Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Eisenbahnreform.

an das Geschäft wagt, das er vorhat. Aber der Unterschied wird großenteils
dadurch ausgeglichen werden, daß so ziemlich jedes Geschäft durch persönliche
Verhandlung der Beteiligten rascher und besser zum Ziele geführt wird, als
durch brieflichen Verkehr.

Wohl mag nun die Besorgnis natürlich erscheinen, es möchte bei einer
Verkehrserleichterung so weitgehender Art die Einwohnerschaft des damit be¬
glückten Landes mit einemmale beginnen, durcheinander zu wimmeln wie ein
zerstörter Ameisenhaufen, und es möchte alle Ordnung außer Rand und Band
gehen. Es ist eine alte Wahrheit, die sich an Völkern wie an Einzelwesen
erwiesen hat, daß der Ordnungssinn nur dann zu gedeihen Pflegt, wenn der
Mensch sich in festen Heimstätten seßhaft macht. Zu einem wirklich geordneten
Gemeinwesen taugen überbildete Aovs-trottsrs ebensowenig, wie urwüchsige
Nomaden. Den Kern eines Volkes, auf dessen Grundlage ein festes Staats-
gefüge stehen soll, müssen die an der Scholle klebenden bilden. Was soll aber
aus der Seßhaftigkeit werden, wenn dem Deutschen ein Ortswechsel seiner Per¬
son von dem südwestlichsten nach dem nordöstlichsten Teile seines Vaterlandes
kaum schwerer sein soll, als die Versendung eines Briefes von der einen Stelle
zur andern?

Es läßt isles in der That nicht lciugnen, daß die nach unsern heutigen
Begriffen geradezu fabelhafte Erleichterung des Personenverkehrs, von der wir
zu reden haben, eine gewisse Gefährdung des Heimatssinns mit sich bringt,
ja daß sich ihre Wirkungen bis in den Familienverband hinein erstrecken und
in vielen Einzelfällen eine Lockerung desselben zur Folge haben können. Wenn
für den Arbeiter (das Wort im weitesten Sinne verstanden) die Kosten eines
Ortswechsels keine Rolle mehr spielen, wird er unter Umständen fast ebenso¬
viel in der Ferne beschäftigt sein als in der Heimat, und daß das weder für
die Erhaltung der Anhänglichkeit an die Heimat und die alten Gemeinde¬
genossen, noch für die Erhaltung eines festen Gefüges des Familienverbandes
vorteilhaft sein kann, bedarf wohl keines Beweises, ebensowenig, daß sich dar¬
aus eine nachteilige Wirkung auf das Volksleben im allgemeinen ergeben
muß.

Auch die Erschwerung der Aufentshaltskontrole zu militärischen wie zu
bürgerlichen Zwecken wäre eine Schattenseite der Neuerung, die nicht unter¬
schätzt werden darf. Es braucht nur hervorgehoben zu werden, wieviel schwie¬
riger die Verfolgung von Übelthätern sein würde, wieviel mehr Umsicht und
Schlagfertigkeit sie erfordern würde, und wieviel mehr Mißgriffe man dennoch
zu befürchten hätte.

So stehen allerdings wichtige sozialpolitische Bedenken der Einführung des
"Persouenportos" entgegen. Aber sind es nicht lauter Bedenken, denen man schon
auf einer frühern Stufe unsrer sozialen Entwicklung ein Ohr hätte leihen
müssen, wenn man ihnen überhaupt Raum geben wollte?


Eisenbahnreform.

an das Geschäft wagt, das er vorhat. Aber der Unterschied wird großenteils
dadurch ausgeglichen werden, daß so ziemlich jedes Geschäft durch persönliche
Verhandlung der Beteiligten rascher und besser zum Ziele geführt wird, als
durch brieflichen Verkehr.

Wohl mag nun die Besorgnis natürlich erscheinen, es möchte bei einer
Verkehrserleichterung so weitgehender Art die Einwohnerschaft des damit be¬
glückten Landes mit einemmale beginnen, durcheinander zu wimmeln wie ein
zerstörter Ameisenhaufen, und es möchte alle Ordnung außer Rand und Band
gehen. Es ist eine alte Wahrheit, die sich an Völkern wie an Einzelwesen
erwiesen hat, daß der Ordnungssinn nur dann zu gedeihen Pflegt, wenn der
Mensch sich in festen Heimstätten seßhaft macht. Zu einem wirklich geordneten
Gemeinwesen taugen überbildete Aovs-trottsrs ebensowenig, wie urwüchsige
Nomaden. Den Kern eines Volkes, auf dessen Grundlage ein festes Staats-
gefüge stehen soll, müssen die an der Scholle klebenden bilden. Was soll aber
aus der Seßhaftigkeit werden, wenn dem Deutschen ein Ortswechsel seiner Per¬
son von dem südwestlichsten nach dem nordöstlichsten Teile seines Vaterlandes
kaum schwerer sein soll, als die Versendung eines Briefes von der einen Stelle
zur andern?

Es läßt isles in der That nicht lciugnen, daß die nach unsern heutigen
Begriffen geradezu fabelhafte Erleichterung des Personenverkehrs, von der wir
zu reden haben, eine gewisse Gefährdung des Heimatssinns mit sich bringt,
ja daß sich ihre Wirkungen bis in den Familienverband hinein erstrecken und
in vielen Einzelfällen eine Lockerung desselben zur Folge haben können. Wenn
für den Arbeiter (das Wort im weitesten Sinne verstanden) die Kosten eines
Ortswechsels keine Rolle mehr spielen, wird er unter Umständen fast ebenso¬
viel in der Ferne beschäftigt sein als in der Heimat, und daß das weder für
die Erhaltung der Anhänglichkeit an die Heimat und die alten Gemeinde¬
genossen, noch für die Erhaltung eines festen Gefüges des Familienverbandes
vorteilhaft sein kann, bedarf wohl keines Beweises, ebensowenig, daß sich dar¬
aus eine nachteilige Wirkung auf das Volksleben im allgemeinen ergeben
muß.

Auch die Erschwerung der Aufentshaltskontrole zu militärischen wie zu
bürgerlichen Zwecken wäre eine Schattenseite der Neuerung, die nicht unter¬
schätzt werden darf. Es braucht nur hervorgehoben zu werden, wieviel schwie¬
riger die Verfolgung von Übelthätern sein würde, wieviel mehr Umsicht und
Schlagfertigkeit sie erfordern würde, und wieviel mehr Mißgriffe man dennoch
zu befürchten hätte.

So stehen allerdings wichtige sozialpolitische Bedenken der Einführung des
„Persouenportos" entgegen. Aber sind es nicht lauter Bedenken, denen man schon
auf einer frühern Stufe unsrer sozialen Entwicklung ein Ohr hätte leihen
müssen, wenn man ihnen überhaupt Raum geben wollte?


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0403" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203838"/>
          <fw type="header" place="top"> Eisenbahnreform.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1013" prev="#ID_1012"> an das Geschäft wagt, das er vorhat. Aber der Unterschied wird großenteils<lb/>
dadurch ausgeglichen werden, daß so ziemlich jedes Geschäft durch persönliche<lb/>
Verhandlung der Beteiligten rascher und besser zum Ziele geführt wird, als<lb/>
durch brieflichen Verkehr.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1014"> Wohl mag nun die Besorgnis natürlich erscheinen, es möchte bei einer<lb/>
Verkehrserleichterung so weitgehender Art die Einwohnerschaft des damit be¬<lb/>
glückten Landes mit einemmale beginnen, durcheinander zu wimmeln wie ein<lb/>
zerstörter Ameisenhaufen, und es möchte alle Ordnung außer Rand und Band<lb/>
gehen. Es ist eine alte Wahrheit, die sich an Völkern wie an Einzelwesen<lb/>
erwiesen hat, daß der Ordnungssinn nur dann zu gedeihen Pflegt, wenn der<lb/>
Mensch sich in festen Heimstätten seßhaft macht. Zu einem wirklich geordneten<lb/>
Gemeinwesen taugen überbildete Aovs-trottsrs ebensowenig, wie urwüchsige<lb/>
Nomaden. Den Kern eines Volkes, auf dessen Grundlage ein festes Staats-<lb/>
gefüge stehen soll, müssen die an der Scholle klebenden bilden. Was soll aber<lb/>
aus der Seßhaftigkeit werden, wenn dem Deutschen ein Ortswechsel seiner Per¬<lb/>
son von dem südwestlichsten nach dem nordöstlichsten Teile seines Vaterlandes<lb/>
kaum schwerer sein soll, als die Versendung eines Briefes von der einen Stelle<lb/>
zur andern?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1015"> Es läßt isles in der That nicht lciugnen, daß die nach unsern heutigen<lb/>
Begriffen geradezu fabelhafte Erleichterung des Personenverkehrs, von der wir<lb/>
zu reden haben, eine gewisse Gefährdung des Heimatssinns mit sich bringt,<lb/>
ja daß sich ihre Wirkungen bis in den Familienverband hinein erstrecken und<lb/>
in vielen Einzelfällen eine Lockerung desselben zur Folge haben können. Wenn<lb/>
für den Arbeiter (das Wort im weitesten Sinne verstanden) die Kosten eines<lb/>
Ortswechsels keine Rolle mehr spielen, wird er unter Umständen fast ebenso¬<lb/>
viel in der Ferne beschäftigt sein als in der Heimat, und daß das weder für<lb/>
die Erhaltung der Anhänglichkeit an die Heimat und die alten Gemeinde¬<lb/>
genossen, noch für die Erhaltung eines festen Gefüges des Familienverbandes<lb/>
vorteilhaft sein kann, bedarf wohl keines Beweises, ebensowenig, daß sich dar¬<lb/>
aus eine nachteilige Wirkung auf das Volksleben im allgemeinen ergeben<lb/>
muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1016"> Auch die Erschwerung der Aufentshaltskontrole zu militärischen wie zu<lb/>
bürgerlichen Zwecken wäre eine Schattenseite der Neuerung, die nicht unter¬<lb/>
schätzt werden darf. Es braucht nur hervorgehoben zu werden, wieviel schwie¬<lb/>
riger die Verfolgung von Übelthätern sein würde, wieviel mehr Umsicht und<lb/>
Schlagfertigkeit sie erfordern würde, und wieviel mehr Mißgriffe man dennoch<lb/>
zu befürchten hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1017"> So stehen allerdings wichtige sozialpolitische Bedenken der Einführung des<lb/>
&#x201E;Persouenportos" entgegen. Aber sind es nicht lauter Bedenken, denen man schon<lb/>
auf einer frühern Stufe unsrer sozialen Entwicklung ein Ohr hätte leihen<lb/>
müssen, wenn man ihnen überhaupt Raum geben wollte?</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0403] Eisenbahnreform. an das Geschäft wagt, das er vorhat. Aber der Unterschied wird großenteils dadurch ausgeglichen werden, daß so ziemlich jedes Geschäft durch persönliche Verhandlung der Beteiligten rascher und besser zum Ziele geführt wird, als durch brieflichen Verkehr. Wohl mag nun die Besorgnis natürlich erscheinen, es möchte bei einer Verkehrserleichterung so weitgehender Art die Einwohnerschaft des damit be¬ glückten Landes mit einemmale beginnen, durcheinander zu wimmeln wie ein zerstörter Ameisenhaufen, und es möchte alle Ordnung außer Rand und Band gehen. Es ist eine alte Wahrheit, die sich an Völkern wie an Einzelwesen erwiesen hat, daß der Ordnungssinn nur dann zu gedeihen Pflegt, wenn der Mensch sich in festen Heimstätten seßhaft macht. Zu einem wirklich geordneten Gemeinwesen taugen überbildete Aovs-trottsrs ebensowenig, wie urwüchsige Nomaden. Den Kern eines Volkes, auf dessen Grundlage ein festes Staats- gefüge stehen soll, müssen die an der Scholle klebenden bilden. Was soll aber aus der Seßhaftigkeit werden, wenn dem Deutschen ein Ortswechsel seiner Per¬ son von dem südwestlichsten nach dem nordöstlichsten Teile seines Vaterlandes kaum schwerer sein soll, als die Versendung eines Briefes von der einen Stelle zur andern? Es läßt isles in der That nicht lciugnen, daß die nach unsern heutigen Begriffen geradezu fabelhafte Erleichterung des Personenverkehrs, von der wir zu reden haben, eine gewisse Gefährdung des Heimatssinns mit sich bringt, ja daß sich ihre Wirkungen bis in den Familienverband hinein erstrecken und in vielen Einzelfällen eine Lockerung desselben zur Folge haben können. Wenn für den Arbeiter (das Wort im weitesten Sinne verstanden) die Kosten eines Ortswechsels keine Rolle mehr spielen, wird er unter Umständen fast ebenso¬ viel in der Ferne beschäftigt sein als in der Heimat, und daß das weder für die Erhaltung der Anhänglichkeit an die Heimat und die alten Gemeinde¬ genossen, noch für die Erhaltung eines festen Gefüges des Familienverbandes vorteilhaft sein kann, bedarf wohl keines Beweises, ebensowenig, daß sich dar¬ aus eine nachteilige Wirkung auf das Volksleben im allgemeinen ergeben muß. Auch die Erschwerung der Aufentshaltskontrole zu militärischen wie zu bürgerlichen Zwecken wäre eine Schattenseite der Neuerung, die nicht unter¬ schätzt werden darf. Es braucht nur hervorgehoben zu werden, wieviel schwie¬ riger die Verfolgung von Übelthätern sein würde, wieviel mehr Umsicht und Schlagfertigkeit sie erfordern würde, und wieviel mehr Mißgriffe man dennoch zu befürchten hätte. So stehen allerdings wichtige sozialpolitische Bedenken der Einführung des „Persouenportos" entgegen. Aber sind es nicht lauter Bedenken, denen man schon auf einer frühern Stufe unsrer sozialen Entwicklung ein Ohr hätte leihen müssen, wenn man ihnen überhaupt Raum geben wollte?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/403
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/403>, abgerufen am 24.08.2024.