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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Liscnbahnreform.

Ich erblicke in den Engelschen Forderungen lediglich die letzte Folge einer
Reihe von Umwälzungen, die sich längst vollzogen haben. Wir leben in einer
Zeit, die von räumlichen Entfernungen nichts mehr missen will. Seit das Fern¬
rohr so weite Blicke in das All ermöglicht hat, sind die Entfernungen auf unsrer
Erde für die menschliche Vorstellung in ein Nichts zusammengeschrumpft. Daß
sie sich auch thatsächlich mit einer Geschwindigkeit überwinden lassen, von der
frühere Geschlechter leine Ahnung hatten, haben die Erfindungen unsers Jahr¬
hunderts gelehrt, mit denen die Beseitigung staatlicher Schranken der freien
Bewegung des Volkes und seiner Güter Hand in Hand gegangen ist. In letz¬
terer Beziehung hat man freilich mehrfach über das Ziel hinausgeschossen, man
hat manchen sauern Schritt wieder zurückmachen müssen, und mancher weitere
derartige Schritt wird vielleicht noch zu thun sein. Aber im großen und ganzen
darf man nicht sagen, daß es Thorheit gewesen sei, den Forderungen der Zeit
Rechnung zu tragen; man muß vielmehr anerkennen, daß die Neuerungen der
letzten Jahrzehnte in ihrem Kerne nieist gut lind wertvoll sind, so viele Aus¬
wüchse auch noch Beachtung und Beseitigung verlangen mögen.

Die Einwendungen, die sich gegen eine große Erleichterung des Personen¬
verkehrs vom sozialpolitischen Standpunkte ans macheu lassen, waren sämtlich
schon gegen das Gesetz über die Freizügigkeit zu erhebe"; sie wurden auch er¬
hoben. Ungesundes Wachstum der Städte, Rückgang der Landgemeinden, oft
Zerreißung der Familien (deren Ernährer die höhern Löhne der Stadt ver¬
dienen wollten, ohne das billige Leben der Angehörigen auf dem Lande in
den Kauf zu geben), das sind wirklich -- und stellenweise in großem Umfange
-- Folgen der Freizügigkeit gewesen, und durch die Erleichterung des Perso¬
nenverkehrs dürften sie in mancher Beziehung noch verschlimmert werden. Aber
wie die Freizügigkeit ungeachtet aller Bedenken zur Thatsache wurde, so wird
wohl auch das Verlangen nach einer Reform der Personcntarife gegenüber
den gleichen Bedenken das Feld behaupten müssen. Denn in einer Zeit, wo
amerikanisches Getreide und australisches Fleisch zum Schaden unsrer Produ¬
zenten auf unsern Märkten mit den einheimischen Produkten konkurriren, wo
sich der Geschäftsmann durch das Telephon stundenweit mit seinen Geschäfts¬
freunden unterhält, und wo der Telegraph für ihn über Meere hinweg redet,
in einer solchen Zeit ist es doch nur natürlich, wenn der Mensch es nicht ein¬
sehen will, warum gerade der Fortbewegung seines Körpers noch so große
Hindernisse entgegenstehen sollen, Hindernisse, die noch dazu uicht einmal in
materiellen Schwierigkeiten begründet sind, sondern ihre Wurzeln lediglich in
einer veraltetem Tarifpolitik haben, die, wie Engel sehr richtig nachweist, aus
der Zeit der Postkutschen mit herübergenommen worden ist.

Daß man im Falle einer Tarifrefvrm bemüht sein müßte, Maßregeln zur
Linderung ihrer sozialpolitischen Nachteile zu treffen, ist natürlich. Was die
Aufenthaltskontrolc betrifft, so sind die Erfahrungen, die man seit Einführung


Liscnbahnreform.

Ich erblicke in den Engelschen Forderungen lediglich die letzte Folge einer
Reihe von Umwälzungen, die sich längst vollzogen haben. Wir leben in einer
Zeit, die von räumlichen Entfernungen nichts mehr missen will. Seit das Fern¬
rohr so weite Blicke in das All ermöglicht hat, sind die Entfernungen auf unsrer
Erde für die menschliche Vorstellung in ein Nichts zusammengeschrumpft. Daß
sie sich auch thatsächlich mit einer Geschwindigkeit überwinden lassen, von der
frühere Geschlechter leine Ahnung hatten, haben die Erfindungen unsers Jahr¬
hunderts gelehrt, mit denen die Beseitigung staatlicher Schranken der freien
Bewegung des Volkes und seiner Güter Hand in Hand gegangen ist. In letz¬
terer Beziehung hat man freilich mehrfach über das Ziel hinausgeschossen, man
hat manchen sauern Schritt wieder zurückmachen müssen, und mancher weitere
derartige Schritt wird vielleicht noch zu thun sein. Aber im großen und ganzen
darf man nicht sagen, daß es Thorheit gewesen sei, den Forderungen der Zeit
Rechnung zu tragen; man muß vielmehr anerkennen, daß die Neuerungen der
letzten Jahrzehnte in ihrem Kerne nieist gut lind wertvoll sind, so viele Aus¬
wüchse auch noch Beachtung und Beseitigung verlangen mögen.

Die Einwendungen, die sich gegen eine große Erleichterung des Personen¬
verkehrs vom sozialpolitischen Standpunkte ans macheu lassen, waren sämtlich
schon gegen das Gesetz über die Freizügigkeit zu erhebe«; sie wurden auch er¬
hoben. Ungesundes Wachstum der Städte, Rückgang der Landgemeinden, oft
Zerreißung der Familien (deren Ernährer die höhern Löhne der Stadt ver¬
dienen wollten, ohne das billige Leben der Angehörigen auf dem Lande in
den Kauf zu geben), das sind wirklich — und stellenweise in großem Umfange
— Folgen der Freizügigkeit gewesen, und durch die Erleichterung des Perso¬
nenverkehrs dürften sie in mancher Beziehung noch verschlimmert werden. Aber
wie die Freizügigkeit ungeachtet aller Bedenken zur Thatsache wurde, so wird
wohl auch das Verlangen nach einer Reform der Personcntarife gegenüber
den gleichen Bedenken das Feld behaupten müssen. Denn in einer Zeit, wo
amerikanisches Getreide und australisches Fleisch zum Schaden unsrer Produ¬
zenten auf unsern Märkten mit den einheimischen Produkten konkurriren, wo
sich der Geschäftsmann durch das Telephon stundenweit mit seinen Geschäfts¬
freunden unterhält, und wo der Telegraph für ihn über Meere hinweg redet,
in einer solchen Zeit ist es doch nur natürlich, wenn der Mensch es nicht ein¬
sehen will, warum gerade der Fortbewegung seines Körpers noch so große
Hindernisse entgegenstehen sollen, Hindernisse, die noch dazu uicht einmal in
materiellen Schwierigkeiten begründet sind, sondern ihre Wurzeln lediglich in
einer veraltetem Tarifpolitik haben, die, wie Engel sehr richtig nachweist, aus
der Zeit der Postkutschen mit herübergenommen worden ist.

Daß man im Falle einer Tarifrefvrm bemüht sein müßte, Maßregeln zur
Linderung ihrer sozialpolitischen Nachteile zu treffen, ist natürlich. Was die
Aufenthaltskontrolc betrifft, so sind die Erfahrungen, die man seit Einführung


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[0404] Liscnbahnreform. Ich erblicke in den Engelschen Forderungen lediglich die letzte Folge einer Reihe von Umwälzungen, die sich längst vollzogen haben. Wir leben in einer Zeit, die von räumlichen Entfernungen nichts mehr missen will. Seit das Fern¬ rohr so weite Blicke in das All ermöglicht hat, sind die Entfernungen auf unsrer Erde für die menschliche Vorstellung in ein Nichts zusammengeschrumpft. Daß sie sich auch thatsächlich mit einer Geschwindigkeit überwinden lassen, von der frühere Geschlechter leine Ahnung hatten, haben die Erfindungen unsers Jahr¬ hunderts gelehrt, mit denen die Beseitigung staatlicher Schranken der freien Bewegung des Volkes und seiner Güter Hand in Hand gegangen ist. In letz¬ terer Beziehung hat man freilich mehrfach über das Ziel hinausgeschossen, man hat manchen sauern Schritt wieder zurückmachen müssen, und mancher weitere derartige Schritt wird vielleicht noch zu thun sein. Aber im großen und ganzen darf man nicht sagen, daß es Thorheit gewesen sei, den Forderungen der Zeit Rechnung zu tragen; man muß vielmehr anerkennen, daß die Neuerungen der letzten Jahrzehnte in ihrem Kerne nieist gut lind wertvoll sind, so viele Aus¬ wüchse auch noch Beachtung und Beseitigung verlangen mögen. Die Einwendungen, die sich gegen eine große Erleichterung des Personen¬ verkehrs vom sozialpolitischen Standpunkte ans macheu lassen, waren sämtlich schon gegen das Gesetz über die Freizügigkeit zu erhebe«; sie wurden auch er¬ hoben. Ungesundes Wachstum der Städte, Rückgang der Landgemeinden, oft Zerreißung der Familien (deren Ernährer die höhern Löhne der Stadt ver¬ dienen wollten, ohne das billige Leben der Angehörigen auf dem Lande in den Kauf zu geben), das sind wirklich — und stellenweise in großem Umfange — Folgen der Freizügigkeit gewesen, und durch die Erleichterung des Perso¬ nenverkehrs dürften sie in mancher Beziehung noch verschlimmert werden. Aber wie die Freizügigkeit ungeachtet aller Bedenken zur Thatsache wurde, so wird wohl auch das Verlangen nach einer Reform der Personcntarife gegenüber den gleichen Bedenken das Feld behaupten müssen. Denn in einer Zeit, wo amerikanisches Getreide und australisches Fleisch zum Schaden unsrer Produ¬ zenten auf unsern Märkten mit den einheimischen Produkten konkurriren, wo sich der Geschäftsmann durch das Telephon stundenweit mit seinen Geschäfts¬ freunden unterhält, und wo der Telegraph für ihn über Meere hinweg redet, in einer solchen Zeit ist es doch nur natürlich, wenn der Mensch es nicht ein¬ sehen will, warum gerade der Fortbewegung seines Körpers noch so große Hindernisse entgegenstehen sollen, Hindernisse, die noch dazu uicht einmal in materiellen Schwierigkeiten begründet sind, sondern ihre Wurzeln lediglich in einer veraltetem Tarifpolitik haben, die, wie Engel sehr richtig nachweist, aus der Zeit der Postkutschen mit herübergenommen worden ist. Daß man im Falle einer Tarifrefvrm bemüht sein müßte, Maßregeln zur Linderung ihrer sozialpolitischen Nachteile zu treffen, ist natürlich. Was die Aufenthaltskontrolc betrifft, so sind die Erfahrungen, die man seit Einführung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/404>, abgerufen am 22.07.2024.