer Ausgleich bewerkstelligt werden, und es wäre
so einem großen Teile des wirtschaftlichen Elends in wirksanier Weise abge¬
holfen. Natürlich müßte eine gewisse Organisation des Arbeiterstandes ge¬
schaffen werden, namentlich müßte ein rasch und sicher wirkender Nachrichten¬
dienst über Angebot und Nachfrage eingeführt werden. Ansätze dazu sind ja
hier und da Vorhäute», und es würde sich nur um eine zweckentsprechende
Weiterentwicklung handeln.

Wie die arbeitsuchenden eigentlichen Lohnarbeiter, würden auch Stellen-


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[0405] der Freizügigkeit auf diesem Gebiete gemacht hat, soviel sich übersehen läßt, nicht entmutigend, und so ließe sich wohl hoffen, daß hierin auch weiterhin mit den wachsenden Schwierigkeiten sich die Mittel zu ihrer Bewältigung werden finden lassen. In Bezug auf die zu befürchtende Untergrabung des Heimats¬ und Familiensinnes werden nicht so leicht Gegenmaßregeln zu finden sein. Gute Lehren Pflegen wenig zu helfen. Aber glücklicherweise würde eben die Tarif¬ reform selbst auch wieder in mancher Hinsicht günstig wirken. Gegenwärtig bringt der ländliche Arbeiter wohl einmal das Geld zusammen, um uuter Zu¬ rücklassung seiner Familie in eine entfernte Stadt zu ziehen. Sieht er aber dort seine Hoffnungen getäuscht, so veranlaßt ihn die Kostspieligkeit der Rück¬ kehr gleichwohl zu bleiben. Er schlägt sich durch, wie es geht, sinkt von Stufe zu Stufe und geht im Proletariat unter. Die Tarifreform würde dem Ge¬ täuschten jeden Tag die Rückkehr ermöglichen, indem ihn diese in der Regel nur einen Betrag kosten würde, den ihm der erste beste, der ihm auf der Straße begegnete, schenken würde. Nicht minder würde es die Tarifreform demjenigen, der außerhalb seiner Heimat den gesuchten Verdienst gefunden hätte, ermöglichen, seine Familie häufiger zu besuchen, sie nachkommen zu lassen oder wohl gar selbst seinen frühern Wohnsitz beizubehalten. Mit dieser Berührung der Arbeiterverhältnisse streifen wir das wirtschaft¬ liche Gebiet. Während vom sozialpolitischen Standpunkte nach allem Gesagten eine bedeutende Verbilligung der Personentarife doch manchem eher wie ein notwendiges Übel als wie ein Gewinn erscheinen möchte, zeigt sich auf der wirtschaftlichen Seite die Sache in weit günstigerem Lichte. Und zwar wird sowohl der Arbeitsmarkt als der Warenmarkt davon be¬ rührt; der erstere natürlich vorwiegend. Die Wurzel alles Elends in den Arbeiterverhältnissen liegt recht eigentlich in der Schwierigkeit, Angebot und Nachfrage räumlich zusammen zu bringen Was hilft es den Arbeitern an dem einen Ende Deutschlands, wenn am ander» Ende des Reiches vorübergehend so viel Nachfrage nach Arbeitskräften ist, daß sie auf keine Weise gedeckt werden kann! Nichts, gar nichts. Wären aber die Beförderungssützc so billig, daß ein Mann einer Beschäftigung vou etlichen Wochen zu liebe es schon wagen dürfte, eine Reise von etlichen hundert Kilo¬ metern hin und zurück zu unternehmen, so könnte allezeit ein für Arbeitgeber und Arbeiter gleich heilsamer Ausgleich bewerkstelligt werden, und es wäre so einem großen Teile des wirtschaftlichen Elends in wirksanier Weise abge¬ holfen. Natürlich müßte eine gewisse Organisation des Arbeiterstandes ge¬ schaffen werden, namentlich müßte ein rasch und sicher wirkender Nachrichten¬ dienst über Angebot und Nachfrage eingeführt werden. Ansätze dazu sind ja hier und da Vorhäute», und es würde sich nur um eine zweckentsprechende Weiterentwicklung handeln. Wie die arbeitsuchenden eigentlichen Lohnarbeiter, würden auch Stellen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/405>, abgerufen am 25.08.2024.